Dienstag, 20. August 2019

Die Langeweile - eine Miniatur

Die Langeweile, die Zeit und das Geheimnis des Seins

Langeweile - so würden die meisten von uns wohl sagen - ist ein Luxus. Aber wenn sie dann mal da ist, ist sie furchtbar. Wenn wir uns Langeweile wünschen, dann meinen wir eigentlich nur die nicht verplante Zeit, jedoch ekelt es uns an, wenn wir tatsächlich - bei dem, was wir tun oder nicht tun - gelangweilt sind. Erich Fromm meinte, dass der Mensch das einzige Tier sei, das Langeweile erfahren kann. Das hieße also, dass Langeweile nichts ist, was es unabhängig von uns gibt, sondern ein Erlebenszustand, der an ein höheres Bewusstsein gekoppelt ist. Man kann Fromm heute in sofern widersprechen, als dass auch andere Tiere sich langweilen und sich deswegen mit Unterhaltungsprogrammen ablenken - sei es das Spielen der Delphine mit Luftblasen oder ständiger Sex bei Bonobo Schimpansen. Jedoch wird Fromm insofern Recht behalten, als dass wir die einzigen sind, die Langeweile reflektieren und dadurch einen Blick auf das Geheimnis des eigenen Daseins erhaschen.

Was ist Langeweile?

Langeweile ist das Erleben von Leere in der Zeit. Insofern ist Langeweile ein Zustand, in dem wir uns der Zeit selbst und unserem Ausgeliefertsein in ihr bewusst werden.
Dürfen wir überhaupt Zeit für Langeweile haben? Wir müssen doch produktiv sein. Heute rennen wir von einem Problem zur nächsten Aufgabe, ständig ist irgend etwas zu tun. Wenn dann plötzlich doch mal ein Zeitloch ins Lebens-Stress-Kontinuum reißt, dann wissen wir wegen der Ungewohntheit der Situation, gar nicht mehr, was wir eigentlich mit dem Freiraum anfangen sollen. Vielleicht fühlen wir uns sogar schuldig, weil wir doch eigentlich irgend etwas arbeiten müssten. Und auch religiösen Moralen gilt die Langeweile als Laster oder Sünde. Das geht bis rüber ins Pathologische, wo die Langeweile an Melancholie, Angst und Depression grenzt. Blaise Pascal beschreibt das 1670 so:
"Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung. Er wird dann sein Nichts fühlen, seine Preisgegebenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unaufhörlich wird aus dem Grund seiner Seele der Ennui aufsteigen, die Schwärze, die Traurigkeit, der Kummer, der Verzicht, die Verzweiflung."
Diese Gefahr des psychischen Abgrunds birgt jedoch auch die Möglichkeit, an ein existenzielles Grundprinzip anzuknüpfen: das Nichts, die Leere, die Abwesenheit von Sinn. Hier wird die Philosophie mutig und mit ihr der einzelne, der sie wagt. Martin Heidegger könnte in diesem Sinne als der deutsche Philosoph der Langeweile gelten. Ihm zufolge ist die Langeweile ein ganz alltägliches Phänomen, das wir jedoch versuchen, tunlichst zu vermeiden: Wenn sie heran kraucht, fangen wir an, sauber zu machen, shoppen zu gehen, planlos im Internet zu surfen oder fern zu sehen. Aus dieser Art der Langeweile kommt nichts Gutes. Wir wissen, wie unsere Omas und Opas über gelangweilte Jugendliche denken: Sie fangen an, Handtaschen zu klauen oder Drogen zu nehmen. Mit Heidegger sehen wir jedoch eine Chance in der Langeweile. Er ruft dazu auf, sich dieser Langeweile einmal auszusetzen, sie nicht eilig mit alltäglichem Geschäft zu zu spachteln, sondern sie auszuhalten und dadurch Bekanntschaft zu machen mit dem "Grundrauschen der Existenz"*, mit der Leere und der Angst davor.

Die Langeweile der anderen
Heidegger unterscheidet zwischen drei verschiedenen Ausformungen der Langeweile. Zum einen ist da das Gelangweiltwerden von etwas oder jemandem. Da gibt es immerhin noch das Objekt, das die Langeweile auszulösen scheint, sie kommt von außen. Dann kann man sich bei etwas langweilen, hier wird schon deutlicher, dass man selbst einen Anteil an der Langeweile hat. Man könnte auch argumentieren, dass eigentlich nichts und niemand langweilig ist. Wenn mir etwas langweilig vorkommt, dann vielleicht, weil ich nicht genau hinsehe, mich nicht reindenke, mir nicht die Arbeit mache, es wirklich zu verstehen. Dies ist oft auch das Missverständnis, wenn jemand sagt, ein Film sei langweilig, ein Theaterstück oder ein Bild. Was einem solchen Urteil zugrunde liegt, ist oft fehlendes Hintergrundwissen oder die Fähigkeit, Assoziationen zum gesehenen zu erzeugen. Wenn ich heute in eine Oper gehe oder in ein klassisches Konzert, dann ist die Gefahr groß, dass ich mich langweilen werde. Aber nicht, weil die Aufführung langweilig ist, sondern weil ich inzwischen mit den klassischen Strukturen des Erzählens und Spielens nichts mehr anfangen kann. Mir fehlen die Referenzen (wir mögen es kaum glauben, aber William Shakespeare war einmal der Quentin Tarantino seiner Zeit - absolut aufregend, spannend, modern, Action, Pop). Auch das Gegenteil von solch einer Überforderung kann Langeweile auslösen: Unterforderung. Wenn alle Referenzen zu deutlich sind, kein Geheimnis zu entschlüsseln ist und uns alles vorgekaut wird, dann langweilen wir uns auch. "Das Geheimnis zu langweilen besteht darin, alles zu sagen", sagt Voltaire. Die Langeweile ist also ein sehr ambivalentes Phänomen, der wir nur durch eine Balance zwischen Alles und Nichts enzgehen.

Das Geheimnis des Daseins und der Freiheit
Letztlich gibt es die vollkommen anonyme Langeweile, die einen hinterrücks zu überfallen scheint und die weder einen Auslöser noch ein Heilmittel kennt. Ihr ist nicht durch Aktionismus beizukommen, weil man sich entweder nicht dazu aufraffen kann oder die Langeweile auch die Handlungen tiefdunkel einfärbt. Bei Heidegger verschlingt dieses Nichts auch noch das Selbst, so dass es weder ein Subjekt noch ein Objekt gibt oder gar eine Beziehung in der die beiden stünden. Und auch die Zeit verschwindet in diesem Nirwana. Denn wie nehmen wir die Zeit denn wahr, wenn wir von dieser tiefen Langeweile erfasst sind? Sie ist ein Stillstand, der nicht zu vergehen scheint, das Gegenteil von Zeit, eine Nicht-Zeit sozusagen. Für Heidegger ergibt sich damit die Erkenntnis, dass Zeit also kein Medium sei, in dem wir uns bewegen würden, sondern etwas, dass wir mit Aktivität hervorbringen. Nur in der Lähmung der Langeweile gerät dieser Zeitgeber, der wir selbst sind, ins Stocken, um dann im Normalfall doch bald wieder anzuspringen und das Leben in Aktivität fortzusetzen. In diesem Wiederanspringen des Selbst, das sich als Zeitgeber des Lebens zu sich selbst entschlossen und aus der Langeweile losgerissen hat, sieht Heidegger die existentielle Freiheit.

Die Langeweile ermöglicht uns einen Schritt zurück von der Welt und gibt damit einen Blick frei auf ihre uns sonst verborgene Beschaffenheit inklusive so erschreckender Zustände wie Einsamkeit und Endlichkeit. Das Erleben der Langeweile vermittelt uns den "Lastcharakter des Daseins überhaupt, dieses, daß dem Menschen das Dasein als solches zugemutet wird, daß ihm aufgegeben ist - da zu sein."* Und dieser Zumutung zu trotzen, Langeweile zu erfahren und sich aus ihr wieder aufzuraffen mit einem erneuerten Gefühl, dass es darauf ankommt, die eigene Zeit selbst mit Sinnhaftigkeit zu erfüllen, darin liegt vielleicht das alltägliche Geheimnis des Daseins, an das wir auch durch die Angst und Leere der Langeweile erinnert werden können. Rüdiger Safranski bringt das verständlich auf den Punkt: "In der Langeweile merkst du, daß es nichts von Belang gibt, außer du tust es ..."*


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