Mittwoch, 12. Juli 2023

Philosophie des Wartens

 Ein Impuls, der mich angesprochen hat - Warten und geschehen-lassen.

Kleine Philosophie des Wartens

Timo Reuter veröffentlicht am 11 Juli 2023 

Rote Ampeln, lange Schlangen an der Kasse – die täglichen Zwangspausen wollen wir am liebsten abschaffen. Dabei könnten sie ein Sandkorn im Getriebe der permanenten Verwertungsmaschinerie sein. Und ein Tor zur Philosophie.

 

Wir tun es ständig, im Starkregen oder in der prallen Sonne, im Morgengrauen und am Abend. Wir warten – auf den nächsten Bus oder eine kurze Nachricht, auf die große Liebe und auf das Ende einer Krise. Obwohl der Aufschub omnipräsent ist, wird er gerne verflucht und verdrängt. Wir halten die Warterei nämlich nicht nur für einen unbedeutenden, sondern auch für einen äußerst unangenehmen Zustand. Laut einer Studie aus dem Jahre 2016 sind die kleinen Zwangspausen im Alltag für die Deutschen das Feindbild Nummer 1. Über 55 Prozent regen sich darüber auf – das Warten ist damit ein noch größeres Ärgernis als etwa die Unfreundlichkeit anderer Menschen.

Es ist eine ziemlich absurde Situation: Ständig hetzen wir gestresst vom einen zum nächsten und sehnen uns deshalb nach kaum etwas so sehr wie nach Ruhe – doch gerade dann, wenn wir Zeit zum Innehalten hätten, steigen Frust oder Wut in uns auf. Ob an Bahnhöfen oder Bushaltestellen, im Wartezimmer oder an der Supermarktkasse, das Warten geht uns so sehr gegen den Strich, dass wir dabei das vielleicht Wertvollste, was wir haben, am liebsten „totschlagen“ wollen: die Zeit. Wie kann das sein?

 

PRODUKTIVER ZWISCHENRAUM

 

Nun, wenn wir warten müssen, spüren wir Ohnmacht. Wir sind dann höheren Mächten, arroganten Chefinnen oder unwillige Bürokraten ausgeliefert. Dazu kommt die Ungewissheit, wann es endlich weitergeht. Dabei wollen wir doch selbst über unsere Zeit bestimmen – gerade, weil wir so wenig davon zu haben scheinen. Während die Welt also immer schneller wird und wir immer mehr erledigen und erleben wollen, sollen wir einfach tatenlos am Bahngleis stehen? Unser Leben ist heute auf die sofortige Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet, das Warten indes haben wir längst verlernt – mit fatalen Folgen. 

Denn dieser scheinbar unscheinbare Zustand ist in Wahrheit eine stille Kraft, die Übergänge schafft. Es ist die Zeit zwischen unseren Erwartungen und ihrer Erfüllung. Der Prozess, in dem etwas wird, was es ist. Nicht nur würziger Käse oder guter Wein wollen in Ruhe reifen, ebenso müssen Liebe oder Freundschaft erst gedeihen. Und auch wer komplexe Sachverhalte begreifen will, muss vor allem beharrlich bleiben – schnelles Denken und überstürztes Handeln hingegen sind enorm fehleranfällig, das wusste der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegelbereits vor über 200 Jahren: „Die Ungeduld“, schrieb er in seiner Phänomenologie des Geistes, „verlangt das Unmögliche, nämlich die Erreichung des Ziels ohne die Mittel.“ 

Zu warten hingegen bedeutet, auch mal zurückzustecken. Doch das ist in einer Welt, in der alles immer weiter wachsen soll, beinahe undenkbar geworden. Der Klimawandel und das Artensterben sind die offensichtlichen Konsequenzen dieser beschleunigten Ausbeutung, die der Natur keine Zeit zur Regeneration lässt. Aber auch anderswo macht sich die fehlende Geduld bemerkbar – etwa in unserer Kommunikation. Denn erst die bedeutungsschwangere Pause zwischen der Botschaft und ihrem verzerrten Echo lässt uns Raum für unsere Fantasie sowie zum wirklichen Verstehen des Gesagten. Ebenso kann eine Entschuldigung ihre Wirkung nur entfalten, wenn man damit etwas wartet – und bereit ist, auch komische Gefühle auszuhalten. Natürlich will niemand sein Glück ewig aufschieben. Doch nur wer warten kann, ist überhaupt in der Lage, Vorfreude zu empfinden. Sie ist das Wohlgefühl der Geduldigen, nicht bloß im Advent oder während der Schwangerschaft. Auf etwas hinzufiebern trägt auch im Alltag ein Glücksversprechen in sich. Und das Verlangen kann sogar gesteigert werden, indem wir es hinauszögern.

 

KONSUMIEREN ALS ABWEHRMECHANISMUS

 

Kurzum: Das Warten ist ein fester Bestandteil des Lebens und markiert den Übergang vom Alltäglichen zum Existenziellen. Gemeint ist nicht nur das bange Warten auf eine Aufenthaltsgenehmigung oder ein Spendeorgan, sondern auch die banale Pause am Bahngleis. Dort kann sich das Tor zur Philosophie öffnen. Solange wir nämlich im Tun aufgehen, tritt die Zeitlichkeit unseres Daseins in den Hintergrund. Beim Warten ist das anders: Wenn der gewohnt schnelle Fluss der Ereignisse stockt, hören wir plötzlich das Ticken der Uhr. Doch wenn die Zeit vergeht, dann vergehen auch wir, wie schon der Philosoph Henri Bergson wusste. Der kleine Aufschub erinnert uns also an unsere Endlichkeit – und konfrontiert uns mit den tiefen Fragen unseres Seins. Nicht ohne Grund hat die Existenzphilosophie alltägliche Stimmungen wie Ekel, Angst oder eben Langeweile als Fenster zu unserem Dasein auserkoren. 

Und so beginnt auch die Philosophie Martin Heideggers an einem Provinzbahnhof, beim Warten auf den Zug. Dieser Zustand lässt uns die Zeit fühlen – und wie sie uns durch die Finger rieselt. Nun haben wir zwei Möglichkeiten: Wir nehmen ein Magazin in die Hand oder besser noch unser Smartphone. Wir rennen davon, auch wenn wir stehen bleiben. Wir konsumieren, damit die Zeit uns nicht konsumiert, wie der Literaturwissenschaftler Harold Schweizer notiert. Die Folge: Wir verdrängen das Warten – und empfinden es doch als höchst unangenehm. Oder aber wir stellen uns der Leere und können so einen Stein ins Rollen bringen – um letztlich durch tiefe Reflexion zu uns selbst zu finden: Wie will ich meine Zeit verbringen? Und auf was möchte ich wirklich warten?

Bei genauerem Betrachten ist das Warten also keinesfalls so unbedeutend, wie wir zunächst glauben. Diese Lücke zwischen jetzt und später ist vielmehr eine Art Taschenspiegel der Verhältnisse, in denen wir leben. Nicht nur die chronische Zeitnot unserer Epoche oder unsere Angst vor dem Tod zeigen sich dort – das Warten selbst ist, wie der Soziologe Pierre Bourdieu fand, „eine hervorragende Weise, Macht und die Verbindung zwischen Zeit und Macht zu schmecken“. Nicht selten müssen Menschen ausharren, weil andere es so wollen: Schon an den Höfen ägyptischer Pharaonen hat sich mancher Bote zu Tode gewartet. Und noch heute kann der Chef seine Angestellten hinhalten – umgekehrt aber droht die Kündigung. 

 

WARTEN UND MACHT

 

Die gesellschaftliche Verteilung der Wartezeiten ist ein Gradmesser der Ungleichheit. Das zeigt sich vor allem vor den Ämtern und Tafeln, auf der Ausländerbehörde oder dem Arbeitsamt: Das lange, existentielle Warten wird meist den ohnehin schon Marginalisierten zugemutet. Wer hingegen über genügend Kleingeld verfügt, braucht sich nicht vorzudrängen – denn für die Reichen gibt es oft eigene Schalter. Obwohl Rosa Luxemburg also meinte, Geduld sei „die Tugend der Revolutionäre“, ist es nicht immer ratsam zu warten. Das gilt gleichfalls etwa für die Herausforderungen in der Klimakrise.

Andererseits können unverhoffte Pausen aber auch ein Geschenk sein. Weil der Bus sowieso kommt, wann er will, könnten wir die Wartezeit als Sandkorn im Getriebe der permanenten Verwertungsmaschinerie begreifen. Als Chance, einmal tief durchzuatmen oder uns von Tagträumen davontragen zu lassen. Wir sind es heutzutage gewohnt, dass immer etwas passiert – aber zum Glück des Menschen gehört eben nicht nur das aktive, sondern auch das beschauliche Dasein. Was würde also näher liegen, als beim Warten auch mal nichts zu tun und so die Kräfte wieder zugunsten von Kontemplation und kreativer Entfaltung zu verschieben? Oder, wie es die Expressionistin Paula Modersohn-Becker ausdrückte: „Man muss nur warten können, das Glück kommt schon.“ 

 

IM LEERLAUF ZUM GLÜCK? 

 

Natürlich hat nicht jede:r dazu die Möglichkeit – denn Langsamkeit ist auch ein (ökonomisches) Privileg. Sie kann zudem nur gelingen, wenn nicht ständig das Smartphone klingelt. Wer aber den pausenlosen Übersprungshandlungen widersteht, bekommt die Gelegenheiten, einfach Löcher in die Luft zu starren und dabei in die Welt hinauszuhorchen. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hielt die Langeweile für „jene unangenehme ‚Windstille‘ der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht“. Wer den Leerlauf erträgt und die Wüste des Wartens durchschreitet, kann also die Oase der Muße erreichen. Und wer den Mut aufbringt, Fremde am Bahnhof anzusprechen, kann die Vereinzelung überwinden und den Wartesaal zum Möglichkeitsraum zufälliger Begegnungen machen. Aber haben wir dazu überhaupt genügend Zeit?

Es ist schon paradox: Wir leben doppelt so lange wie vor 150 Jahren und wir arbeiten pro Woche nur noch die Hälfte – und doch scheinen wir keine Zeit mehr zu haben. Der Grund ist denkbar simpel: Wir pressen immer mehr in unseren Tag hinein und wollen bloß keine Sekunde vergeuden. Doch diesen manischen Wettlauf können wir nur verlieren. All das wird in kaum einer Situation so deutlich wie beim Warten. Nicht etwa diese kleinen Zwangspausen rauben uns also unsere Zeit, sondern das hohe Tempo. Vielleicht ist es ja sogar so, dass uns das Warten die verlorene Zeit wiederbringen kann. Zumindest aber bringt es uns uns selbst näher – wenn wir uns darauf einlassen und den Augenblick warten, also: pflegen. •

 

 

 

Dienstag, 14. März 2023

Husserls Phänomenologie Dialog mit chatgpt

 

Wie definiert Edmund Husserl Phänomenologie?

 

Sicher, ich kann Ihnen erklären, wie Edmund Husserl die Phänomenologie definiert hat.

Edmund Husserl (1859-1938) war ein deutscher Philosoph und der Begründer der Phänomenologie, einer philosophischen Methode, sterben sich auf die Erforschung und Beschreibung der Erscheinungen oder Phänomene konzentriert, sterben im menschlichen Bewusstsein.

Husserl definiert Phänomenologie als eine Methode, die darauf abzielt, die Dinge selbst in ihrer ursprünglichen Erscheinung zu erfassen und zu beschreiben. Das bedeutet, dass Phänomenologie sich auf die direkte und unvoreingenommene Wahrnehmung von Erscheinungen konzentriert, ohne vorgefasste Meinungen oder Vorurteile. Der Fokus liegt auf der Erfahrung selbst und nicht auf der Analyse von Ursachen, Bedingungen oder Auswirkungen.

Husserl betonte auch, dass Phänomenologie eine "reine" Methode ist, sterben sich auf das Studium der reinen Erscheinungen konzentriert, sterben frei von jeglicher Theorie oder Vorannahme sind. Das Ziel der Phänomenologie ist es, die Bedeutung und Struktur dieser reinen Erscheinungen zu erfassen und zu beschreiben, um so das Wesen der Wirklichkeit zu verstehen.

Insgesamt kann man sagen, dass für Husserl die Phänomenologie eine Methode der Erforschung und Beschreibung der Erfahrungen ist, die sich auf die direkte Wahrnehmung von Erscheinungen konzentriert und darauf abzielt, das Wesen der Wirklichkeit zu verstehen.

 

Und was versteht Husserl unter Intentionalität?

 

Für Husserl ist Intentionalität ein zentrales Konzept in der Phänomenologie. Er versteht darunter die Eigenschaft des menschlichen Bewusstseins, sich auf etwas zu richten oder auf etwas zu beziehen.

Das bedeutet, dass jede mentale Aktivität oder Erfahrung in der Phänomenologie eine intentionale Struktur hat, weil sie sich immer auf etwas bezieht. Wenn wir etwas wahrnehmen, denken oder fühlen, dann beziehen wir uns immer auf ein Objekt oder einen Gegenstand erleben, den wir als Teil unserer Erfahrung.

Husserl betont, dass diese intentionale Struktur ein grundlegender Aspekt des menschlichen Bewusstseins ist und dass sie uns ermöglicht, die Welt um uns herum zu verstehen und zu erfahren. Er betont auch, dass die Intentionalität eine aktive und produktive Rolle im menschlichen Bewusstsein spielt, weil sie uns erlaubt, neue Bedeutungen und Zusammenhänge zu entdecken und unser Wissen und unsere Erfahrung zu erweitern.

In der Phänomenologie ist die Intentionalität auch ein zentraler Aspekt, der es uns ermöglicht, die Erfahrungswelt zu verstehen und zu beschreiben. Sie ist eine intelligente Eigenschaft des menschlichen Bewusstseins und spielt eine wichtige Rolle in der Erforschung und Beschreibung von Erscheinungen oder Phänomenen.

 

Was ist für Husserl ein Phänomen?

 

Für Husserl ist ein Phänomen alles, was in unserem Bewusstsein als Erscheinung oder Erfahrung gegeben ist. Ein Phänomen kann alles sein, was wir wahrnehmen, denken, fühlen oder uns vorstellen können. Es umfasst daher eine Vielzahl von Erscheinungen wie Sinneswahrnehmungen, Gedanken, Emotionen, Erinnerungen und Vorstellungen.

Husserl betont jedoch, dass Phänomene nicht einfach als „Dinge“ oder „Objekte“ verstanden werden sollten, die unabhängig von unserem Bewusstsein existieren. Stattdessen sind Phänomene immer in unserer Erfahrungswelt begründet und werden von uns als Teil unserer Erfahrung erlebt.

Daher konzentriert sich sterben Phänomenologie auf die unmittelbare und direkte Erforschung dieser Erscheinungen oder Phänomene, ohne vorgefasste Meinungen oder Theorien. Das Ziel ist es, die Struktur und Bedeutung dieser Phänomene zu erfassen und zu beschreiben, um so das Wesen der Wirklichkeit zu verstehen.

Zusammenfassend können wir sagen, dass für Husserl ein Phänomen alles IST, was in unserem Bewusstsein als Erscheinung oder Erfahrung gegeben IST und dass die Phänomenologie sich auf die Erforschung und Beschreibung dieser Phänomene konzentriert, um das Wesen der Wirklichkeit zu verstehen.

 

Gibt es eine Verbindung zwischen Phänomenologie und Theologie?

 

Ja, es gibt eine Verbindung zwischen Phänomenologie und Theologie, insbesondere im Bereich der Philosophie der Religion. Viele Philosophen und Theologen haben sich mit der Phänomenologie auseinandergesetzt und sie als eine wissenschaftliche Methode für die Erforschung religiöser Erfahrungen und Phänomene angesehen.

Ein Beispiel hierfür ist der französische Philosoph und Theologe Jean-Luc Marion, der in seinen Werken die Phänomenologie auf die Erforschung der Beziehung zwischen Mensch und Gott angewendet hat. Er argumentiert, dass die Phänomenologie eine Methode ist, die es ermöglicht, die Kunst und Weise zu verstehen, in der sich das Transzendente oder Göttliche im menschlichen Bewusstsein manifestiert.

Ein weiterer wichtiger Vertreter der phänomenologischen Theologie ist der deutsche Theologe Rudolf Otto, der in seinem Werk „Das Heilige“ die Erfahrung des Heiligen als Ein Phänomen untersucht, das in allen Religionen vorkommt.

Darüber hinaus hat Husserl selbst in seinen späten Schriften die Bedeutung der Phänomenologie für die Erforschung religiöser Erfahrungen betont. Er argumentierte, dass die Phänomenologie eine Methode ist, die es ermöglicht, die Beziehung zwischen dem Transzendenten und dem menschlichen Bewusstsein zu verstehen.

Insgesamt kann man sagen, dass die Phänomenologie eine wichtige Methode für die Erforschung religiöser Erfahrungen und Phänomene ist und dass sie von vielen Philosophen und Theologen auf diesem Gebiet genutzt wird.

 

Wie hat Martin Heidegger Husserl und seine Phänomenologie aufgenommen?

 

Martin Heidegger war einer der Schüler von Edmund Husserl und hat seine Philosophie und Methode der Phänomenologie übernommen und weiterentwickelt. Allerdings hat Heidegger Husserls Phänomenologie später kritisch hinterfragt und seine eigene Interpretation und Weiterentwicklung vorgestellt.

Heidegger betonte, dass die Phänomenologie nicht nur eine Methode zur Beschreibung von Erscheinungen oder Phänomenen sei, sondern dass sie auch eine Ontologie oder Lehre vom Sein beinhalte. In seiner frühen Phase beschäftigte sich Heidegger mit der Frage nach dem Sinn des Seins, und er betrachtete die Phänomenologie als ein Werkzeug, um die Grundlagen des Seins selbst zu erforschen.

Heidegger führt die Phänomenologie weiter aus, indem er das Konzept des „Daseins“ einführt, das er als die menschliche Existenz verstand. Das Dasein sei nach Heidegger das Wesen des Menschen und damit der Ausgangspunkt für jede Philosophie. Das Dasein sei aber nicht einfach nur ein Objekt, das in der Welt existiert, sondern es sei durch seine Existenz als eine offene und dynamische Beziehung zur Welt geprägt.

In Heideggers späteren Werken kritisierte er jedoch Husserls Phänomenologie, da er sie als zu theoretisch und abstrakt betrachtete. Er argumentierte, dass die Phänomenologie zu sehr auf die Beschreibung von Erscheinungen konzentriert sei und nicht in der Lage sei, das Wesen der Wirklichkeit und des Seins selbst zu erfassen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Heidegger Husserls Phänomenologie aufgenommen, weiterentwickelt und auch Kritiken hat. Er betonte, dass die Phänomenologie nicht nur eine Methode zur Beschreibung von Erscheinungen sei, sondern auch eine Ontologie oder Lehre vom Sein beinhalte. Heidegger hat jedoch später kritisiert, dass die Phänomenologie zu abstrakt und theoretisch sei, um das Wesen der Wirklichkeit und des Seins selbst zu erfassen.

 

Gibt es weitere Philosophien, die die Phänomenologie von Edmund Husserl fortführten

 

Ja, es gibt viele Philosophen, sterben die Phänomenologie von Edmund Husserl aufgegriffen und erweitert haben. Einige der wichtigsten sind:

Maurice Merleau-Ponty: Er war ein französischer Philosoph, die Phänomenologie Husserls greift auf und sie um den Aspekt des Körpers und der Wahrnehmung erweitert. Er betonte, dass die Wahrnehmung eine direkte Erfahrung des Körpers in der Welt sei, und dass die phänomenologische Methode es ermögliche, die Erfahrung des Körpers und der Welt genauer zu verstehen.

Jean-Paul Sartre: Sartre war ein französischer Existenzialist und Schüler von Husserl. Er wendet die Phänomenologie weiter an, indem er sie auf die menschliche Existenz anwendete und betonte, dass die Existenz eine historische und unveränderliche Eigenschaft des Menschen sei. Er argumentierte, dass die phänomenologische Methode es ermögliche, die Existenz des Menschen in der Welt zu verstehen und die Bedeutung von Freiheit und zu Verantwortung zu erfassen.

Emmanuel Levinas: Levinas war ein französischer Philosoph, der die Phänomenologie von Husserl und Heidegger aufgreift, aber sie um den Aspekt der Ethik und Verantwortung erweitert. Er betonte, dass die phänomenologische Methode es ermögliche, die Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen zu verstehen und dass die Ethik eine wesentliche Komponente der menschlichen Existenz sei.

Paul Ricoeur: Ricoeur war ein französischer Philosoph, der die Phänomenologie von Husserl und Heidegger aufgreift, aber sie um den Aspekt der Sprache und der Interpretation erweitert. Er betonte, dass die phänomenologische Methode es ermögliche, die Bedeutung von Sprache und Interpretation für die menschliche Erfahrung zu verstehen und dass die Interpretation eine Rolle in der menschlichen Existenz spielt.

Diese Philosophen und viele andere haben die Phänomenologie von Husserl aufgegriffen und erweitert, indem sie auf verschiedene Bereiche der menschlichen Erfahrung und der Philosophie angewendet haben.

 

Hat Derrida die Phänomenologie von Husserl aufgegriffen?

 

Ja, Jacques Derrida hat die Phänomenologie von Husserl in seinem Werk aufgegriffen, allerdings hat er sie auf sehr kritische und subversive Weise interpretiert und erweitert.

Derrida gilt als einer der Begründer der Dekonstruktion, einer philosophischen Bewegung, sterben die Vorstellungen von Bedeutung, Wahrheit und Identität kritisch hinterfragt. In seiner frühen Arbeit hat Derrida die Phänomenologie von Husserl aufgegriffen und insbesondere Husserls Konzept der Intentionalität in Frage gestellt.

Derrida argumentierte, dass Husserls Phänomenologie trotz ihrer Bestrebungen, die Sprache und Zeichen in der Bedeutung von menschlicher Erfahrung zu verstehen, nicht in der Lage sei, den wesentlichen Aspekt der Sprache als ein systematisches Spiel von Zeichen und Bedeutungen zu erfassen. Stattdessen betonte Derrida, dass Sprache und Zeichen stets von Einem System von Differenzen und Widersprüchen geprägt seien, sterben sterben Bedeutungen und Identitäten der Dinge kontinuierlich in Frage stellten.

Derrida kritisierte auch die Idee der reinen Präsenz, die Husserls Phänomenologie zu Grunde liegt. Er betonte, dass jede Präsenz auch durch Abwesenheit erreichen und Differenz definiert werde, und dass es keine Möglichkeit gebe, eine absolute und unveränderliche Bedeutung oder Identität zu.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Derrida die Phänomenologie von Husserl aufgegriffen hat, um sie zu kritisieren und zu subvertieren. Er hat insbesondere Husserls Konzept der Intentionalität kritisch hinterfragt und betont, dass Bedeutungen und Identitäten stets von einem System von Differenzen und Widersprüchen geprägt sind.

 

Wenn ich die Grundgedanken von Husserl darstellen will, wie soll ich vorgehen?

 

Wenn Sie die Grundgedanken von Husserl darstellen möchten, können Sie wie folgt vorgehen:

Beschreiben Sie Husserls Ziel: Husserl wollte eine „reine Phänomenologie“ entwickeln, die es ermöglicht, die Welt so zu erfassen, wie sie uns direkt gegeben ist, ohne dass wir von Vorurteilen oder Theorien beeinflusst werden.

Erklären Sie Husserls Methode: Husserls Methode besteht darin, sich auf die unmittelbaren Erfahrungen zu konzentrieren, die wir von der Welt haben. Er wollte diese Erfahrungen genau untersuchen, um zu verstehen, wie wir die Welt erfahren und was uns dazu befähigt war.

Betonen Sie Husserls Konzept der Intentionalität: Husserl betonte, dass jede mentale Aktivität auf ein Objekt gerichtet ist und dass die Bedeutung des Objekts von der Kunst und Weise bestimmt ist, wie wir es wahrnehmen und interpretieren.

Erklären Sie Husserls Konzept der Evidenz: Husserl betonte, dass unsere Erfahrungen uns eine unmittelbare „Evidenz“ für die Existenz und Eigenschaften von Dingen geben, die wir wahrnehmen. Er glaubte, dass diese Evidenz die Basis für jede weitere Erkenntnis ist.

Beschreiben Sie Husserls Konzept der Epoche: Husserl forderte, dass wir unsere Vorurteile und Theorien aussetzen, um eine „Epoche“ zu erreichen, eine Art von Aussetzung unseres Wissens und Urteilsvermögens. Nur durch die Epoche können wir die Welt so sehen, wie sie wirklich ist.

Betonen Sie Husserls Ideal der Wissenschaftlichkeit: Husserl glaubte, dass seine Methode und seine Konzepte eine wissenschaftliche Disziplin ermöglichen würden, die auf klaren und präzisen Prinzipien beruht und die Grundlage für eine objektive Erkenntnis der Welt bildet.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Husserl eine Methode der „reinen Phänomenologie“ entwickelt hat, die sich auf die unmittelbaren Erfahrungen konzentriert und auf das Konzept der Intentionalität, der Evidenz und der Epoche beruht. Sein Ziel war es, eine wissenschaftliche Disziplin zu schaffen, die auf der genauen Analyse von Erfahrungen und der Untersuchung der Bedeutung von Objekten basiert.

 

Was bedeutet bei Husserl epoche und evidenz?

 

Die Begriffe "Epoché" und "Evidenz" sind zentrale Konzepte in der Philosophie von Edmund Husserl.

„Epoche“ ist ein Begriff, der aus dem Griechischen stammt und wörtlich „Aussetzung“ bedeutet. In der Philosophie von Husserl bezieht sich die Epoche darauf, dass wir unsere Urteile und Theorien über die Welt aussetzen oder suspendieren sollten, um eine unvoreingenommene Betrachtung der Phänomene zu ermöglichen. Durch die Aussetzung unserer Urteile und Theorien können wir uns auf das konzentrieren, was direkt in unseren Erfahrungen gegeben ist. Das Ziel der Epoche ist es, die Objektivität unserer Betrachtung sicherzustellen, indem wir uns von voreingenommenen Annahmen lösen.

"Evidenz" bezieht sich auf die unmittelbare Selbstgegebenheit oder Selbstevidenz von Dingen und Phänomenen in der Welt. Husserl betonte, unmittelbar dass unsere Erfahrungen eine Art von Evidenz liefern, sterben uns zeigt, dass es Dinge und Phänomene in der Welt gibt. Evidenz bezieht sich auch darauf, dass die Dinge und Phänomene in der Welt uns in unseren Erfahrungen gegeben sind und dass wir sie unmittelbar wahrnehmen können. Die Evidenz ist damit die Grundlage für jede weitere Erkenntnis.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Epoche eine Methode darstellt, um unsere Urteile und Theorien auszusetzen und so eine unvoreingenommene Betrachtung der Phänomene zu ermöglichen, while die Evidenz sich auf die unmittelbare Selbstgegebenheit oder Selbstevidenz von Dingen und Phänomenen bezieht, die wir in unseren Erfahrungen erfahren .

 

Hat Husserl auch die Frage nach der Stellung der Zeit , Zeitkonstitution bearbeitet?

 

Ja, die Frage nach der Stellung und Konstitution der Zeit war ein wichtiger Teil von Husserls Philosophie. Husserl betrachtete die Zeit als ein grundlegendes Element unserer Erfahrungswelt und untersuchte die Kunst und Weise, wie wir Zeit erleben und wie wir zeitliche Strukturen in der Welt konstituieren.

Husserl betrachtete die Zeit als eine Art andauernden Strom von Erfahrungen und betonte, dass unsere Erfahrungen in der Zeit strukturiert sind. Er verfolgt das Konzept der "zeitlichen Horizonte", sterben die Kunst und Weise darstellen, wie unsere Erfahrungen aufeinander bezogen sind und wie sie in der Zeit strukturiert sind. Diese zeitlichen Horizonte ermöglichen uns, uns an die Vergangenheit zu erinnern, die Gegenwart zu erleben und uns auf die Zukunft zu eröffnen.

Husserl betonte auch, dass die Zeit nicht einfach als eine unabhängige oder vorgegebene Entität in der Welt existiert, sondern dass sie durch unsere Erfahrungen und unsere Aktivität konstituiert wird. Zeitliche Strukturen entstehen demnach durch unsere Wahrnehmungen und Handlungen und sind nicht unabhängig von uns gegeben.

In der Phänomenologie von Husserl spielt die Zeit auch eine zentrale Rolle, da sie eine fundamentale Struktur unserer Erfahrungswelt darstellt und sich auf die Kunst und Weise auswirkt, wie wir die Welt wahrnehmen und verstehen.

 

Wo finde ich bei Husserl seine Gedanken über die Zeit und gibt es Kommentare dazu?

 

Die Gedanken von Husserl zur Zeit finden sich in seinen verschiedenen Schriften, insbesondere in seinen späteren Werken. Einige der wichtigsten Schriften, in denen sich Husserl mit der Frage nach der Zeit auseinandersetzt, sind:

"Die Bernauer Manuskripte" (1917-1918)

"Formale und transzendentale Logik" (1929)

„Die Krise der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“ (1936)

"C-Manuskripte" (1938)

In diesen Schriften beschäftigt sich Husserl mit verschiedenen Aspekten der Zeit, wie zum Beispiel der Zeitkonstitution, der Struktur der Zeit, der Rolle der Zeit in der Erfahrungswelt und der Beziehung zwischen Zeit und Bewusstsein.

Es gibt auch viele Kommentare und Interpretationen zu den Gedanken von Husserl zur Zeit, da diese ein wichtiger Teil seiner Philosophie sind. Einige Kommentatoren und Philosophen, die sich mit Husserls Zeitphilosophie auseinandergesetzt haben, sind zB Dermot Moran, James Mensch, Dan Zahavi, Rudolf Bernet und Nicolas de Warren. Wenn Sie sich für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Husserls Zeitphilosophie interessieren, können Sie sich an diesen Werken orientieren.

 

Besonders Dan Zahavi?

 

Dan Zahavi ist ein dänischer Philosoph, der sich intensiv mit Husserls Phänomenologie auseinandergesetzt hat, einschließlich seiner Gedanken zur Zeit. Zahavi hat zahlreiche Artikel und Bücher zu Husserls Philosophie und der Phänomenologie im Allgemeinen verfasst, darunter "Husserl's Phenomenology" (2003), "Phenomenology: The Basics" (2007) und "Husserl and Transcendental Intersubjectivity" (2014).

In Bezug auf Husserls Zeitphilosophie hat Zahavi insbesondere auf Husserls Konzept der "zeitlichen Horizonte" hingewiesen. Zahavi betont, dass Husserl die Zeit nicht einfach als eine fortlaufende Abfolge von Momenten betrachtet, sondern als ein Netzwerk von zeitlichen Strukturen, die sich in der Erfahrungswelt manifestieren. Diese zeitlichen Strukturen bilden Horizonte, sterben die Kunst und Weise darstellen, wie unsere Erfahrungen aufeinander bezogen sind und wie sie in der Zeit strukturiert sind.

Zahavi hat auch auf die Bedeutung von Husserls Konzept der „Retention“ hingewiesen, das die Kunst und Weise darstellt, wie wir uns an vergangene Erfahrungen erinnern. Diese Retentionen sind für Husserl ein wesentlicher Bestandteil der zeitlichen Strukturierung unserer Erfahrungen und sind Teil dessen, was er als "zeitliches Bewusstsein" bezeichnet.

Insgesamt betont Zahavi, dass Husserls Zeitphilosophie eine zentrale Rolle in seiner Philosophie spielt und eng mit seinen anderen Gedanken zur Phänomenologie und zur Konstitution der Welt verbunden ist.

Husserls Zeitphilosophie und Retention?

 

Husserls Zeitphilosophie ist ein zentrales Thema in seiner Phänomenologie, da sie eng mit seiner Untersuchung der Struktur des Bewusstseins verbunden ist. Husserl beschäftigt sich dabei nicht nur mit der Frage, wie die Zeit im Bewusstsein bekannt wird, sondern auch damit, wie sie konstituiert wird.

Eine zentrale Rolle in Husserls Zeitphilosophie spielen dabei die Begriffe „Retention“ und „Protention“. Husserl betont, dass das Bewusstsein in jeder Erfahrung nicht nur gegenwärtige Objekte wahrnimmt, sondern auch den unmittelbaren Moment und den zukünftigen Moment "protendiert", also antizipiert. Die Retention dagegen bezeichnet das Vermögen des Bewusstseins, die gerade vergangene Erfahrung gegenwärtig zu halten, um sie in der Gegenwart zu reflektieren.

Für Husserl ist die Retention ein zentrales Element der zeitlichen Strukturierung unserer Erfahrungen. Er betont, dass die Retention es uns ermöglicht, die Vergangenheit in der Gegenwart gegenwärtig zu halten und uns an vergangene Erfahrungen zu erinnern. Dabei geht es nicht nur um eine Art "Speicherung" von vergangenen Erlebnissen, sondern auch um eine Rekonstruktion der Vergangenheit im Licht unserer gegenwärtigen Erfahrung. Die Retention ist somit Teil eines fortlaufenden Prozesses der Sinngebung und Bedeutungskonstitution, der über die Zeit hinweg stattfindet.

Husserls Untersuchung der Zeitstruktur des Bewusstseins und insbesondere der Rolle der Retention hat einen großen Einfluss auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts gehabt. So hat zB Maurice Merleau-Ponty, einer der wichtigsten Schüler von Husserl, die Rolle der Retention in seiner eigenen Phänomenologie betont und erweitert. Auch andere Philosophen wie Jean-Paul Sartre, Martin Heidegger und Jacques Derrida haben sich mit der Zeitphilosophie von Husserl auseinandergesetzt und ihre eigenen Konzepte der Zeit und der Retention entwickelt.

  

Spielt bei Heidegger Retention und Protention auch eine Rolle?

 

Ja, auch bei Heidegger spielt die Frage nach der Zeit eine zentrale Rolle, und er nimmt dabei Bezug auf Husserls Konzepte der Retention und Protention. Allerdings geht Heidegger mit diesen Begriffen anders um als Husserl.

Für Heidegger ist die Zeit keine abstrakte Größe, sondern ein grundlegendes Phänomen, das unsere Existenz und unser Verhältnis zur Welt prägt. Im zu Husserl betont Heidegger, dass die Zeit nicht nur eine Struktur des Bewusstseins ist, sondern dass sie die Bedingung dafür ist, dass überhaupt ein Bewusstsein entstehen kann. Heidegger spricht dabei von der „Zeitlichkeit“ des Daseins, die sich in drei Momenten vollzieht: der Vergangenheit (Gewesenheit), der Gegenwart (Gegenwärtigung) und der Zukunft (Erwartung).

Auch bei Heidegger spielen Retention und Protention eine wichtige Rolle, allerdings bezeichnet er diese Phänomene mit anderen Begriffen. Heidegger spricht von „Vorlaufen“ und „Nachlaufen“, um zu beschreiben, wie unser Verhältnis zur Zeit funktioniert. Das Vorlaufen bezieht sich dabei auf unsere Erwartungen und unser Streben nach der Zukunft, während das Nachlaufen die Kunst und Weise, wie wir uns an die Vergangenheit erinnern und wie sie uns in der Gegenwart beeinflusst.

Heideggers Konzept der Zeitlichkeit hat einen großen Einfluss auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts gehabt und wurde von vielen anderen Philosophen aufgegriffen und verbreitet.

 

Wie steht Husserl zum Psychologismus?

 

Husserl steht sehr kritisch gegenüber dem Psychologismus, der in der Philosophie des 19. Jahrhunderts weit verbreitet war. Der Psychologismus betrachtete psychologische Phänomene wie Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken als die Grundlage für alle philosophischen Aussagen. Husserl war der Ansicht, dass der Psychologismus zu einer Verwechslung von psychologischen und logischen Kategorien führt und dass er die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Philosophie untergräbt.

Husserl war der Meinung, dass die Philosophie sich nicht mit psychologischen Phänomenen, sondern mit den Bedingungen der Möglichkeit von Wissen und Erkenntnis auseinandersetzen sollte. Dabei setzte er auf eine strikte Methode der phänomenologischen Reduktion, die es erlaubt, von allen Voraussetzungen und Vorurteilen abzusehen und die Dinge so zu betrachten, wie sie sich unmittelbar im Bewusstsein zeigen.

In diesem Sinne wollte Husserl eine radikale Wende in der Philosophie vollziehen und eine neue Wissenschaft begründen, die er „Phänomenologie“ nannte. Die Phänomenologie sollte nicht nur eine Kritik des Psychologismus bieten, sondern auch einen neuen Zugang zu den Dingen eröffnen, der es erlaubt, sie in ihrer "reinen" Form zu betrachten, jenseits aller vorgefassten Meinungen und Theorien.

 

Aber in späteren Zeiten hat er doch über die Lebenswelt nachgedacht?

 

Ja, das stimmt. Obwohl Husserl sich in seinen frühen Schriften vor allem auf logische und erkenntnistheoretische Fragestellungen konzentrierte, wandte er sich später auch der Analyse der Lebenswelt zu. In seinen späten Werken, insbesondere in den „Krisis“-Schriften, beschäftigt er sich mit der Frage, wie die Lebenswelt als das „Ur-Feld“ aller Erfahrung und Erkenntnis zu verstehen ist.

Für Husserl ist die Lebenswelt der Hintergrund, vor dem alle Erfahrungen und Handlungen stattfinden. Es ist der Raum, in dem wir leben, handeln, fühlen und denken. Dabei betont Husserl, dass die Lebenswelt nicht einfach nur eine Sammlung von Dingen und Ereignissen ist, sondern dass sie von Bedeutungen und Sinnstrukturen geprägt ist. Die Lebenswelt ist also kein rein objektiver Bereich, sondern sie enthält auch subjektive und intersubjektive Aspekte.

Husserl ist der Ansicht, dass eine deutliche notwendige Analyse der Lebenswelt IST, um zu verstehen, wie Erkenntnis und Wissenschaft überhaupt möglich sind. Er kritisiert dabei vor allem die naturalistische Reduktion der Lebenswelt auf empirische Daten und betont, dass die Lebenswelt als Ganzes betrachtet werden muss, um ihre Bedeutung für unsere Erfahrung und Erkenntnis zu erfassen.

 

in diesem Zusammenhang versteht man dann unter einer realistischen Phänomenologie

Eine realistische Phänomenologie ist ein Ansatz innerhalb der Phänomenologie, der sich auf die Untersuchung der Phänomene in ihrer tatsächlichen Erscheinung konzentriert und dabei eine realistische Ontologie zugrunde legt. Anders als die transzendentale Phänomenologie von Husserl, die sich auf die Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis konzentriert, versucht die realistische Phänomenologie, eine Beschreibung der Dinge in ihrer konkreten Existenz zu geben.

Ein zentraler Begriff in der realistischen Phänomenologie ist die Sachlichkeit der Phänomene, das heißt ihre Fähigkeit, sich in ihrer konkreten Existenz zu zeigen, unabhängig von unseren Vorstellungen und Theorien. Anders als bei der transzendentalen Phänomenologie wird dabei nicht davon ausgegangen, dass die Phänomene durch unsere Bewusstseinsleistungen konstituiert werden. Außerdem wird betont, dass die Phänomene eine eigene Wirklichkeit haben, die es zu untersuchen gilt.

Die realistische Phänomenologie hat ihre Wurzeln in der Philosophie von Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre. Heidegger betonte die Bedeutung der Erfahrung der Dinge in ihrer konkreten Existenz und betonte, dass diese Erfahrung eine "Ur-Phänomen" der menschlichen Existenz darstellt. Sartre betonte die Bedeutung der Freiheit des Individuums in der Begegnung mit den Dingen.

Insgesamt geht es in der realistischen Phänomenologie darum, eine Beschreibung der Dinge in ihrer tatsächlichen Existenz zu geben, ohne dabei auf vorgefasste Theorien oder Vorstellungen zurückzugreifen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Phänomene eine eigene Wirklichkeit haben, die es zu untersuchen gilt.

 

Freitag, 3. März 2023

Philosophie aus Liebe zum Objekt!

Philosophie aus Liebe zum Objekt

Das große Draußen zwischen Natur und Kultur

"Jede Philosophie, die versucht, die Dinge in ihre Bedingungen zu zerlegen, damit sie erkannt und verifiziert werden können, ist ihres Namens unwürdig." (Graham Harman: The Third Table S. 12*)
Das ist ein seltsamer Satz für einen Philosophen, der doch per Berufsbild auf der Suche nach der Wahrheit sein müsste. Was meint Graham Harman, der Philosoph der objektorientierten Philosophie damit? Philosophie, so Harman, sei nicht Wissen oder Weisheit, sondern Liebe zur Weisheit und damit ein fast erotisches, auf jeden Fall ästhetisches Konzept. Harman geht noch weiter, wenn er sagt, dass man das Wahre nicht kennen, sondern nur lieben könne. Was er damit meint, ist nicht, dass wir gar keinen Zugang zu den Dingen und der Wahrheit erhalten könnten, sondern nur, dass der Zugang immer indirekt bleibt.



Auch die Liebe zwischen Menschen lebt ja durch einen indirekten Zugriff auf den anderen. Wir stellen eine Nähe zueinander her und wollen den Abstand zueinander immer weiter verringern. Würde jedoch jeglicher Abstand verschwinden, würden wir unseren Partner vollkommen definieren oder konsumieren, so würde auch die Liebe verschwinden. Harmans objektorientierte Philosophie folgt dieser Bewegung der zunehmenden Nähe mit der gleichzeitigen Akzeptanz, dass uns der direkte Zugriff auf die Dinge vorenthalten bleibt. Am Ende führt ihn das von der Erkenntnistheorie in eine neue Verortung der Philosophie, ja in eine dritte Kultur, aber dazu später mehr.

Was ist da draußen, außerhalb unserer selbst? Natürlich ganz viele Objekte, Dinge und andere Lebewesen. Aber was wissen wir von diesen Dingen? Die Philosophie hat seit jeher ein Problem mit den Dingen. Nie sind sie direkt erreichbar, wir haben immer nur einen individuellen sinnlichen Zugriff auf sie oder eine physikalisch-mathematische Beschreibung. Als Beispiel: Ein Tisch ist für uns entweder die Summe der Eindrücke, die wir von ihm haben (seine raue oder glatte Oberfläche, der Holzgeruch, die warme Farbe) oder seine atomare Zusammensetzung, wie sie ein Physiker beschreiben würde. Was der "Tisch ansich" ist, lässt sich nicht klären. Oder doch?

Nach dem sogenannten "Lingusitic Turn", also der philosophischen Auffassung des 20. Jahrhunderts, dass jegliche Realität jenseits von Sprache unerreichbar sei, hat die Philosophie zu den Dingen gern geschwiegen, so als wollte sie sich an Wittgensteins Diktum halten, dass man darüber schweigen solle, worüber man nicht reden könne. Inzwischen gibt es philosophische Versuche, diese "Unhintergehbarkeit" der Welt der Erscheinungen aufzubrechen, indem nicht nur (anti-konstruktivistisch) behauptet wird, dass es eine Welt gibt, die unabhängig von unserer menschlichen Vorstellung von ihr existiert, sondern dass wir auch einen philosophischen Zugang zu ihr eröffnen können, einen indirekten, einen der Annäherung. Diese Versuche wurden zuletzt "Spekulativer Realismus" genannt oder auch "objektorientierte Philosophie" wie bei Graham Harman. 



Kleiner Exkurs zur Erkenntnistheorie des spekulativen Realismus

Wir haben die zwei Beschreibungen des Tisches, die, wie er uns erscheint und die, wie ihn die Physik beschreibt. Die erste Beschreibung ist gar nicht die des Tisches, denn der Geruch des Tisches gehört ja zu mir als wahrnehmendem Wesen und nicht zum Tisch ansich. Der Tisch hat auch keine bestimmte Farbe, sondern immer nur die, in der er gerade mir als wahrnehmendem Subjekt erscheint und die Wahrnehmung ist immer abhängig vom gerade verfügbarem Licht oder meiner Wahrnehmungsfähigkeit (ich kann farbenblind sein oder eine Sonnenbrille aufhaben). Trotzdem muss der Tisch ja irgendwelche Qualitäten haben, die diese Eindrücke in mir und auf vergleichbare Art auch in anderen hervorrufen.

"In Wirklichkeit existiert das Sinnliche weder einfach »in mir« in Art eines Traums, noch einfach »in den Dingen« in Art einer ihnen intrinsischen Eigenschaft: Das Sinnliche ist ja gerade die Beziehung zwischen dem Ding und mir." (Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit, S. 14)

Die zweite, die wissenschaftliche Beschreibung wäre eine, die objektivierbar und somit universalisierbar sein möchte, weil sie von den subjektiven Eindrücken, die wir von einem Gegenstand haben, absehen kann. Zugleich kommt sie uns gerade deshalb völlig unzureichend und minimalisiert vor.

"Mein wissenschaftlicher Tisch besteht zum grössten Teil aus Leere. Spärlich eingestreut in diese Leere sind zahlreiche elektrische Ladungen, die mit grosser Geschwindigkeit hin und her sausen; spärlich, denn ihr Gesamtvolumen beträgt weniger als den billionsten Teil von dem Volumen des ganzen Tisches." (Arthur S. Eddington, Das Weltbild der Physik und ein Versuch Seiner Philosophischen Deutung, S. 2)

Um die Sache noch komplizierter zu machen, müssen wir nun auch noch anerkennen, dass selbst diese gerade "objektivierbar" genannte wissenschaftliche Sicht der Dinge, an unsere menschlichen und immer auch subjektiven Auffassungen und Interpretationen gekoppelt ist. Die atomare Beschaffenheit der Dinge ändert sich zudem. Partikel gehen verloren, andere kommen hinzu und trotzdem bleibt der Tisch unser Tisch. Noch deutlicher bei Menschen: Mein Körper teilt mit dem von vor sieben Jahren keine seiner atomaren Bestandteile mehr und trotzdem bin ich ich. Ich bin so wie der Tisch mehr als alle meine Qualitäten. Man könnte also sagen, dass diese wissenschaftliche Auffassung dem Tisch noch weniger gerecht wird, als die sinnliche, die ja immerhin einen Eintritt in eine Beziehung zum "Ding ansich" bedeutet.

Harmans dritter Tisch, der einzig wirkliche Tisch

Graham Harman findet, dass der eine Tisch das Objekt auf unsere Empfindungen reduziert, während der andere Tisch auf die blutleere Beschreibung der Physik reduziert ist. Keine der beiden Beschreibungen könne den Tisch voll beschreiben, denn er ist auch dann noch dieser Tisch, wenn einige seiner atomaren Komponenten fehlen oder wenn er uns plötzlich völlig anders erscheint, als wir es gewohnt sind. Diese zwei Versionen des Tisches sind also unbefriedigend, sogar ein "Betrug" wie Harman sagt, denn was ist nun der wahre Tisch? Für Harman befindet sich der einzig wahre Tisch zwischen dem einen und dem anderen.

Auch Harman unterscheidet die Objekte von ihren Qualitäten, wie wir es oben gemacht haben und er unterscheidet tatsächliche und "sinnliche Objekte". Die tatsächlichen Objekte sind unserem direkten Zugriff entzogen, aber uns allen über ihre Qualitäten zugänglich. "Sinnliche Objekte" sind lediglich einigen "Beobachtern" zugänglich. Weiterhin postuliert Harman, dass Objekte "tiefer" oder vielleicht reicher sind, als sie uns erscheinen und auch "tiefer" als die Beziehungen zwischen zwei Objekten (z.B. berührt ein Wassertropfen nie wirklich das Holz des Tisches, denn die elektrischen Ladungen zwischen den Objekten vermitteln lediglich eine Berührung der Objekte).

"Der wahre Tisch ist eine wahrhaftige Realität tiefer als jede theoretische oder praktische Begegnung mit ihm. Und darüber hinaus vermögen nicht einmal Steine oder Gewichte, die in den Tisch einschlagen, die innere Tiefe des Tisches zu erschöpfen. Der Tisch ist etwas tieferes als jegliche Beziehung, in die er durch uns oder andere Objekte involviert werden kann." (Graham Harman: The Third Table, S. 9f.)

"Unser dritter Tisch tritt als etwas hervor, das verschieden von seinen physikalischen Komponenten und auch von all seinen Effekten, die er haben mag, entzogen ist. Unser Tisch ist eine Zwischenform, die sich weder in subatomarer Physik noch in menschlicher Psychologie, sondern in einer permanent autonomen Zone, in der Objekte einfach nur sie selbst sind." (ebd, S. 10)

Das ist das, so Harman weiter, was in der aristotelischen Tradition "Substanz" heißt: die autonome Realität individueller Dinge. Harman will die Sicht des Aristoteles auf die Dinge als weder atomare Reduktion noch als Reduktion auf seine Erscheinung wieder beleben. Dinge seien nach Aristoteles immer individuell und unser Wissen und Erkennen ist immer universell (grün, schwer, quadratisch). So läge also auch für Aristoteles die Realität der Dinge außerhalb der Reichweite unseres Wissens.
Ende des Exkurses

Die dritte Kultur

Somit haben wir nun also einen Tisch, der weder durch die Physik noch durch unsere Sinne ausreichend begriffen werden kann. Und genau darauf wollte Harman hinaus. Das ist die Annäherung an die Realität als Philosoph, als einer, der die Wahrheit liebt, aber nie erschöpfend kennen kann. Harman stellt sogleich die Parallele zu den "zwei Kulturen" her, dem "wissenschaftlichen Realismus" und dem "sozialen Konstruktivismus", die beide als Philosophien gescheitert seien. Natürlich ruft das in Analogie zum Harmans dritten Tisch nach einer dritten Kultur, die er in der Ästhetik, in der Kunst sieht. Denn Künstler versuchen weder die Objekte in ihre atomaren Grundlagen zu zerlegen, noch wollen sie lediglich die Erscheinungen der Dinge reproduzieren. Sie jagen vielmehr den wahren und für immer unzugänglichen Objekten hinterher, indem sie versuchen, sie so zu realisieren, dass sie tiefer und reicher sind als ihre bloßen Erscheinungen, wenn sie nicht sgar Objekte andeuten, die ganz generell nicht herstellbar sind.

Nachdem die Philosophie in den letzten Jahrhunderten versucht hat, durch rigorose Gründlichkeit mit den Naturwissenschaften aufzunehmen, sei es nun vielleicht an der Zeit, dass sich Philosophie in eine energische Kunst verwandle.

"Durch die Transformation von einer Wissenschaft in eine Kunst, erhält die Philosophie ihren ursprünglichen Charakter der Liebe zurück. Auf eine Art ist dieses erotische Modell das grundlegende Bestreben der objektorientierten Philosophie: der einzige Weg, im derzeitigen philosophischen Klima, der Liebe jener Weisheit gerecht zu werden, die nicht behauptet, wirklich Weisheit zu sein." (ebd, S. 15)

Man könnte mit Harman hierin nicht nur eine Brücke zwischen den ewig sich gegenüber stehenden Lagern innerhalb der Philosophie (Realisten und Idealisten) sehen, sondern auch eine zwischen den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften und - warum hier aufhören - man könnte wie zuletzt Bruno Latour mit seiner anthropologischen Symmetrik noch einmal den Versuch unternehmen, die künstliche Trennung zwischen Kultur und Natur einzureißen und natürliche Phänomene mit den sozialen Phänomenen zusammen zu denken, anstatt sie als separate "Objekte" von grundverschiedenen Wissens- und Interessensstandpunkten heraus zu analysieren. Die Folgen, die solch ein ästhetischer, liebender Ansatz für unser Zusammenleben und unser Verhältnis zur Natur hätte, könnten sich als überaus positiv erweisen.




Sonntag, 25. Dezember 2022

Weihnachten 2022

 Liebe Freundinnnen und liebe Freunde! 

 

Mit diesem weihnachtlichen Gruss will ich Euch etwas schenken 

ein Wort, ein Satz, ein Gedanke! 

Und es entspricht meiner theologischen Herkunft, 

dass es ein Wort aus der Bibel ist, ein Satz, ein Bekenntnis, 

von dem ich wünsche, dass er in unseren weihnachtlichen Herzen Wurzeln schlägt. 

Im 1. Buch Mose, Kapitel 16, Vers 13 steht dieses Bekenntnis: 

            „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ 

Dazu Gedanken als weiterführende Anregungen: 

 

Gott ist der, der uns sieht. 

Der Anfang - 

Und Gott sah, dass es gut war. 

Gut war die Welt. So hat er sie geschaffen. 

Aus dem nichts rief er sie ins Sein. 

Mit dem Wort seiner Kraft. 

Durch den Geist seiner Liebe. 

Er ist der Gott, der uns schuf. 

 

Und Gott sah, dass es nicht mehr gut war. 

Dunkel war die Welt. 

Das hatten wir geschafft. 

Statt Fülle herrscht nun Mangel. 

Durch die Härte der Herzen. 

Durch den Willen zur Macht. 

Er ist der Gott, der uns erträgt. 

 

Und Gott sah, dass Hilfe nötig war. 

So sandte er Ihn in die Welt. 

Das haben wir erlebt. 

Der Erlöser erschien. 

Sein Name ist Jesus. 

Gott ist mit uns. 

Er ist der Gott, der uns rettet. 

 

Auch heute schaut Gott auf die Welt. 

Er sieht unsere Not. 

Er erforscht unsere Herzen. 

Er spricht uns an. 

Er ruft uns zu sich. 

Er will uns begegnen. 

Er ist der Gott, der uns sieht. 

 

Nachdenklich nachdenkend – 

Denn ein turbulentes Jahr neigt sich dem Ende entgegen. 

Vieles auf der Welt ist bedrohlich und beängstigend – 

Krieg, Energiekrise, Klima, Inflation, Pandemie… 

Die Aussichten scheinen nicht gut zu sein. 

Doch wie jedes Jahr endet auch diese mit Weihnachten. 

Mit einem Fest, das uns daran erinnert, 

dass Jesus in diese Welt kam. 

Und wir müssen nicht glauben, 

dass es früher heimelig und romantisch zuging. 

Auch zu Marias und Josefs Zeiten herrschte das Chaos. 

Der Sohn Gottes verlässt sein Paradies und kommt zu uns auf diese dunkle Welt. 

Um uns zu zeigen, dass er uns sieht und bei uns sein will. 

Damals und heute. 

Auch jetzt ist Gott nah. 

            „Du bist ein  Gott, der mich sieht“. 

Das ist auch das Wort der Jahreslosung und es gilt jedem Einzelnen von uns. 

Gott ist der, der uns sieht. 

Er spricht uns an. 

Er will uns begegnen – er will dir begegnen. 

Denn alles wirkliche Leben ist Begegnung. 

Und Theologie als Lehre von Gott geschieht ohne Unterlass, 

weil Gott ohne Unterlass geschieht. 

Diese Bewusstheit kann als Lebensüberzeugung eingeübt werden. 

Es kommt dann darauf an, sich vom Leben in der Begegnung herausfordern zu lassen. 

Wenn ich sehen kann, dass mein Leben Gottes Leben ist 

und Gottes Leben mein Leben und das des anderen Menschen genauso, 

dann wird jede Begegnung zu einer Begegnung mit Gott, 

denn ER ist ja wirkliches Leben! 

Das ist der Grund zu feiern – 

Begegnung zu feiern – du bist ein Gott, der mich sieht –  

Alles wirkliche Leben ist Begegnung. 

 

In diesem Sinne wünsche ich fröhliche Weihnachten 

und einen gesegneten Start in das Jahr 2023. 

Wir bleiben als Begegnende miteinander in Gott verbunden. 

Herzliche Grüße 

Euer 

Heinz Hübner 

 

PS Dieser Gruß verzichtet auf weihnachtliche Dekoration 

und digitale Rahmungen, damit das Wort in seiner Bedeutung 

den Mittelpunkt bilden kann. 

 


Montag, 19. Dezember 2022

 

WISSEN UND SYSTEM

Wissen braucht Zusammenhang. Wissen findet man nicht als Atome vor, die für

sich nebeneinander und isoliert existieren. Wissen ist vielmehr immer eingebettet

in bereits Gewusstes. Der Zusammenhang des Wissens ist unverzichtbar; aber

worin soll er bestehen? Das Wissen von seinem Zusammenhang her zu denken,

stellt die Frage nach der Art und Weise des Zusammenhangs, der notwendig ist,

damit das Wissen als Wissen bestehen kann. Der Zusammenhang des Wissens existiert

nicht wie gegebene Gegenstände in Raum und Zeit. Er existiert auch nicht

nur in der Faktizität von Kontexten. Der Zusammenhang ist eine Aufgabe an das

Wissen: Es soll Zusammenhang hergestellt werden. Der Zusammenhang soll Kohärenz

herstellen, Unterschiedliches soll zusammenpassen, Heterogenes genetisch

verbunden werden. Die Philosophie stellt dieses Bedürfnis und diese Aufgabe als

methodisches Programm vor. Die Wissenschaften, die Forschung und die Universitäten,

verschaffen diesem Programm einen institutionellen Rahmen. 

Mittwoch, 12. August 2020

"Verzwergung" - Zukunft der Kirchen in Deutschland

Zur Zukunft des Christentums in Deutschland Die Verzwergung der Großkirchen

Die jüngsten Kirchenaustrittszahlen sind noch dramatischer ausgefallen als zuvor. Studien prognostizieren den Volkskirchen in den nächsten Jahrzehnten eine Halbierung der Mitgliederzahlen. Bistümer und Landeskirchen verzwergen. Droht das Ende des Christentums in Deutschland?

„In den letzten Jahrzehnten haben wir häufig die Tendenz gehabt: Als Volkskirche wollte man für alle da sein und das bedeutet, es wird so ein bisschen gräulich, das Wischiwaschi halt. Man versucht nichts Gefährliches anzusprechen. Und das ist manchmal auch überflüssig.“

Sagt Gert Pickel, Religions- und Kirchensoziologe an der evangelischen Theologischen Fakultät der Uni Leipzig. Der stetige Mitgliederschwund ist für ihn auch Zeichen des stetigen Bedeutungsverlustes der ehemals großen Volkskirchen. Das müsse aber für den christlichen Glauben nicht abträglich sein.

„Christentum ist nicht die organisierte Kirche“

Pickel: „Man könnte es hier mit einem frühen Religionspsychologen, mit William James sagen, der hat mal die Kirche als verderbten Partner der Religiosität bezeichnet. Dass die Kirche eher hemmend ist für die wahre Religiosität als stärkend.“

Denn der christliche Glaube muss sich nicht zwingend in Bistümern und Landeskirchen organisieren. Im Grunde stehe nicht die Institution im Vordergrund, sondern das menschliche Für- und Miteinander, sagt Religionssoziologe Pickel.

„Das Soziale an Religion, diese soziale Komponente. Es ist ja dem Christentum gegeben, für andere da zu sein. Das ist eine soziale Komponente. Aber das macht man ja nicht allein. Also das Frühchristentum war ja auch nicht jeweils eine Person, die nur für sich gedacht hat, sondern das waren kleine Gruppen, die unter Verfolgungsdruck besonders viel Vertrauen ineinander entwickeln mussten. Vielleicht müssen die Kirchen lernen: Das, was Christentum ist, ist nicht die organisierte Kirche in organisierten Gemeinden, wo viele nicht da sind, sondern es sind die Personen, die sich irgendwie treffen können.“

Die elastische Volkskirche

Schon Anfang des 20. Jahrhunderts formulierte der evangelische Theologe Ernst Troeltsch die Idee der „elastischen Volkskirche“. Das Christliche zeige sich in drei grundlegenden Sozialgestalten: erstens in der verfassten Kirche, zweitens in ausgelagerten Vereinen, Initiativen, Gebetskreisen und Splittergruppen, die Troeltsch Sekten nannte, und drittens in einer individuellen Frömmigkeit und Mystik.

„Eine der Pointen seiner Behauptung dieser Trias ist ja, dass diese drei Gestalten wechselseitig voneinander abhängig sind. Sowohl die Sekte-Freikirche als auch die religiösen Individualisten sind in einer bestimmten Weise von der Großkirche abhängig, nämlich als derjenigen Größe, in der wesentlich die Überlieferung des Christentums stattfindet und eine Vermittlung des Christlichen in der ganzen Breite. Sie ist Kirche für das Volk, bietet auch so was wie die religiöse Grundversorgung an, Beerdigungen, Taufen, Trauungen auch für diejenigen, die nicht intensiv am Gemeindeleben teilnehmen.“

Sagt Martin Fritz, theologischer Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin. Was aber, wenn die Kirche ihren Aufgaben nicht mehr nachkommt? Vielfältig sind die Klagen, die Predigten würden immer schlechter. Im Konfirmanden-Unterricht werde kaum noch biblisch-theologisches Wissen vermittelt. Wer einen nahen Verwandten beerdigen lassen möchte, erreiche den Ortspfarrer nicht und bestelle lieber gleich einen freien Trauerredner. Wo aber Kirche ihren Grundaufgaben nicht mehr nachkommt, hat sie auch ihre Existenzberechtigung verloren. Evangelisch gesprochen:
„Kirche ist da, wo das Evangelium gepredigt und die Sakramente gefeiert und verwaltet werden. Da braucht es sonst gar keinen Überbau, keinen kirchlichen. Das ist erst mal eine Funktion und keine Institution, welche die Kirche ausmacht“, sagt Martin Fritz.

Gefahr der Abschottung

Wird es christliche Existenz künftig also vor allem in Vereinen und Splittergruppen geben? Eine individuelle Frömmigkeit ohne großkirchliche Anbindung? Ja, sagt Religionssoziologe Gert Pickel, das gebe es schon lange in den USA. Aber dort eben mit Risiken und Nebenwirkungen.

Gert Pickel, Professor für Kirchen- und Religionssoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. 

Pickel: „Da habe ich eine bunte Pluralität sehr unterschiedlichen Glaubens. Hat nur das Problem, dass Gruppen, wenn sie nur nach innen gerichtet sind und mit anderen nicht kommunizieren, sehr schnell, was wir negativ betrachten, als Sekten daherkommen. Also Gruppen, die sehr überzeugt sind nach innen. Die haben allerdings auch einen Stacheldrahtzaun außen rum und sind gut bewaffnet. Eine Entwicklung nicht zum Liberalen, sondern eher zum Dogmatisch-Religiösen hin. Wenn ich so eine kleine religiöse Gemeinschaft dann habe – die überlebt dadurch, dass sie sich abgrenzt. Ich würde nicht sagen, dass das eine schwache Theologie ist. Es wird wahrscheinlich sogar eine sehr starke sein. Aber vielleicht eine doch stark vereinfachte.“

Wer künftig keine amerikanischen Verhältnisse in Deutschland haben wolle, müsse vor allem auf Bildung und Aufklärung setzen. Und dafür seien schon heute nicht mehr Kirchenräume entscheidend.

„Der Schlüssel ist guter Religionsunterricht“

Pickel: „Die Berührung zur Religion findet an zwei Stellen statt. Das ist in der Familie und das zweite ist im Religionsunterricht. Es lernt ja keiner in der Kirche Religion, um das mal ganz ehrlich zu sagen, sondern man lernt es an diesen beiden Stellen. Wenn die Eltern nicht religiös sind, dann werde ich keine Kirche von innen sehen. Und wenn ich nicht im Religionsunterricht die Basis des Wissens erfahre, dann weiß ich auch gar nicht, was dort getan wird.“

Der Schlüssel liegt für Pickel vor allem in einem guten Religionsunterricht. Wenn es künftig keine Großkirchen mehr geben sollte, werde es auch keine akademische Pfarrerausbildung mehr geben, sprich: Die Theologische Fakultät wäre ein Auslaufmodell. Was es aber weiterhin brauche: religionswissenschaftliche Institute zumindest für die Lehramtsausbildung. Auch wenn er die Gefahr sieht, dass künftig theologisches Wissen verloren geht, Pickel ist zuversichtlich, dass historisch-kritische Wissenschaft nicht zwangsläufig verloren gehen müsse.

„Theologische Fakultäten würden sich auflösen“

Pickel: „Die theologischen Fakultäten würden sich auflösen. Aber es wird so sein, dass Theologen und die Theologie als Wissenschaft in bestimmten Bereichen innerhalb der Geisteswissenschaften überleben würde, dass es Zuordnungen zu philosophischen Fakultäten oder so etwas gibt. Ob das dann aber für alle die Vorgabe ist, das ist ja eine andere Frage.“

Eine Verzwergung der Großkirchen müsse also nicht zum Ende der Theologie führen. Sie werde aber zu anderen Organisationsstrukturen führen: vor allem zu kleineren Vereinen. Und Ironie der religionssoziologischen Geschichte: Nicht die Großkirchen wären dann weiterhin Vorbild für andere Religionen, sondern umgekehrt würden sich Christen an den Vereinsstrukturen anderer orientieren müssen, meint Gert Pickel.

„Schauen wir uns zum Beispiel die Muslime in Deutschland an. Deren Organisationsform ist ja gemeinschaftsorientiert. Die haben verschiedenste Gemeinschaften um die Moscheen herum, aber die sind ja relativ singulär. Dort haben wir nicht die Kirche, die alles zusammenhält, sondern es sind viele Gemeinschaften“, so Pickel.

Gelegenheits-Strukturen und soziale Angebote

In Zukunft könnte es also vielfältige Formen von Gemeinschaft und Gemeinde geben. Von der christlichen Motorradgruppe bis zum Strickkreis, vom Singe-Club bis zum Kochkurs, Gelegenheits-Strukturen und soziale Angebote, die auch von Nicht-Gläubigen akzeptiert werden können.

Pickel: „Man könnte sagen, das könnte auch im Bürgerhaus sein. Aber man hat dort nicht das Flair der sozialen Vergemeinschaftung. Wir haben in Ost-Deutschland mehr Personen, die in Gruppen um Kirchen herum sind, als Mitglieder. Und das ist urchristlich, finde ich, dass man Sozialformen ermöglicht.“

Klar ist auf jeden Fall, dass die Kirchen an Macht und Einfluss verlieren werden. Die kleineren christlichen Vereine werden kaum die bisherigen Strukturen aufrechterhalten können.

„Um ein aufgeklärtes Christentum ist mir schon bang“

Pickel: „Jede dieser einzelnen Gemeinschaften würde gegenüber dem Staat kaum Durchsetzungskraft haben. Da gibt’s ein Grüppchen und da gibt’s ein Grüppchen. Da ist dann die obere Organisationsform doch ganz hilfreich.“

Pickel selbst kann sich daher so etwas wie einen EKD-Dachverband als politische Repräsentanz weiterhin vorstellen. Die Landeskirchen aber hält er für überholt. Und Theologe Martin Fritz glaubt schon an so etwas wie die Wirkmächtigkeit des Wortes Gottes oder eben des Heiligen Geistes. Auch in Zukunft werden die Deutschen Bibel lesen, beten oder christliche Lieder singen. Ob aber das theologische Niveau ohne Landeskirchen und akademisch ausgebildete Pfarrer zu halten sein wird, weiß er noch nicht.

Fritz: „Ich bin nicht besonders pessimistisch, was das Christentum angeht. Da rechne ich mit einer gewissen Selbstwirksamkeit des Wortes, mit einer gewissen grundlegenden Religiosität des Menschen, die im Christentum dann eine besonders schöne und wahre Form findet. Um das Christentum ist es mir nicht bang. Um ein aufgeklärtes Christentum ist mir schon bang.“

Kirche - wohin

Austherapiert. Plädoyer für eine palliative Ekklesiologie Holger Pyka


Aus Anlass der letzten Kirchenaustrittsstatistik

Disclaimer: Ich schreibe das hier nicht so gern. Vielleicht ist es deswegen auch so lang geworden. Ich bin Pfarrer der evangelischen Landeskirche, und ich bin das gern. Ich finde meine Kirche gut, auch, wenn mir das, was sie glaubt, meistens besser gefällt als das, was sie so macht. Die Meldungen zur Kirchenaustrittsstatistik wecken in mir Existenzängste, und dabei weiß ich, dass mich das alles nicht auch nur ansatzweise so schwer treffen würde wie abertausend andere. Aber ich bin eben auch überzeugt davon, dass Glauben heißt, realistisch zu leben. Dass meine Religion, mein Glaube, meine Theologie Antworten auf meine Fragen und Ängste haben. Und mein Blick auf das Leben ist maßgeblich von palliativer Arbeit geprägt worden, als Seelsorger und als Angehöriger. Daher der folgende Text. 


„Austherapiert“. Der Arzt schließt Herr Müllers Krankenakte. Frau Müller tastet nach der Hand ihres Mannes. Der murmelt das komische Wort vor sich hin. „Austherapiert.“ „Ja, was heißt das denn?“ fragt Frau Müller hilflos. Der Arzt putzt seine Brille etwas umständlich am Zipfel seines weißen Kittels ab. „Das heißt, dass unsere medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Wir können nichts tun, um Ihre Krankheit zu heilen oder auch nur ernsthaft zu verlangsamen.“ Dann sucht er Herr Müllers Blick. „Das heißt, dass Sie sterben werden.“ Frau Müller zuckt zusammen. Herr Müller nickt kaum merklich. „Wie lange habe ich noch?“ bringt er leise hervor. Der Arzt zuckt mit den Schultern, schüttelt den Kopf. Blättert noch einmal in der Krankenakte. „Nicht mehr lange“, sagt er.

Die Kirche[1] ist austherapiert. Sie wird sterben. Und nicht irgendwann in unbestimmter Zukunft, so wie alles irgendwann an ein Ende kommt, sondern in absehbarer Zeit. An was genau sie sterben wird, weiß man gar nicht so richtig. Sie ist schon länger krank, hat alle möglichen Wehwehchen und auch ernsthaftere Leiden und die eine oder andere Verletzung angesammelt, manche davon für sich genommen schon potenziell lebensbedrohlich. Viele hinzugerufene Expert*innen (in Deutschland ist die Kirche noch Privatpatientin) haben seit Jahrzehnten ihre jeweiligen Fachgebiete für entscheidend gehalten und entsprechende Therapien verordnet: Konservative („Die Kirche muss frömmer werden!“), invasive („Aus unternehmensberaterischer Sicht empfehlen wir…“) und alternative Methoden („Die Kirche muss bunter werden“). Fastenkuren („Die Kirche sollte weniger…“), Reproduktionsmedizin („Wir müssen die Familien stärken und mehr für die Taufe werben“), Aufstellungstherapie („Die Kirche müsste mehr in die politische Mitte!“), Logopädie („Wir müssen die Predigt verbessern“) und Krankengymnastik („Die Kirche muss beweglicher werden“). Frischluftkuren („Die Kirche muss raus zu den Menschen“) und alles Mögliche andere. Jetzt kommt auch noch Corona, das bekanntlich für Patient*innen mit Vorerkrankungen besonders gefährlich ist.[2]
Am Bett, das sich immer stärker als Sterbe-, denn als Krankenbett erweist, sitzen Angehörige und trauern auf die je eigene Art und Weise, wie Angehörige und Betroffene das eben tun. Manche wollen es immer noch nicht wahrhaben und googeln frenetisch nach noch einem Experten, nach noch einer Therapie, nach noch einer All-In-Lösung, die alles irgendwie wegzaubert. Andere sind schnell in die Wutphase gekommen und suchen vor allem „den“ Schuldigen. Kommen diese Menschen aus der Gemeinde, sind es „die da oben“ schuld, also Kirchenkreise, Landeskirchen oder EKD, die alles kaputt sparen. Kommen sie aus nicht-gemeindlichen Kontexten, sind es die Gemeinden Schuld, die viel zu stark auf sich selbst bezogen sind und die klugen Konzepte nicht umsetzen, die man ihnen vorlegt. Sind die Wütenden jünger, liegt es aus ihrer Sicht an den Alten, die den Karren in den Dreck gefahren haben. Und so weiter. Die Suche nach Schuldigen ist ein emotionaler Reflex, den man kaum vermeiden kann, weil wir Menschen nun einmal so ticken. Sie ist eher Ausdruck von nachvollziehbaren Gefühlen, keine ernsthafte Ursachenforschung. Eine solche bringt ohnehin wenig, denn es ändert ja nicht viel daran, dass man mit der gegenwärtigen Situation umgehen muss.[3]
„Aber Herr Doktor“, sagt Frau Müller mit tränenerstickter Stimme, „können Sie denn gar nichts mehr für meinen Mann tun?“ Der Arzt putzt sich noch einmal die Brille. Dann sagt er: „Unsere medizinische Kenntnis reicht nach heutigem Stand nicht aus, um die Krankheit Ihres Mannes zu heilen oder nennenswert zu verlangsamen.“ „Ich will auch nicht ewig am Tropf hängen“, wendet Herr Müller ein und erinnert an seine Patientenverfügung, die seiner Frau gerade herzlich egal ist. Der Arzt nickt. „Aber wir können all unser Wissen dafür einsetzen, dass die letzte Zeit so schmerzfrei, unkompliziert und würdevoll wie möglich gestaltet werden kann. Ich würde daher gern schnellstmöglich einen Termin mit unserem Palliativ-Team vereinbaren.“ Er reicht Herrn Müller eine Broschüre. Auf der zweiten Seite steht erklärend: „Die Palliativmedizin widmet sich der Behandlung und Begleitung von Patienten mit einer nicht heilbaren, progredienten und weit fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung sowie der Begleitung ihrer Angehörigen. Die Palliativmedizin bejaht das Leben und sieht das Sterben als einen natürlichen Prozess. Sie lehnt aktive Sterbehilfe ab.“[4]
Die Hinwendung zur Palliativmedizin markierte einen starken Richtungsumschwung in der Schulmedizin, die, etwas hemdsärmelig gesagt, vor allem auf Lebensverlängerung ausgerichtet war. Die früh Engagierten dieser Bewegung erkannten das Befreiende im Akzeptieren des Unvermeidlichen – was ihnen von Kolleg*innen nicht selten den Vorwurf einbrachte, sie würden ihren hippokratischen Eid verraten, obwohl klar war, dass es nicht um Sterbehilfe, sondern um Sterbebegleitung ging. Palliative Care bedeutet einen Abschied von menschlichen und medizinischen Allmachtsfantasien, sie rechnet mit dem Tod als unvermeidliche Konsequenz des Lebens und sieht die Aufgabe der Begleitung darin, nicht dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben zu geben. Deswegen arbeitet Palliative Care multiprofessionell: Die Ärztinnen bringen ihre Expertise dadurch ein, dass sie wirksame Schmerztherapien entwickeln, Pflegekräfte unterstützen durch eine Versorgung, die einen so angenehmen Aufenthalt wie möglich in der letzten Lebensphase gewährleistet, und Seelsorgende helfen Sterbenden dabei, loszulassen, ihre Dinge zu ordnen und in Frieden und Würde Abschied zu nehmen.

Die nächsten Wochen vergehen schnell. Herr Müller ist in einem hellen, freundlichen Einzelzimmer untergebracht. Überhaupt hätten sie sich die ganze Station, auf der er liegt, ganz anders vorgestellt. „Ich dachte immer, auf so einer Sterbestation muss es ganz traurig zugehen“, sagt Frau Müller beim Kaffeeholen zu einer der Schwestern. Die lacht. Und auch Herr und Frau Müller lachen zwischendurch. Und führen Gespräche, die anders sind als früher. „Ich bin so stolz auf dich, wie du das hier alles erträgst“, sagt sie eines Tages zu ihm. Er sieht sie lange an, mit blanken Augen. „Du hast mir noch nie gesagt, dass du stolz auf mich bist“, sagt er, und eine Träne kullert ihm über die Wange. Zusammen geweint, das haben sie noch nie gemacht. Das ist neu. Und es tut gut. Der Zustand von Herrn Müller verschlechtert sich rapide. Irgendwann kann er nicht mehr aufstehen, das Reden, das Wachbleiben, Dinge in der Hand zu halten, all das fällt zunehmend schwerer. Frau Müller bekommt von einer Schwester gezeigt, wie sie ihm den Mund mit nassen Wattestäbchen auswischen kann. So kommt er sogar noch an ein Bierchen. Er lächelt sie an, und es kostet ihn unendlich viel Kraft. – Der Tag, an dem Herr Müller stirbt, ist ein sonniger. Lange bleibt sie an seinem Sterbebett sitzen, denkt an Schönes und Schroffes zurück. Am Abend sagt sie ihrer Schwägerin am Telefon: „Ich weiß gar nicht, was ich machen soll…“ Sie sucht nach Worten. „Wie soll das Leben ohne meinen Harry gehen? Aber… diese letzte Zeit, die war…“ sie senkt die Stimme und flüstert: „Irgendwie auch schön. Die hat uns nochmal näher zusammengebracht.“ Beide weinen ein bisschen am Telefon, dann ruft Frau Müller den Bestatter an.

Unsortiertere Gedanken zu einer palliativen Ekklesiologie

-        Palliative Ekklesiologie meint eine Lehre von der Kirche, die nicht nur mit dem Abbau einzelner Gemeinden, sondern auch mit dem Ende der Kirche in der uns bekannten Form rechnet. Es gibt ohnehin keine biblisch fundierte Lehre von einer ewigen Kirche[5], geschweige denn in einer bestimmten Organisationsform. Wie die frühen Palliativpioniere werden auch ihre Vertreter*innen sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass sie ihren Auftrag verraten. Das ist durchzustehen, denn auch hier sind unvermeidliche und notwendige Emotionen am Werk, und auch hier geht es darum, Allmachtsfantasien[6] aufzugeben.


-        Palliative Ekklesiologie entlastet dadurch von der unweigerlich zum Verzweifeln führenden Suche nach dem Heiligen Gral in Form eines einzelnen Rezepts, durch das alles wieder gut wird. Sie gesteht sich die Unumkehrbarkeit der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ein und befreit so zu einem Blick auf ein neues Ziel: Das Ende würdevoll zu gestalten. 

-        Palliative Ekklesiologie stellt die unbedingte Würde des Sterbenden in den Mittelpunkt. Die Suche nach der individuellen Schuld des Sterbenden an seinem Schicksal hat in diesem Bestreben keinen Platz, weil sie entwürdigend und irreführend ist: Das Sterben ist die unvermeidliche Konsequenz des Lebens. Palliative Ekklesiologie ist daher realistischer und vor allem gnädiger als alle kybernetischen Modelle, die einseitig auf Wachstum, Innovation oder zumindest Besitzstandswahrung abzielen.



-        Palliative Ekklesiologie bejaht das Leben, das heißt: Sie leistet keine Sterbehilfe. Sie ermöglicht es, funktionierende Teilsysteme zu erhalten und zu fördern – einzelne Gemeinden, einzelner Regionen können aufgrund ihrer Nachhaltigkeit auch den volkskirchlichen Systemkollaps überleben und in anderer juristischer Form weiterbestehen. Es gibt keinen Grund und keine ethische Grundlage dafür, in solchen Fällen alle Stecker zu ziehen und die Geräte abzuschalten. Zugleich schärft sie den Blick dafür, dass Maßnahmen, die auf eine rein quantitative Lebensverlängerung abzielen, nicht die einzige und vor allem nicht die wünschenswerteste Lösung darstellen.



-        Palliative Ekklesiologie weiß um die ungeheure emotionale Intensität, die eine bewusst gestaltete letzte Lebensphase haben kann. In der bullshitfreien Zone rund um das nicht mehr länger verleugnete Lebensende wird Raum frei für Aufarbeitung, für das Benennen persönlicher Schuld und für Vergebung, für das Ordnen der Dinge, für manchmal völlig neue Formen der Nähe. Es klingt paradox, aber: Die letzte Zeit ist von Trauer und Abschied durchfurcht, aber sie kann auch wunderschöne und intensive Momente bereithalten, die die Sicht der Überlebenden auf das Leben für immer verändern.



-        Palliative Ekklesiologie braucht wie Palliative Care multiprofessionelle Perspektiven. Sie kann Erkenntnisse und Kompetenzen aus der freien Wirtschaft aufnehmen (Exnovation, Change Management), Ansätze und Methoden aus Therapie und Beratung (Trauerbegleitung, Ritualforschung) integrieren und braucht einen verlässlichen ethischen Kompass, um an der äußersten Grenze verantwortungsvoll navigieren zu können. 

-        Palliative Ekklesiologie kann die öffentliche Relevanz von Theologie, Spiritualität und christlichem Glauben deutlich machen, indem sie Vorbild ist für den würdevollen Abbau anderer verdienter und traditionsreicher Institutionen, die ihr Lebensende erreicht haben. Dieses Potenzial hat allerdings deutliche Grenzen, denn:



-        Palliative Ekklesiologie zieht ihre Motivation und ihre Begründung ultimativ aus dem Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Christus ist gestern und heute und auch in Ewigkeit derselbe. Dadurch verliert der Wandel der kirchlichen Organisationsformen trotz aller Trauer seinen Schrecken. Schuldlosigkeit ist nicht durch ein sündenfreies Leben, sondern nur durch Gottes Versöhnungsangebot zu haben. Daher braucht es keine Illusion, irgendeine Organisationsform der Kirche könnte oder müsste jemals perfekt sein. Das öffnet sogar gedankliche Räume, die zum „fröhlichen Sündigen“ (M. Luther), zumindest zum wilden Experimentieren einladen. Christus ist nach seinem Tod auferstanden, und er zieht alle mit sich. Palliative Ekklesiologie kann damit rechnen, dass Gott nach Abschied, Sterben und Tod Neues schafft. Und dass das Zweite erst nach dem Ersten kommen kann. Ohne freien Fall keine Erfahrung: Ich bin getragen. Ohne Umkehr keine neuen Perspektiven. Ohne Sterben keine Auferstehung.


[1] Gemeint ist hier wie im Übrigen nicht die Kirche als theologische und damit zumindest in Teilen theoretische Größe, sondern der in Deutschland volkskirchlich verfasste Mainstream-Protestantismus.
[2] Aber schon vorher dürfte klar geworden sein: Keine dieser Therapievorschläge wird die Volkskirche in entscheidender Breite retten. Einzelne Gemeinden werden sicherlich von temporären Aufbrüchen profitieren können, aber aufs Ganze gesehen sind das Erfolge bei der Symptombehandlung.[2] Es ist rein rechnerisch nicht möglich. In Formulierungen ausgedrückt, die derzeit in aller Munde ist: Um eine Volkskirche bundesdeutscher Dimension mitgliedermäßig bloß stabil zu halten, müssen a) die Geburten die Todesfälle ausgleichen (was sie nicht tun). Und selbst, wenn das der Fall wäre, müsste b) der Reproduktionsfaktor bei 1.0 liegen. Das hieße zum Beispiel, wenn man keine Nicht-Mitglieder von außen anwirbt (was die Kirche nicht tut), dass ein evangelisches Elternpaar ihre Kirchenbindung an zwei Kinder weitergeben muss, und zwar dauerhaft. Da schon die erste Bedingung nicht zutrifft, ändert die zweite, so sie denn gegeben wäre, auch nichts am Abwärtstrend, und der ist so gewaltig, dass keine Erweckungsbewegung in einer historisch bekannten Größe das ausgleichen könnte.
[3] Ein kleiner Exkurs: Oft fordern Gemeinden (und hier oft Pfarrer*innen) mehr Personal, vor allem mehr Pfarrer*innen. Viele fürchten sich vor der Unüberschaubarkeit von Gemeindegrößen, die mit einer Pfarrstelle pro dreitausend (oder, auf den Inseln der Seligen, zweitausend) Mitgliedern rechnen. Hintergrund ist die Annahme, dass mehr Pfarrer*innen mehr Kontaktfläche zur Kirche bieten und sich dadurch die Kirchenbindung verbessert. Es gibt aber gute Gründe dafür, dass die Annahme falsch ist. Erstens ist die Arbeit dadurch nicht zwingend gemeindeorientierter (wer mit einem Orgel-Agende-alte Leute-Sonntagsmorgengottesdienst nichts anfangen kann, dem ist es egal, ob er sich „seine“ Pfarrperson mit 1000, 2000 oder 3000 anderen teilt. Zweitens sind Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nicht ganz so einfach. Wer sich entscheidet, sein Kind nicht taufen zu lassen, tut das ja nicht, weil er oder sie keinen Termin mit der Pfarrperson bekommt (zumindest die allermeisten nicht), sondern weil sich nicht erschließt, wozu das gut sein sollte. Drittens zeigt die Historie, dass die Entwicklung der Pfarstellensituation alles andere als singulär ist: In Preußen waren um die vorletzte Jahrhundertwende Pfarrer durchschnittlich für rund 2.500 Gemeindeglieder zuständig. Das sind absolute Durchschnittswerte mit deutlichen Ausreißern nach oben und unten, beschreiben aber trotzdem eine Situation, die unserer nicht unähnlich ist. Und: Dort, wo Pfarrer nur für rund 700 Menschen zuständig waren, haben sie pro Jahr proportional genauso viele Konfirmationen wie ihre Kollegen mit dreitausend oder mehr Gemeindegliedern. Und das sind ziemlich wenige, wenn man bedenkt, dass die Taufquote durchgehend bei 93–99% liegt. – Das sind jetzt etwas aus der Hüfte geschossene Schlussfolgerungen, aber die Zahlen sind verlässlich und nachzulesen bei Oliver Janz, Bürger besonderer Art. Evangelische Pfarrer in Preußen 1850–1914 (VhHKB 87), Berlin u. a. 1994, 509ff.
[5] Diesen Irrtum lutherischer, katholischer und orthodoxer Ekklesiologie hat Karl Barth korrigiert, vgl. Christengemeinde und Bürgergemeinde, in: Ders., Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde, Zürich ²1979 (Theologische Studien 104), 53.
[6] Selbst bei Gemeindegrößen von 500 Mitgliedern pro Pfarrperson ist es eine Illusion, diese könnte mit allen Mitgliedern persönlichen Kontakt pflegen, geschweige denn einen emotional und theologisch-geistlich gehaltvollen.