Mittwoch, 12. Juli 2023

Philosophie des Wartens

 Ein Impuls, der mich angesprochen hat - Warten und geschehen-lassen.

Kleine Philosophie des Wartens

Timo Reuter veröffentlicht am 11 Juli 2023 

Rote Ampeln, lange Schlangen an der Kasse – die täglichen Zwangspausen wollen wir am liebsten abschaffen. Dabei könnten sie ein Sandkorn im Getriebe der permanenten Verwertungsmaschinerie sein. Und ein Tor zur Philosophie.

 

Wir tun es ständig, im Starkregen oder in der prallen Sonne, im Morgengrauen und am Abend. Wir warten – auf den nächsten Bus oder eine kurze Nachricht, auf die große Liebe und auf das Ende einer Krise. Obwohl der Aufschub omnipräsent ist, wird er gerne verflucht und verdrängt. Wir halten die Warterei nämlich nicht nur für einen unbedeutenden, sondern auch für einen äußerst unangenehmen Zustand. Laut einer Studie aus dem Jahre 2016 sind die kleinen Zwangspausen im Alltag für die Deutschen das Feindbild Nummer 1. Über 55 Prozent regen sich darüber auf – das Warten ist damit ein noch größeres Ärgernis als etwa die Unfreundlichkeit anderer Menschen.

Es ist eine ziemlich absurde Situation: Ständig hetzen wir gestresst vom einen zum nächsten und sehnen uns deshalb nach kaum etwas so sehr wie nach Ruhe – doch gerade dann, wenn wir Zeit zum Innehalten hätten, steigen Frust oder Wut in uns auf. Ob an Bahnhöfen oder Bushaltestellen, im Wartezimmer oder an der Supermarktkasse, das Warten geht uns so sehr gegen den Strich, dass wir dabei das vielleicht Wertvollste, was wir haben, am liebsten „totschlagen“ wollen: die Zeit. Wie kann das sein?

 

PRODUKTIVER ZWISCHENRAUM

 

Nun, wenn wir warten müssen, spüren wir Ohnmacht. Wir sind dann höheren Mächten, arroganten Chefinnen oder unwillige Bürokraten ausgeliefert. Dazu kommt die Ungewissheit, wann es endlich weitergeht. Dabei wollen wir doch selbst über unsere Zeit bestimmen – gerade, weil wir so wenig davon zu haben scheinen. Während die Welt also immer schneller wird und wir immer mehr erledigen und erleben wollen, sollen wir einfach tatenlos am Bahngleis stehen? Unser Leben ist heute auf die sofortige Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet, das Warten indes haben wir längst verlernt – mit fatalen Folgen. 

Denn dieser scheinbar unscheinbare Zustand ist in Wahrheit eine stille Kraft, die Übergänge schafft. Es ist die Zeit zwischen unseren Erwartungen und ihrer Erfüllung. Der Prozess, in dem etwas wird, was es ist. Nicht nur würziger Käse oder guter Wein wollen in Ruhe reifen, ebenso müssen Liebe oder Freundschaft erst gedeihen. Und auch wer komplexe Sachverhalte begreifen will, muss vor allem beharrlich bleiben – schnelles Denken und überstürztes Handeln hingegen sind enorm fehleranfällig, das wusste der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegelbereits vor über 200 Jahren: „Die Ungeduld“, schrieb er in seiner Phänomenologie des Geistes, „verlangt das Unmögliche, nämlich die Erreichung des Ziels ohne die Mittel.“ 

Zu warten hingegen bedeutet, auch mal zurückzustecken. Doch das ist in einer Welt, in der alles immer weiter wachsen soll, beinahe undenkbar geworden. Der Klimawandel und das Artensterben sind die offensichtlichen Konsequenzen dieser beschleunigten Ausbeutung, die der Natur keine Zeit zur Regeneration lässt. Aber auch anderswo macht sich die fehlende Geduld bemerkbar – etwa in unserer Kommunikation. Denn erst die bedeutungsschwangere Pause zwischen der Botschaft und ihrem verzerrten Echo lässt uns Raum für unsere Fantasie sowie zum wirklichen Verstehen des Gesagten. Ebenso kann eine Entschuldigung ihre Wirkung nur entfalten, wenn man damit etwas wartet – und bereit ist, auch komische Gefühle auszuhalten. Natürlich will niemand sein Glück ewig aufschieben. Doch nur wer warten kann, ist überhaupt in der Lage, Vorfreude zu empfinden. Sie ist das Wohlgefühl der Geduldigen, nicht bloß im Advent oder während der Schwangerschaft. Auf etwas hinzufiebern trägt auch im Alltag ein Glücksversprechen in sich. Und das Verlangen kann sogar gesteigert werden, indem wir es hinauszögern.

 

KONSUMIEREN ALS ABWEHRMECHANISMUS

 

Kurzum: Das Warten ist ein fester Bestandteil des Lebens und markiert den Übergang vom Alltäglichen zum Existenziellen. Gemeint ist nicht nur das bange Warten auf eine Aufenthaltsgenehmigung oder ein Spendeorgan, sondern auch die banale Pause am Bahngleis. Dort kann sich das Tor zur Philosophie öffnen. Solange wir nämlich im Tun aufgehen, tritt die Zeitlichkeit unseres Daseins in den Hintergrund. Beim Warten ist das anders: Wenn der gewohnt schnelle Fluss der Ereignisse stockt, hören wir plötzlich das Ticken der Uhr. Doch wenn die Zeit vergeht, dann vergehen auch wir, wie schon der Philosoph Henri Bergson wusste. Der kleine Aufschub erinnert uns also an unsere Endlichkeit – und konfrontiert uns mit den tiefen Fragen unseres Seins. Nicht ohne Grund hat die Existenzphilosophie alltägliche Stimmungen wie Ekel, Angst oder eben Langeweile als Fenster zu unserem Dasein auserkoren. 

Und so beginnt auch die Philosophie Martin Heideggers an einem Provinzbahnhof, beim Warten auf den Zug. Dieser Zustand lässt uns die Zeit fühlen – und wie sie uns durch die Finger rieselt. Nun haben wir zwei Möglichkeiten: Wir nehmen ein Magazin in die Hand oder besser noch unser Smartphone. Wir rennen davon, auch wenn wir stehen bleiben. Wir konsumieren, damit die Zeit uns nicht konsumiert, wie der Literaturwissenschaftler Harold Schweizer notiert. Die Folge: Wir verdrängen das Warten – und empfinden es doch als höchst unangenehm. Oder aber wir stellen uns der Leere und können so einen Stein ins Rollen bringen – um letztlich durch tiefe Reflexion zu uns selbst zu finden: Wie will ich meine Zeit verbringen? Und auf was möchte ich wirklich warten?

Bei genauerem Betrachten ist das Warten also keinesfalls so unbedeutend, wie wir zunächst glauben. Diese Lücke zwischen jetzt und später ist vielmehr eine Art Taschenspiegel der Verhältnisse, in denen wir leben. Nicht nur die chronische Zeitnot unserer Epoche oder unsere Angst vor dem Tod zeigen sich dort – das Warten selbst ist, wie der Soziologe Pierre Bourdieu fand, „eine hervorragende Weise, Macht und die Verbindung zwischen Zeit und Macht zu schmecken“. Nicht selten müssen Menschen ausharren, weil andere es so wollen: Schon an den Höfen ägyptischer Pharaonen hat sich mancher Bote zu Tode gewartet. Und noch heute kann der Chef seine Angestellten hinhalten – umgekehrt aber droht die Kündigung. 

 

WARTEN UND MACHT

 

Die gesellschaftliche Verteilung der Wartezeiten ist ein Gradmesser der Ungleichheit. Das zeigt sich vor allem vor den Ämtern und Tafeln, auf der Ausländerbehörde oder dem Arbeitsamt: Das lange, existentielle Warten wird meist den ohnehin schon Marginalisierten zugemutet. Wer hingegen über genügend Kleingeld verfügt, braucht sich nicht vorzudrängen – denn für die Reichen gibt es oft eigene Schalter. Obwohl Rosa Luxemburg also meinte, Geduld sei „die Tugend der Revolutionäre“, ist es nicht immer ratsam zu warten. Das gilt gleichfalls etwa für die Herausforderungen in der Klimakrise.

Andererseits können unverhoffte Pausen aber auch ein Geschenk sein. Weil der Bus sowieso kommt, wann er will, könnten wir die Wartezeit als Sandkorn im Getriebe der permanenten Verwertungsmaschinerie begreifen. Als Chance, einmal tief durchzuatmen oder uns von Tagträumen davontragen zu lassen. Wir sind es heutzutage gewohnt, dass immer etwas passiert – aber zum Glück des Menschen gehört eben nicht nur das aktive, sondern auch das beschauliche Dasein. Was würde also näher liegen, als beim Warten auch mal nichts zu tun und so die Kräfte wieder zugunsten von Kontemplation und kreativer Entfaltung zu verschieben? Oder, wie es die Expressionistin Paula Modersohn-Becker ausdrückte: „Man muss nur warten können, das Glück kommt schon.“ 

 

IM LEERLAUF ZUM GLÜCK? 

 

Natürlich hat nicht jede:r dazu die Möglichkeit – denn Langsamkeit ist auch ein (ökonomisches) Privileg. Sie kann zudem nur gelingen, wenn nicht ständig das Smartphone klingelt. Wer aber den pausenlosen Übersprungshandlungen widersteht, bekommt die Gelegenheiten, einfach Löcher in die Luft zu starren und dabei in die Welt hinauszuhorchen. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hielt die Langeweile für „jene unangenehme ‚Windstille‘ der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht“. Wer den Leerlauf erträgt und die Wüste des Wartens durchschreitet, kann also die Oase der Muße erreichen. Und wer den Mut aufbringt, Fremde am Bahnhof anzusprechen, kann die Vereinzelung überwinden und den Wartesaal zum Möglichkeitsraum zufälliger Begegnungen machen. Aber haben wir dazu überhaupt genügend Zeit?

Es ist schon paradox: Wir leben doppelt so lange wie vor 150 Jahren und wir arbeiten pro Woche nur noch die Hälfte – und doch scheinen wir keine Zeit mehr zu haben. Der Grund ist denkbar simpel: Wir pressen immer mehr in unseren Tag hinein und wollen bloß keine Sekunde vergeuden. Doch diesen manischen Wettlauf können wir nur verlieren. All das wird in kaum einer Situation so deutlich wie beim Warten. Nicht etwa diese kleinen Zwangspausen rauben uns also unsere Zeit, sondern das hohe Tempo. Vielleicht ist es ja sogar so, dass uns das Warten die verlorene Zeit wiederbringen kann. Zumindest aber bringt es uns uns selbst näher – wenn wir uns darauf einlassen und den Augenblick warten, also: pflegen. •