Mittwoch, 12. August 2020

"Verzwergung" - Zukunft der Kirchen in Deutschland

Zur Zukunft des Christentums in Deutschland Die Verzwergung der Großkirchen

Die jüngsten Kirchenaustrittszahlen sind noch dramatischer ausgefallen als zuvor. Studien prognostizieren den Volkskirchen in den nächsten Jahrzehnten eine Halbierung der Mitgliederzahlen. Bistümer und Landeskirchen verzwergen. Droht das Ende des Christentums in Deutschland?

„In den letzten Jahrzehnten haben wir häufig die Tendenz gehabt: Als Volkskirche wollte man für alle da sein und das bedeutet, es wird so ein bisschen gräulich, das Wischiwaschi halt. Man versucht nichts Gefährliches anzusprechen. Und das ist manchmal auch überflüssig.“

Sagt Gert Pickel, Religions- und Kirchensoziologe an der evangelischen Theologischen Fakultät der Uni Leipzig. Der stetige Mitgliederschwund ist für ihn auch Zeichen des stetigen Bedeutungsverlustes der ehemals großen Volkskirchen. Das müsse aber für den christlichen Glauben nicht abträglich sein.

„Christentum ist nicht die organisierte Kirche“

Pickel: „Man könnte es hier mit einem frühen Religionspsychologen, mit William James sagen, der hat mal die Kirche als verderbten Partner der Religiosität bezeichnet. Dass die Kirche eher hemmend ist für die wahre Religiosität als stärkend.“

Denn der christliche Glaube muss sich nicht zwingend in Bistümern und Landeskirchen organisieren. Im Grunde stehe nicht die Institution im Vordergrund, sondern das menschliche Für- und Miteinander, sagt Religionssoziologe Pickel.

„Das Soziale an Religion, diese soziale Komponente. Es ist ja dem Christentum gegeben, für andere da zu sein. Das ist eine soziale Komponente. Aber das macht man ja nicht allein. Also das Frühchristentum war ja auch nicht jeweils eine Person, die nur für sich gedacht hat, sondern das waren kleine Gruppen, die unter Verfolgungsdruck besonders viel Vertrauen ineinander entwickeln mussten. Vielleicht müssen die Kirchen lernen: Das, was Christentum ist, ist nicht die organisierte Kirche in organisierten Gemeinden, wo viele nicht da sind, sondern es sind die Personen, die sich irgendwie treffen können.“

Die elastische Volkskirche

Schon Anfang des 20. Jahrhunderts formulierte der evangelische Theologe Ernst Troeltsch die Idee der „elastischen Volkskirche“. Das Christliche zeige sich in drei grundlegenden Sozialgestalten: erstens in der verfassten Kirche, zweitens in ausgelagerten Vereinen, Initiativen, Gebetskreisen und Splittergruppen, die Troeltsch Sekten nannte, und drittens in einer individuellen Frömmigkeit und Mystik.

„Eine der Pointen seiner Behauptung dieser Trias ist ja, dass diese drei Gestalten wechselseitig voneinander abhängig sind. Sowohl die Sekte-Freikirche als auch die religiösen Individualisten sind in einer bestimmten Weise von der Großkirche abhängig, nämlich als derjenigen Größe, in der wesentlich die Überlieferung des Christentums stattfindet und eine Vermittlung des Christlichen in der ganzen Breite. Sie ist Kirche für das Volk, bietet auch so was wie die religiöse Grundversorgung an, Beerdigungen, Taufen, Trauungen auch für diejenigen, die nicht intensiv am Gemeindeleben teilnehmen.“

Sagt Martin Fritz, theologischer Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin. Was aber, wenn die Kirche ihren Aufgaben nicht mehr nachkommt? Vielfältig sind die Klagen, die Predigten würden immer schlechter. Im Konfirmanden-Unterricht werde kaum noch biblisch-theologisches Wissen vermittelt. Wer einen nahen Verwandten beerdigen lassen möchte, erreiche den Ortspfarrer nicht und bestelle lieber gleich einen freien Trauerredner. Wo aber Kirche ihren Grundaufgaben nicht mehr nachkommt, hat sie auch ihre Existenzberechtigung verloren. Evangelisch gesprochen:
„Kirche ist da, wo das Evangelium gepredigt und die Sakramente gefeiert und verwaltet werden. Da braucht es sonst gar keinen Überbau, keinen kirchlichen. Das ist erst mal eine Funktion und keine Institution, welche die Kirche ausmacht“, sagt Martin Fritz.

Gefahr der Abschottung

Wird es christliche Existenz künftig also vor allem in Vereinen und Splittergruppen geben? Eine individuelle Frömmigkeit ohne großkirchliche Anbindung? Ja, sagt Religionssoziologe Gert Pickel, das gebe es schon lange in den USA. Aber dort eben mit Risiken und Nebenwirkungen.

Gert Pickel, Professor für Kirchen- und Religionssoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. 

Pickel: „Da habe ich eine bunte Pluralität sehr unterschiedlichen Glaubens. Hat nur das Problem, dass Gruppen, wenn sie nur nach innen gerichtet sind und mit anderen nicht kommunizieren, sehr schnell, was wir negativ betrachten, als Sekten daherkommen. Also Gruppen, die sehr überzeugt sind nach innen. Die haben allerdings auch einen Stacheldrahtzaun außen rum und sind gut bewaffnet. Eine Entwicklung nicht zum Liberalen, sondern eher zum Dogmatisch-Religiösen hin. Wenn ich so eine kleine religiöse Gemeinschaft dann habe – die überlebt dadurch, dass sie sich abgrenzt. Ich würde nicht sagen, dass das eine schwache Theologie ist. Es wird wahrscheinlich sogar eine sehr starke sein. Aber vielleicht eine doch stark vereinfachte.“

Wer künftig keine amerikanischen Verhältnisse in Deutschland haben wolle, müsse vor allem auf Bildung und Aufklärung setzen. Und dafür seien schon heute nicht mehr Kirchenräume entscheidend.

„Der Schlüssel ist guter Religionsunterricht“

Pickel: „Die Berührung zur Religion findet an zwei Stellen statt. Das ist in der Familie und das zweite ist im Religionsunterricht. Es lernt ja keiner in der Kirche Religion, um das mal ganz ehrlich zu sagen, sondern man lernt es an diesen beiden Stellen. Wenn die Eltern nicht religiös sind, dann werde ich keine Kirche von innen sehen. Und wenn ich nicht im Religionsunterricht die Basis des Wissens erfahre, dann weiß ich auch gar nicht, was dort getan wird.“

Der Schlüssel liegt für Pickel vor allem in einem guten Religionsunterricht. Wenn es künftig keine Großkirchen mehr geben sollte, werde es auch keine akademische Pfarrerausbildung mehr geben, sprich: Die Theologische Fakultät wäre ein Auslaufmodell. Was es aber weiterhin brauche: religionswissenschaftliche Institute zumindest für die Lehramtsausbildung. Auch wenn er die Gefahr sieht, dass künftig theologisches Wissen verloren geht, Pickel ist zuversichtlich, dass historisch-kritische Wissenschaft nicht zwangsläufig verloren gehen müsse.

„Theologische Fakultäten würden sich auflösen“

Pickel: „Die theologischen Fakultäten würden sich auflösen. Aber es wird so sein, dass Theologen und die Theologie als Wissenschaft in bestimmten Bereichen innerhalb der Geisteswissenschaften überleben würde, dass es Zuordnungen zu philosophischen Fakultäten oder so etwas gibt. Ob das dann aber für alle die Vorgabe ist, das ist ja eine andere Frage.“

Eine Verzwergung der Großkirchen müsse also nicht zum Ende der Theologie führen. Sie werde aber zu anderen Organisationsstrukturen führen: vor allem zu kleineren Vereinen. Und Ironie der religionssoziologischen Geschichte: Nicht die Großkirchen wären dann weiterhin Vorbild für andere Religionen, sondern umgekehrt würden sich Christen an den Vereinsstrukturen anderer orientieren müssen, meint Gert Pickel.

„Schauen wir uns zum Beispiel die Muslime in Deutschland an. Deren Organisationsform ist ja gemeinschaftsorientiert. Die haben verschiedenste Gemeinschaften um die Moscheen herum, aber die sind ja relativ singulär. Dort haben wir nicht die Kirche, die alles zusammenhält, sondern es sind viele Gemeinschaften“, so Pickel.

Gelegenheits-Strukturen und soziale Angebote

In Zukunft könnte es also vielfältige Formen von Gemeinschaft und Gemeinde geben. Von der christlichen Motorradgruppe bis zum Strickkreis, vom Singe-Club bis zum Kochkurs, Gelegenheits-Strukturen und soziale Angebote, die auch von Nicht-Gläubigen akzeptiert werden können.

Pickel: „Man könnte sagen, das könnte auch im Bürgerhaus sein. Aber man hat dort nicht das Flair der sozialen Vergemeinschaftung. Wir haben in Ost-Deutschland mehr Personen, die in Gruppen um Kirchen herum sind, als Mitglieder. Und das ist urchristlich, finde ich, dass man Sozialformen ermöglicht.“

Klar ist auf jeden Fall, dass die Kirchen an Macht und Einfluss verlieren werden. Die kleineren christlichen Vereine werden kaum die bisherigen Strukturen aufrechterhalten können.

„Um ein aufgeklärtes Christentum ist mir schon bang“

Pickel: „Jede dieser einzelnen Gemeinschaften würde gegenüber dem Staat kaum Durchsetzungskraft haben. Da gibt’s ein Grüppchen und da gibt’s ein Grüppchen. Da ist dann die obere Organisationsform doch ganz hilfreich.“

Pickel selbst kann sich daher so etwas wie einen EKD-Dachverband als politische Repräsentanz weiterhin vorstellen. Die Landeskirchen aber hält er für überholt. Und Theologe Martin Fritz glaubt schon an so etwas wie die Wirkmächtigkeit des Wortes Gottes oder eben des Heiligen Geistes. Auch in Zukunft werden die Deutschen Bibel lesen, beten oder christliche Lieder singen. Ob aber das theologische Niveau ohne Landeskirchen und akademisch ausgebildete Pfarrer zu halten sein wird, weiß er noch nicht.

Fritz: „Ich bin nicht besonders pessimistisch, was das Christentum angeht. Da rechne ich mit einer gewissen Selbstwirksamkeit des Wortes, mit einer gewissen grundlegenden Religiosität des Menschen, die im Christentum dann eine besonders schöne und wahre Form findet. Um das Christentum ist es mir nicht bang. Um ein aufgeklärtes Christentum ist mir schon bang.“

Kirche - wohin

Austherapiert. Plädoyer für eine palliative Ekklesiologie Holger Pyka


Aus Anlass der letzten Kirchenaustrittsstatistik

Disclaimer: Ich schreibe das hier nicht so gern. Vielleicht ist es deswegen auch so lang geworden. Ich bin Pfarrer der evangelischen Landeskirche, und ich bin das gern. Ich finde meine Kirche gut, auch, wenn mir das, was sie glaubt, meistens besser gefällt als das, was sie so macht. Die Meldungen zur Kirchenaustrittsstatistik wecken in mir Existenzängste, und dabei weiß ich, dass mich das alles nicht auch nur ansatzweise so schwer treffen würde wie abertausend andere. Aber ich bin eben auch überzeugt davon, dass Glauben heißt, realistisch zu leben. Dass meine Religion, mein Glaube, meine Theologie Antworten auf meine Fragen und Ängste haben. Und mein Blick auf das Leben ist maßgeblich von palliativer Arbeit geprägt worden, als Seelsorger und als Angehöriger. Daher der folgende Text. 


„Austherapiert“. Der Arzt schließt Herr Müllers Krankenakte. Frau Müller tastet nach der Hand ihres Mannes. Der murmelt das komische Wort vor sich hin. „Austherapiert.“ „Ja, was heißt das denn?“ fragt Frau Müller hilflos. Der Arzt putzt seine Brille etwas umständlich am Zipfel seines weißen Kittels ab. „Das heißt, dass unsere medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Wir können nichts tun, um Ihre Krankheit zu heilen oder auch nur ernsthaft zu verlangsamen.“ Dann sucht er Herr Müllers Blick. „Das heißt, dass Sie sterben werden.“ Frau Müller zuckt zusammen. Herr Müller nickt kaum merklich. „Wie lange habe ich noch?“ bringt er leise hervor. Der Arzt zuckt mit den Schultern, schüttelt den Kopf. Blättert noch einmal in der Krankenakte. „Nicht mehr lange“, sagt er.

Die Kirche[1] ist austherapiert. Sie wird sterben. Und nicht irgendwann in unbestimmter Zukunft, so wie alles irgendwann an ein Ende kommt, sondern in absehbarer Zeit. An was genau sie sterben wird, weiß man gar nicht so richtig. Sie ist schon länger krank, hat alle möglichen Wehwehchen und auch ernsthaftere Leiden und die eine oder andere Verletzung angesammelt, manche davon für sich genommen schon potenziell lebensbedrohlich. Viele hinzugerufene Expert*innen (in Deutschland ist die Kirche noch Privatpatientin) haben seit Jahrzehnten ihre jeweiligen Fachgebiete für entscheidend gehalten und entsprechende Therapien verordnet: Konservative („Die Kirche muss frömmer werden!“), invasive („Aus unternehmensberaterischer Sicht empfehlen wir…“) und alternative Methoden („Die Kirche muss bunter werden“). Fastenkuren („Die Kirche sollte weniger…“), Reproduktionsmedizin („Wir müssen die Familien stärken und mehr für die Taufe werben“), Aufstellungstherapie („Die Kirche müsste mehr in die politische Mitte!“), Logopädie („Wir müssen die Predigt verbessern“) und Krankengymnastik („Die Kirche muss beweglicher werden“). Frischluftkuren („Die Kirche muss raus zu den Menschen“) und alles Mögliche andere. Jetzt kommt auch noch Corona, das bekanntlich für Patient*innen mit Vorerkrankungen besonders gefährlich ist.[2]
Am Bett, das sich immer stärker als Sterbe-, denn als Krankenbett erweist, sitzen Angehörige und trauern auf die je eigene Art und Weise, wie Angehörige und Betroffene das eben tun. Manche wollen es immer noch nicht wahrhaben und googeln frenetisch nach noch einem Experten, nach noch einer Therapie, nach noch einer All-In-Lösung, die alles irgendwie wegzaubert. Andere sind schnell in die Wutphase gekommen und suchen vor allem „den“ Schuldigen. Kommen diese Menschen aus der Gemeinde, sind es „die da oben“ schuld, also Kirchenkreise, Landeskirchen oder EKD, die alles kaputt sparen. Kommen sie aus nicht-gemeindlichen Kontexten, sind es die Gemeinden Schuld, die viel zu stark auf sich selbst bezogen sind und die klugen Konzepte nicht umsetzen, die man ihnen vorlegt. Sind die Wütenden jünger, liegt es aus ihrer Sicht an den Alten, die den Karren in den Dreck gefahren haben. Und so weiter. Die Suche nach Schuldigen ist ein emotionaler Reflex, den man kaum vermeiden kann, weil wir Menschen nun einmal so ticken. Sie ist eher Ausdruck von nachvollziehbaren Gefühlen, keine ernsthafte Ursachenforschung. Eine solche bringt ohnehin wenig, denn es ändert ja nicht viel daran, dass man mit der gegenwärtigen Situation umgehen muss.[3]
„Aber Herr Doktor“, sagt Frau Müller mit tränenerstickter Stimme, „können Sie denn gar nichts mehr für meinen Mann tun?“ Der Arzt putzt sich noch einmal die Brille. Dann sagt er: „Unsere medizinische Kenntnis reicht nach heutigem Stand nicht aus, um die Krankheit Ihres Mannes zu heilen oder nennenswert zu verlangsamen.“ „Ich will auch nicht ewig am Tropf hängen“, wendet Herr Müller ein und erinnert an seine Patientenverfügung, die seiner Frau gerade herzlich egal ist. Der Arzt nickt. „Aber wir können all unser Wissen dafür einsetzen, dass die letzte Zeit so schmerzfrei, unkompliziert und würdevoll wie möglich gestaltet werden kann. Ich würde daher gern schnellstmöglich einen Termin mit unserem Palliativ-Team vereinbaren.“ Er reicht Herrn Müller eine Broschüre. Auf der zweiten Seite steht erklärend: „Die Palliativmedizin widmet sich der Behandlung und Begleitung von Patienten mit einer nicht heilbaren, progredienten und weit fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung sowie der Begleitung ihrer Angehörigen. Die Palliativmedizin bejaht das Leben und sieht das Sterben als einen natürlichen Prozess. Sie lehnt aktive Sterbehilfe ab.“[4]
Die Hinwendung zur Palliativmedizin markierte einen starken Richtungsumschwung in der Schulmedizin, die, etwas hemdsärmelig gesagt, vor allem auf Lebensverlängerung ausgerichtet war. Die früh Engagierten dieser Bewegung erkannten das Befreiende im Akzeptieren des Unvermeidlichen – was ihnen von Kolleg*innen nicht selten den Vorwurf einbrachte, sie würden ihren hippokratischen Eid verraten, obwohl klar war, dass es nicht um Sterbehilfe, sondern um Sterbebegleitung ging. Palliative Care bedeutet einen Abschied von menschlichen und medizinischen Allmachtsfantasien, sie rechnet mit dem Tod als unvermeidliche Konsequenz des Lebens und sieht die Aufgabe der Begleitung darin, nicht dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben zu geben. Deswegen arbeitet Palliative Care multiprofessionell: Die Ärztinnen bringen ihre Expertise dadurch ein, dass sie wirksame Schmerztherapien entwickeln, Pflegekräfte unterstützen durch eine Versorgung, die einen so angenehmen Aufenthalt wie möglich in der letzten Lebensphase gewährleistet, und Seelsorgende helfen Sterbenden dabei, loszulassen, ihre Dinge zu ordnen und in Frieden und Würde Abschied zu nehmen.

Die nächsten Wochen vergehen schnell. Herr Müller ist in einem hellen, freundlichen Einzelzimmer untergebracht. Überhaupt hätten sie sich die ganze Station, auf der er liegt, ganz anders vorgestellt. „Ich dachte immer, auf so einer Sterbestation muss es ganz traurig zugehen“, sagt Frau Müller beim Kaffeeholen zu einer der Schwestern. Die lacht. Und auch Herr und Frau Müller lachen zwischendurch. Und führen Gespräche, die anders sind als früher. „Ich bin so stolz auf dich, wie du das hier alles erträgst“, sagt sie eines Tages zu ihm. Er sieht sie lange an, mit blanken Augen. „Du hast mir noch nie gesagt, dass du stolz auf mich bist“, sagt er, und eine Träne kullert ihm über die Wange. Zusammen geweint, das haben sie noch nie gemacht. Das ist neu. Und es tut gut. Der Zustand von Herrn Müller verschlechtert sich rapide. Irgendwann kann er nicht mehr aufstehen, das Reden, das Wachbleiben, Dinge in der Hand zu halten, all das fällt zunehmend schwerer. Frau Müller bekommt von einer Schwester gezeigt, wie sie ihm den Mund mit nassen Wattestäbchen auswischen kann. So kommt er sogar noch an ein Bierchen. Er lächelt sie an, und es kostet ihn unendlich viel Kraft. – Der Tag, an dem Herr Müller stirbt, ist ein sonniger. Lange bleibt sie an seinem Sterbebett sitzen, denkt an Schönes und Schroffes zurück. Am Abend sagt sie ihrer Schwägerin am Telefon: „Ich weiß gar nicht, was ich machen soll…“ Sie sucht nach Worten. „Wie soll das Leben ohne meinen Harry gehen? Aber… diese letzte Zeit, die war…“ sie senkt die Stimme und flüstert: „Irgendwie auch schön. Die hat uns nochmal näher zusammengebracht.“ Beide weinen ein bisschen am Telefon, dann ruft Frau Müller den Bestatter an.

Unsortiertere Gedanken zu einer palliativen Ekklesiologie

-        Palliative Ekklesiologie meint eine Lehre von der Kirche, die nicht nur mit dem Abbau einzelner Gemeinden, sondern auch mit dem Ende der Kirche in der uns bekannten Form rechnet. Es gibt ohnehin keine biblisch fundierte Lehre von einer ewigen Kirche[5], geschweige denn in einer bestimmten Organisationsform. Wie die frühen Palliativpioniere werden auch ihre Vertreter*innen sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass sie ihren Auftrag verraten. Das ist durchzustehen, denn auch hier sind unvermeidliche und notwendige Emotionen am Werk, und auch hier geht es darum, Allmachtsfantasien[6] aufzugeben.


-        Palliative Ekklesiologie entlastet dadurch von der unweigerlich zum Verzweifeln führenden Suche nach dem Heiligen Gral in Form eines einzelnen Rezepts, durch das alles wieder gut wird. Sie gesteht sich die Unumkehrbarkeit der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ein und befreit so zu einem Blick auf ein neues Ziel: Das Ende würdevoll zu gestalten. 

-        Palliative Ekklesiologie stellt die unbedingte Würde des Sterbenden in den Mittelpunkt. Die Suche nach der individuellen Schuld des Sterbenden an seinem Schicksal hat in diesem Bestreben keinen Platz, weil sie entwürdigend und irreführend ist: Das Sterben ist die unvermeidliche Konsequenz des Lebens. Palliative Ekklesiologie ist daher realistischer und vor allem gnädiger als alle kybernetischen Modelle, die einseitig auf Wachstum, Innovation oder zumindest Besitzstandswahrung abzielen.



-        Palliative Ekklesiologie bejaht das Leben, das heißt: Sie leistet keine Sterbehilfe. Sie ermöglicht es, funktionierende Teilsysteme zu erhalten und zu fördern – einzelne Gemeinden, einzelner Regionen können aufgrund ihrer Nachhaltigkeit auch den volkskirchlichen Systemkollaps überleben und in anderer juristischer Form weiterbestehen. Es gibt keinen Grund und keine ethische Grundlage dafür, in solchen Fällen alle Stecker zu ziehen und die Geräte abzuschalten. Zugleich schärft sie den Blick dafür, dass Maßnahmen, die auf eine rein quantitative Lebensverlängerung abzielen, nicht die einzige und vor allem nicht die wünschenswerteste Lösung darstellen.



-        Palliative Ekklesiologie weiß um die ungeheure emotionale Intensität, die eine bewusst gestaltete letzte Lebensphase haben kann. In der bullshitfreien Zone rund um das nicht mehr länger verleugnete Lebensende wird Raum frei für Aufarbeitung, für das Benennen persönlicher Schuld und für Vergebung, für das Ordnen der Dinge, für manchmal völlig neue Formen der Nähe. Es klingt paradox, aber: Die letzte Zeit ist von Trauer und Abschied durchfurcht, aber sie kann auch wunderschöne und intensive Momente bereithalten, die die Sicht der Überlebenden auf das Leben für immer verändern.



-        Palliative Ekklesiologie braucht wie Palliative Care multiprofessionelle Perspektiven. Sie kann Erkenntnisse und Kompetenzen aus der freien Wirtschaft aufnehmen (Exnovation, Change Management), Ansätze und Methoden aus Therapie und Beratung (Trauerbegleitung, Ritualforschung) integrieren und braucht einen verlässlichen ethischen Kompass, um an der äußersten Grenze verantwortungsvoll navigieren zu können. 

-        Palliative Ekklesiologie kann die öffentliche Relevanz von Theologie, Spiritualität und christlichem Glauben deutlich machen, indem sie Vorbild ist für den würdevollen Abbau anderer verdienter und traditionsreicher Institutionen, die ihr Lebensende erreicht haben. Dieses Potenzial hat allerdings deutliche Grenzen, denn:



-        Palliative Ekklesiologie zieht ihre Motivation und ihre Begründung ultimativ aus dem Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Christus ist gestern und heute und auch in Ewigkeit derselbe. Dadurch verliert der Wandel der kirchlichen Organisationsformen trotz aller Trauer seinen Schrecken. Schuldlosigkeit ist nicht durch ein sündenfreies Leben, sondern nur durch Gottes Versöhnungsangebot zu haben. Daher braucht es keine Illusion, irgendeine Organisationsform der Kirche könnte oder müsste jemals perfekt sein. Das öffnet sogar gedankliche Räume, die zum „fröhlichen Sündigen“ (M. Luther), zumindest zum wilden Experimentieren einladen. Christus ist nach seinem Tod auferstanden, und er zieht alle mit sich. Palliative Ekklesiologie kann damit rechnen, dass Gott nach Abschied, Sterben und Tod Neues schafft. Und dass das Zweite erst nach dem Ersten kommen kann. Ohne freien Fall keine Erfahrung: Ich bin getragen. Ohne Umkehr keine neuen Perspektiven. Ohne Sterben keine Auferstehung.


[1] Gemeint ist hier wie im Übrigen nicht die Kirche als theologische und damit zumindest in Teilen theoretische Größe, sondern der in Deutschland volkskirchlich verfasste Mainstream-Protestantismus.
[2] Aber schon vorher dürfte klar geworden sein: Keine dieser Therapievorschläge wird die Volkskirche in entscheidender Breite retten. Einzelne Gemeinden werden sicherlich von temporären Aufbrüchen profitieren können, aber aufs Ganze gesehen sind das Erfolge bei der Symptombehandlung.[2] Es ist rein rechnerisch nicht möglich. In Formulierungen ausgedrückt, die derzeit in aller Munde ist: Um eine Volkskirche bundesdeutscher Dimension mitgliedermäßig bloß stabil zu halten, müssen a) die Geburten die Todesfälle ausgleichen (was sie nicht tun). Und selbst, wenn das der Fall wäre, müsste b) der Reproduktionsfaktor bei 1.0 liegen. Das hieße zum Beispiel, wenn man keine Nicht-Mitglieder von außen anwirbt (was die Kirche nicht tut), dass ein evangelisches Elternpaar ihre Kirchenbindung an zwei Kinder weitergeben muss, und zwar dauerhaft. Da schon die erste Bedingung nicht zutrifft, ändert die zweite, so sie denn gegeben wäre, auch nichts am Abwärtstrend, und der ist so gewaltig, dass keine Erweckungsbewegung in einer historisch bekannten Größe das ausgleichen könnte.
[3] Ein kleiner Exkurs: Oft fordern Gemeinden (und hier oft Pfarrer*innen) mehr Personal, vor allem mehr Pfarrer*innen. Viele fürchten sich vor der Unüberschaubarkeit von Gemeindegrößen, die mit einer Pfarrstelle pro dreitausend (oder, auf den Inseln der Seligen, zweitausend) Mitgliedern rechnen. Hintergrund ist die Annahme, dass mehr Pfarrer*innen mehr Kontaktfläche zur Kirche bieten und sich dadurch die Kirchenbindung verbessert. Es gibt aber gute Gründe dafür, dass die Annahme falsch ist. Erstens ist die Arbeit dadurch nicht zwingend gemeindeorientierter (wer mit einem Orgel-Agende-alte Leute-Sonntagsmorgengottesdienst nichts anfangen kann, dem ist es egal, ob er sich „seine“ Pfarrperson mit 1000, 2000 oder 3000 anderen teilt. Zweitens sind Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nicht ganz so einfach. Wer sich entscheidet, sein Kind nicht taufen zu lassen, tut das ja nicht, weil er oder sie keinen Termin mit der Pfarrperson bekommt (zumindest die allermeisten nicht), sondern weil sich nicht erschließt, wozu das gut sein sollte. Drittens zeigt die Historie, dass die Entwicklung der Pfarstellensituation alles andere als singulär ist: In Preußen waren um die vorletzte Jahrhundertwende Pfarrer durchschnittlich für rund 2.500 Gemeindeglieder zuständig. Das sind absolute Durchschnittswerte mit deutlichen Ausreißern nach oben und unten, beschreiben aber trotzdem eine Situation, die unserer nicht unähnlich ist. Und: Dort, wo Pfarrer nur für rund 700 Menschen zuständig waren, haben sie pro Jahr proportional genauso viele Konfirmationen wie ihre Kollegen mit dreitausend oder mehr Gemeindegliedern. Und das sind ziemlich wenige, wenn man bedenkt, dass die Taufquote durchgehend bei 93–99% liegt. – Das sind jetzt etwas aus der Hüfte geschossene Schlussfolgerungen, aber die Zahlen sind verlässlich und nachzulesen bei Oliver Janz, Bürger besonderer Art. Evangelische Pfarrer in Preußen 1850–1914 (VhHKB 87), Berlin u. a. 1994, 509ff.
[5] Diesen Irrtum lutherischer, katholischer und orthodoxer Ekklesiologie hat Karl Barth korrigiert, vgl. Christengemeinde und Bürgergemeinde, in: Ders., Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde, Zürich ²1979 (Theologische Studien 104), 53.
[6] Selbst bei Gemeindegrößen von 500 Mitgliedern pro Pfarrperson ist es eine Illusion, diese könnte mit allen Mitgliedern persönlichen Kontakt pflegen, geschweige denn einen emotional und theologisch-geistlich gehaltvollen.