Mittwoch, 19. Oktober 2016

Was ist Religion - Philosophischer Essay

Was ist Religion – Eine vorläufige philosophische Betrachtung

In der folgenden Betrachtung wird die Frage nach dem Wesen der Religion gestellt. Ich

frage: „Was ist Religion?“ und versuche begrifflich zu erfassen, was in lebendigen

Zeugnissen und Bekenntnissen als Religion sichtbar ist. Dabei wird eines sogleich deut-

lich, nämlich, daß man diese Frage nicht beantworten kann, wenn man nicht eine

ungefähre Ahnung von dem hat, was man unter Religion verstehen will, denn sonst

könnte man die geschichtlich gegebenen Phänomene nicht finden, welche die

Grundlage der Definition bilden sollen. Wir müssen also wissen, es handelt sich um

bestimmte Erscheinungen, die irgendwie mit einer überirdischen Wirklichkeit zu tun

haben. Diese ganz allgemeine Feststellung muß getroffen werden, ehe wir auf die

Suche gehen nach Phänomenen, welche in diesen Bereich fallen, um von ihnen

hernach ihr Wesen auszusagen.

Ich frage also: Was ist die Lebensmitte der religiösen Bekenntnisse, was ist Religion?

Ich glaube, daß man das innerste Wesen dessen erfaßt, was in Worten sich bekundet,

wenn man sagt:

Religion ist erlebnishafte Begegnung des Menschen mit dem Heiligen und antwortendes

Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen.

Ich werde diese Definition im einzelnen erläutern und vertiefen. Aber zunächst schon ist

sichtbar, dass mit dieser Rahmendefinition ausgeschlossen ist eine Mißdeutung der

Religion in bestimmten, immer wiederkehrenden Richtungen, nämlich einerseits ist völlig

ausgeschlossen, Religion als eine Art vorwissenschaftlicher Welterklärung anzusehen,

und auf der anderen Seite kann man Religion auch nicht als eine theologisch-

sanktionierte Moral definieren. Beides ist geschehen und geschieht auch weiterhin,

obwohl bereits Schleiermacher gegen diese beiden Mißdeutungen der Religion in

seinen berühmten „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“

1799 Front gemacht hatte. Gehen wir also im einzelnen die vorangestellte Definition

durch und analysieren wir die Elemente, die in dieser Rahmendefinition,

bewußtermaßen formal zunächst, gegeben sind, dann zeigt sich folgendes: zunächst

einmal Begegnung, erlebnishafte Begegnung mit heiligen Mächten. Das bedeutet also,

daß der Ort der Begegnung und die Art der Begegnung festliegen. Erlebnishafte

Begegnung soll es sein, und das Objekt der Begegnung sind heilige Mächte. Es handelt

sich also um Erfahrung, um lebendige Erfahrung, die im Innern des menschlichen

Subjektes vor sich geht. Und diese Begegnung geschieht in der weiten Welt irdischer

Erscheinungen.

Das erste und allgemeinste Objekt der Begegnung mit dem Heiligen ist die den

Menschen umgebende Natur.

Dass Naturgegenstände wie Berge und Bäume, Wasser und Feuer, Steine und Erde

und so weiter Erscheinungsformen numinoser Macht und numinoser Mächte sein

können beziehungsweise als solche erlebt werden, ist eine weitverbreitete Anschauung,

zumal in den Frühformen der Religion. Wir müssen indessen das Objektgebiet, das wir

hier im Auge haben, über die naturalen Einzelerscheinungen hinaus erweitern und auf

die gesamte außermenschliche Welt und ihre Ordnungen ausdehnen; denn im Ablauf

kosmischen Geschehens und irdischer Geschichte wittert der Mensch als Ursache

heilige, hintergründige Mächte persönlicher oder unpersönlicher Art.

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Unter den Medien bzw. Objekten der religiösen Begegnung nimmt weiterhin das heilige

Wort eine besondere Stelle ein. Es begegnet uns in mannigfachen Formen, als

Schöpfungswort, als Wort prophetischer Verkündigung, als metaphysische Realität, als

Wort der Religionsstifter. Hervorragendes Wort-Medium ist ferner die heilige Schrift. In

allen Religionen, in denen es heilige Schriften gibt, besteht Einmütigkeit darin, dass an

einen wie immer im einzelnen vorgestellten göttlichen Ursprung dieser Schriften

geglaubt wird.

Ein weites Gebiet innerweltlichen Lebens, auf das sich die religiöse Erfahrung der

Menschheit seit frühen Tagen richtet, ist das individuelle Schicksal. Das deutsche Wort

Schicksal deutet ja selbst bereits an, daß das den Menschen betreffende Geschehen

hinsichtlich seines Ursprungs eine Deutung erfährt. Das Ereignis als solches ist nicht

ohne weiteres Schicksal bzw. als solches im eigentlichen Sinne erkennbar. Schicksal

kommt von „schicken“. Nennt man einen Vorgang Schicksal, dann sagt man damit, daß

man es als „geschickt“ von einer Schicksalsmacht ansieht.

Alle diese vordergründigen Bezirke des Lebens sind der Ansatzpunkt der Begegnung

mit dem Heiligen, das darinnen sich bekundet. Und so ist die eigentliche Frage also die:

was ist das „Heilige“, dem in diesen Eindrücken und sinnlichen Erfahrungen begegnet

wird?

Ich beziehe mich hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung dessen, was das Heilige ist,

auf das Buch von Rudolf Otto „Das Heilige“, das 1917 in erster Auflage erschienen ist. In

diesem Buch wird die Frage gestellt, worin das eigentümliche Wesen des religiösen

Objektes, also eben des Heiligen liegt. Diese Frage aber wird nicht beantwortet, indem

spekulativ irgendwelche Theorien über Gott und Jenseits aufgestellt werden, sondern

indem, gerade von der Erkenntnis aus, daß man das Heilige nicht in wissenschaftlicher

Erkenntnis direkt erfassen kann, der Umweg über den Menschen genommen wird. Die

Frage ist also: was meinen religiöse Menschen in aller Welt und in allen Religionen,

wenn sie bekunden, daß sie vom Heiligen ergriffen seien, wenn sie in Texten bezeugen,

irgendwo und irgendwie dem Heiligen begegnet zu sein? Was finden sie bei sich selber

für eine Bestimmtheit vor, die ja feststellbar ist, eine Bestimmtheit, deren

entsprechender bestimmender Gegenpol eben das Heilige ist, das nicht in unmittelbarer

wissenschaftlicher Erkenntnis zugänglich ist. Darauf antwortet Rudolf Otto: das Heilige

ist das „Numinose“, und zwar das Numinose, das nun eben nicht mit den Begriffen des

Rationalen und vor allem des Moralischen identisch ist, sondern die Reaktion auf das

Heilige, durch die wir das irrationale Heilige umschreiben, ist eine eigentümliche

Gemütsbestimmtheit. Und eben dieses Heilige minus seines sittlichen Gehaltes nennt

Otto das Numinose. Dieses Numinose aber erscheint als das ganz andere, als das

Überweltliche, das Unirdische. Diese Ausdrücke, die aus dem Bereich des Räumlichen

genommen sind, sind aber eben nicht räumlich gemeint, sondern sind Qualitätsbegriffe,

welche eine Modalität des Seins, eine Modalität der numinosen Wirklichkeit aussagen.

Das Numinose ist nicht grundsätzlich das Außerweltliche, es vermag ja eben

auch innerhalb dieser Welt erfahren zu werden. Aber es ist grundsätzlich anders als

alles Weltliche, es ist ein Etwas, das sich aller Vergleichbarkeit entzieht und das nicht

einzuordnen ist in die bekannten irdischen Kategorien. Wie wir schon sagten: der

Erscheinungsbereich dieses Numinosen ist das natürliche Sein, ein Stück Welt, an dem

Überweltliches, Unweltliches erfahren wird. Will man noch näher die Erfahrung des

Heiligen, von der Seite des Subjektes her definieren, dann bedient man sich der von

Otto dafür geprägten Begriffe.

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Zunächst einmal ist es das Mysterium tremendum. Dieses Heilige wirkt auf den

Menschen, indem es ihn erhebt, aber zugleich erdrückt, indem es Zittern in ihm erregt

und ein Gefühl des Befremdetseins. Es ist der heilige Gott, der ferne und unnahbare,

der geheimnisvolle Gott. Alle diese Bildbegriffe wollen auf dieses eine erste

grundlegende Moment in der Erfahrung des Heiligen hinweisen, nämlich auf das

Abdrängende, das Befremdende, das den Menschen in seiner Geschöpflichkeit erzittern

Machende.

Daneben steht in merkwürdiger Kontrastharmonie ein zweites, das R. Otto das

„Fascinans“ nennt, das Anziehende, das Beglückende, die Erfahrung des ewig

begehrenswerten Guten.

Auch dieser Wert, dieses Beseligende und Beglückende, ist unvergleichbar. Es ist ein

absoluter Selbstwert, kein dienender Wert. Es ist das absolut Beglückende. Alle diese

Begriffe, wie gesagt, deuten an, aber sie erschöpfen nicht.

Ein Drittes kommt hinzu, das Otto das „Augustum“ nennt. Damit meint er nun wiederum

eine Qualität des Heiligen, die er umschreibt durch die Reaktion des Menschen auf sie,

nämlich als Abwertung der Modalität des empirischen Seins.

Es bedeutet die Abwertung der gesamten irdischen Existenz des Menschen als eines

Wesens in einer ungöttlichen, unheiligen Wirklichkeit. Und eben den entsprechenden

Wert innerhalb der Welt des Heiligen nennt Otto das Augustum, das Erhabene. Wir

müssen schon hier, ehe wir später von den Gottesvorstellungen reden, uns klar darüber

sein, daß das Heilige sowohl als neutrales und impersonales als auch als persönliches

göttliches Wesen erfahren und vorgestellt werden kann. Aber alle später zu erörternden

Auffassungsweisen des Göttlichen haben das gemeinsam, daß sie alle sich auf eine

Wirklichkeit beziehen, die die Qualitäten des Heiligen hat.

Wenn wir also gesagt haben, daß Religion einerseits Begegnung des Menschen mit

dem Heiligen ist, so steht auf der anderen Seite die Reaktion: antwortendes Handeln

des vom Heiligen bestimmten Menschen. In dieser zweiten Seite der Definition ist die

Reaktion des Menschen ausgesprochen, die zum Wesen der Religion unbedingt

dazugehört.Religion ist eben nicht nur Gefühl, nicht nur Erlebnis, sondern auch Antwort

auf dieses Erlebnis und diese Antwort im weitesten Sinne verstanden. Es bedeutet, daß

der Mensch, der hier jetzt handelt, in den verschiedenen Bezirken möglichen Handelns,

vom Heiligen bestimmt ist. Insofern ist damit gesagt, daß Religion entscheidend eine

Lebensform ist und nicht etwa eine Denkform oder eine spekulative phantastische

Vorstellungsform. Alles das ist Religion eben nicht, sondern sie ist eine Lebensform, die

sich aus diesen Elementen zusammensetzt.

Antwortendes Handeln aber ist eine bewußt formale und umfassende Bezeichnung.

Denn selbstverständlich ist antwortendes Handeln auf vielen Gebieten möglich. Es

gehört hierher schon die Antwort, die im Mythos, der religiösen Frühsprache der

Menschheit, gegeben ist. Schon der Mythos ist eine Antwort und das Gebetswort ist

selbstverständlich Antwort im gleichen Sinne.

Hierher gehört der weite Bereich des Kultus, der selbstverständlich ebenso ein Handeln,

und zwar ein antwortendes Handeln ist. Es gehört weiter hierher die Welt des Sittlichen

und der religiösen Kunst, natürlich auch alle theologischen und rationalen Versuche

begrifflicher Selbstklärung dieser Erfahrung. Alles das gehört in den Bereich des

antwortenden Handelns und alles das gehört, mit dem Moment der Begegnung mit dem

Heiligen zusammen, zum Wesen der Religion.

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Nachdem ich so das Wesen der Religion begrifflich umschrieben habe, will ich das

Gesagte dadurch noch weiter verdeutlichen, daß ich uns in Kürze mit mancherlei

Theorien auseinandersetze, die den Ursprung der Religion erklären sollen. Dabei wird

sich zeigen, daß die meisten dieser Ursprungstheorien zum ständigen Rüstzeug aller

durch die Zeiten sich ziemlich gleich bleibenden Angriffe auf die Möglichkeit von

Religion innerhalb der modernen Welt und ihres Weltbildes gehören. Zugleich aber läßt

sich zeigen, daß diese Theorien eine Auffassung vom Wesen der Religion

voraussetzen, die religionswissenschaftlich als überwunden gelten muß.

Da ist zunächst die soziologisch positivistische These zu berücksichtigen, welche

besagt: Religion ist aus sozialem Elend entsprungen, indem verelendete Schichten zum

Trost für irdisches Ungemach sich ein seliges Jenseits erträumten, in dem alle Wünsche

erfüllt sind, die ihnen hier ewig versagt bleiben. Die führenden Schichten haben diesen

illusionären Glauben bewußt gepflegt, um die Geführten ihr soziales Elend vergessen zu

machen. Die Verbesserung der irdisch-wirtschaftlichen Verhältnisse wird daher die

Religion in wachsendem Maße aufheben. Diese Theorie ist schon von der

Religionsgeschichte her zu widerlegen, denn manche Religionist geradezu inmitten von

Glanz und Reichtum entstanden. Die erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen ist in

den verschiedenen Bereichen des Lebens möglich, und wenn beobachtet wurde, daß

manche Religion wie zum Beispiel das Christentum unter Mühseligen und Beladenen

entsprang und gedieh, dann bedeutet das durchaus nicht, daß Armut die Wurzel der

Religion ist, sondern, daß die Begegnung mit dem Heiligen denen leichter möglich ist,

deren Inneres, aus Mangel an irdischen Gütern, nicht durch diese Welt absorbiert ist,

sondern offen ist für die überirdische Welt. Eben deshalb pries Jesus die Armen selig,

und nicht weil er Armut selbst für einen Wert hielt.

Immer wieder begegnet uns ferner die Erklärung der Religion aus primitivem

Erkenntnistrieb. Religion wäre dann vorwissenschaftliche Welterklärung, deren

Ergebnisse durch die spätere, heutige exakte Naturwissenschaft in wachsendem Maße

widerlegt werden. Die Möglichkeit von Religion würde daher mit fortschreitender

Erkenntnis aufgehoben werden, da ihre Wahrheit sich als Irrtum herausstellt. Bei diesem

Versuch, Religion zu erklären und gleichzeitig zu bekämpfen, zeigt sich besonders

deutlich, daß dabei von einem falschen Verständnis lebendiger Religion ausgegangen

wird, Der Sinn religiöser Aussage über Gott und Welt liegt nicht im Rationalen. Religiöse

Aussagen sind nicht aus Erkenntnistrieb entstanden, sie sagen vielmehr religiöse

Begegnung mit dem Heiligen aus, zum Beispiel im Mythos, dessen für uns schwer

nachvollziehbare Phantastik nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß ein Mythos echte

Wirklichkeitserfassung enthält und darstellt. Ausgesprochen wird sie in anschaulichen

Vorstellungsformen, die dem Weltbild des Frühzeitmenschen gemäß waren. Die im

Mythos wie in allen anderen religiösen Ausdrucksformen gegebene Erfassung

numinoser Wirklichkeit ist das zeitlos Gültige darin, die Wahrheit, die von keiner das

Weltbild korrigierenden Wissenschaft widerlegt werden kann.

An dieser Stelle darf ein Wort über den Begriff der Wahrheit in der Religion gesagt

werden. Wahrheit kann man verstehen als Richtigkeit einer Aussage über einen

objektiven Sachverhalt. Eine solche Aussage ist richtig, wenn ihr rationaler Inhalt mit

dem Sachverhalt übereinstimmt. Man kann aber unter Wahrheit auch die objektive

Wirklichkeit verstehen, wenn man etwa sagt, man habe die Wahrheit erkannt. In diesem

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doppelten Sinne begegnet uns nun auch in der Religion der Begriff der Wahrheit. Die

göttliche Wirklichkeit wird in religiösen Texten nicht selten als Wahrheit bezeichnet.

Hier ist Wahrheit nicht die Richtigkeit von Aussagen, sondern die göttliche Wirklichkeit

selbst. Die andere, zuerst genannte Anwendung des Begriffes Wahrheit im Sinne von

Richtigkeit kann in der Religionswelt legitim und illegitim sein. Legitim ist sie dann, wenn

man damit die in jeder Glaubenserfahrung gegebene religiöse Erkenntnis meint, auf die

ja die Begriffe richtig und falsch anwendbar sind. Man muß sich aber bewußt sein, daß

diese Art der religiösen Erkenntnis nicht mit rational-wissenschaftlicher Erkenntnis

identisch ist, so daß nicht einfach der ra= tionale Inhalt der Glaubensaussage „wahr“ im

Sinne von richtig sein kann, sondern wahr ist eine solche Aussage, wenn mit ihr, das

heißt in ihrem symbolischen Begriff religiöse Wirklichkeit erfaßbar ist. Illegitim aber ist

der Begriff Wahrheit als Richtigkeit in der Religion, wenn man die religiöse Aussage als

rationale Erkenntnisaussage auffaßt und mit wissenschaftlicher Erkenntnis gleichsetzt.

Hier setzt dann die berechtigte Kritik rationaler Wissenschaft ein und es entsteht der

Konflikt von Glauben und Wissen, der in lebendiger Religion nicht möglich ist. In dieser

Auffassung religiöser Wahrheit als rationaler Richtigkeit wurzelt die intolerante

Verfolgung fremder religiöser Meinung.

Bis in die Antike reicht der Versuch zurück, Religion als menschliche Erfindung zur

moralischen Lenkung der den Gesetzen des Staates widerstrebenden Menschen zu

erklären. Auch diese Theorie ist eindeutig falsch, denn die Religionsgeschichte beweist,

daß die Gottheiten der Frühzeit gerade keine moralischen Qualitäten haben und auch

nicht notwendig moralische Richter sind über das Tun der Menschen.

Immer wieder begegnet bis in die Gegenwart der Gedanke, die Gottesvorstellungen

seien phantasievolle Personifizierungen der Naturgewalten, denen sich der Mensch

hilflos ausgeliefert fühle. Man begründet diese These durch den Hinweis auf die vielen

Götter, die, wie der Gott des Gewitters, des Regens, der Fruchtbarkeit usw., eindeutig

Naturvorgänge zu ihrem Funktionsbereich haben. Die Naturbeziehung vieler Gottheiten

der Religionsgeschichte ist selbstverständlich nicht zu leugnen, sie bedeutet aber nicht,

daß Gottheiten aus Personifikation von Naturkräften entstanden seien. Die Gottheiten

werden ja auch nicht mit der Natur und ihren Kräften identifiziert, wohl aber, und das

bestätigt unsere Definition des Wesens der Religion, begegnet der Mensch in den

Naturvorgängen, zumal in den ihn erschütternden, dem Heiligen. Der Sonnengott ist

daher nicht die Sonne, aber die Sonne freilich ist sein Symbol. Durch eine

phantasievolle Personifizierung der Naturkräfte entständen übrigens auch niemals

heilige Götter, sondern bestenfalls gesteigerte Menschengestalten, denen das

Wesentliche am Gotteswesen fehlte, das Moment des Heiligen, und heilig sind alle

Gottheiten der Religionsgeschichte.

Feuerbach hat die Behauptung aufgestellt, die ihm vielfach nachgesprochen wurde,

„Götter sind die in göttliche Wesen verwandelten Wünsche der Menschen“. So ist es

nach seiner Ansicht vor allem der Selbsterhaltungstrieb, der angesichts des Todes das

Jenseits erfand.

Auch diese These ist schon von der Religionsgeschichte her als falsch erwiesen, denn

es gibt viele Religionen, die gar nicht an einer persönlichen Unsterblichkeit interessiert

sind und die gerade den natürlichen Selbstbehauptungstrieb des Menschen bekämpfen.

Religion ist dann also gerade nicht aus elementaren Wünschen des Menschen und aus

seinen Bedürfnissen entstanden, sondern sogar gegen seine natürlichen Triebe.

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Es ist auch unmöglich, Religion aus der Furcht abzuleiten, wie es ebenfalls bereits in der

Antike geschah. Daß Dämonenfurcht, zumal im Bereich der Naturreligion, eine wichtige

Rolle spielt, ist sicher. Aber man verwechselt Ursache und Wirkung, wenn man erklärt,

aus der Furcht sei Religion entsprun= gen, denn ehe man sich fürchtet, muß man

Wesen begegnet sein, die zu fürchten sind. Die Dämonen sind früher als die

Dämonenfurcht, man kann jene nicht aus dieser ableiten. Religion ist eben primär

Begegnung mit dem Heiligen.

Religion ist auch nicht aus dem Wunder entstanden, sofern man Wunder unrichtig

definiert als Durchbrechung des natürlichen Kausalzusammenhanges, denn in der

Frühzeit kannte man kein Naturgesetz, das durch wunderhafte Ereignisse hätte

durchbrochen werden können. Man kannte nur den gewohnten Ablauf der

Naturvorgänge. Das Ungewöhnliche, aber darum nicht naturgesetzlich Unmögliche, war

für den naiven Menschen die bevorzugte Offenbarungsform der Gottheit. Darum setzt

die Erfahrung des Wunderbaren den religiösen Glauben voraus, sie begründet ihn aber

nicht.

Der Glaube ist das Kind des Wunders. Auch das ist oft genug behauptet worden, daß

nämlich der Glaube aus den angeblich geschehenen Wundern erwächst und durch sie

begründet wird. Dazu ist ein Doppeltes anzumerken, einerseits schafft der Glaube

Wunder in dem Sinne, daß Wundererzählungen als Glaubensaussagen erdichtet

werden. Andererseits - und das ist der tiefere Sinn - sieht nur der Glaube Wunder auch

in Ereignissen, die an sich durchaus natürlich sind. Dem religiös nicht

Vernehmungsfähigen genügt die vordergründige Welt, sie gibt ihm keine Hinweise auf

numinose Mächte in und hinter den sichtbaren Erscheinungen. Es geht im religiösen

Wunder gar nicht um die Erklärbarkeit oder Unerklärbarkeit des beobachteten Vorgangs,

sondern darum, daß Menschen durch solche ungewöhnlichen (aber darum

naturgesetzlich nicht unmöglichen) Ereignisse zum religiösen Staunen, zum Sich-

Wundern veranlasst werden.

Was ist Religion?

Erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen

bestimmten Menschen. Sie entspringt weder aus rationaler Naturerklärung noch aus

menschlicher Phantasie, sondern aus echter Erfahrung einer heiligen Wirklichkeit, in der

menschliche Existenz verankert sein muß, wenn sie ganze, heile, also im Heil sich

vollziehende Existenz sein soll. Um dieses Heil kreist alle Religion, sei es, daß das

gegebene Heil bewahrt werden soll wie in den frühen Volksreligionen, sei es, daß es

erst gewonnen werden muss wie in den späten universalen Erlösungsreligionen.

Heinz Hübner, August 2016

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Mittwoch, 12. Oktober 2016

Gott und die Welt

Philosophicum Lech 2016

22.09.2016

Gott und die Welt

von Konrad Paul Liessmann

Eine Redewendung und was sie, zumal in unruhiger Zeit, besagen könnte – einige philosophische Überlegungen.

Wer ankündigt, über Gott und die Welt zu sprechen, darf mit einem wissenden Lächeln rechnen. Über Gott und die Welt – das ist eine Redensart, die fröhliche Unbekümmertheit ebenso signalisiert wie eine unverbindliche Beliebigkeit, die es sich erlauben kann, über alles Mögliche zu räsonieren, ohne thematische Fixierung, ohne gedankliche Verbindlichkeit, ohne Ergebnisorientierung. Gleichzeitig schwingt in diesen Bestimmungen ein Moment von Freiheit mit: reden können, ohne sich auf etwas festlegen zu müssen, vom einen zum anderen springend, dieses und auch jenes streifend, ohne jeden Anspruch auf schlüssige Argumentation oder angestrengte Überzeugungsarbeit.

Wer über Gott und die Welt spricht, löst keine Probleme, entschärft keine Konflikte und beugt sich nicht den Vorgaben der herrschenden Diskurse. Über Gott und die Welt zu reden, könnte als anarchische Gesprächsform gewertet werden, die quer steht zu den Ansprüchen, die an eine zeitgemässe Kommunikationskompetenz gerichtet werden. Allerdings: Ganz so beliebig ist die Rede über Gott und die Welt dann doch wieder nicht. Es handelt sich dabei weder um Smalltalk noch um jenen Tratsch, der Gerüchte über alles und jeden verbreitet. Wer über Gott und die Welt spricht, nimmt sich die Freiheit, auch einmal über jene grossen Fragen zu sprechen, deren Erörterung entweder als wenig zielführend oder als unpassend empfunden wird. Wer über Gott und die Welt spricht, spricht manchmal buchstäblich über alles und nichts.

Bipolares Denken

Hinter der Wendung «Gott und Welt» verbirgt sich allerdings eine der präzisesten Formeln der europäischen Geistesgeschichte. Mit diesen Begriffen wurde eine Wirklichkeitskonzeption auf den Punkt gebracht, die eine fundamentale Bipolarität zu ihrer Voraussetzung erklärt. In verschiedenen Begriffspaaren mit je unterschiedlichen Bedeutungsnuancen schwingt diese Dichotomie mit. Begriffe und Konzepte, die an Gott anschliessen, wie das Heilige, die Transzendenz, das Unendliche und Unsterbliche, ja das Geistliche und der Glaube, stehen in Kontrast und Konkurrenz zum Profanen, zur Immanenz, zum Endlichen und zur Sterblichkeit, letztlich zum Weltlichen und zu seiner Vernunft.

Brisant wird die Rede über Gott und Welt deshalb, weil diese Sphären einander nicht distanziert gegenüberstehen, sondern einander berühren, durchdringen, in Konflikt miteinander geraten und als Konkurrenten im Kampf um die Seele des Menschen auftreten. Die Welt war lange ein Synonym für die Verlockungen des Schmutzigen und Bösen, sich der Welt hingeben, der Welt verfallen, der Welt unterwerfen bedeutet immer, sich von einem Glanz blenden zu lassen, hinter dem ein Verhängnis lauert. Die Welt war der Ort der Eitelkeiten und des falschen, unglücklichen Bewusstseins. Das mittelalterliche Denken kannte noch den Topos der «Frau Welt», oft dargestellt als schöne, verführerische Frau, deren Rückseite ihr wahres Gesicht zeigte: einen vergänglichen, kranken, ekelerregenden Körper. Wer den Verlockungen des schönen Scheins entgehen wollte, musste danach trachten, dem Getriebe der Welt zu entkommen und Zuflucht zu finden in jener anderen Sphäre, die dem Wahren, dem Reinen, Ewigen und Göttlichen zugeordnet war.

Gott und die Welt: Man könnte die damit verbundenen Vorstellungen, Wertungen und affektiven Einstellungen auch mit der Nomenklatur beschreiben, die der Religionswissenschafter Mircea Eliade in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelte: das «Heilige» und das «Profane». Mit diesen Begriffen bezeichnete Eliade in erster Linie Ordnungsprinzipien des sozialen Lebens. Eliade vertrat die These, dass für den religiösen Menschen der Raum, in dem er lebt und der ihn umgibt, nicht «homogen» ist, sondern Teile und Bezirke aufweist, die von allen anderen prinzipiell verschieden sind. Es sind «heilige» Orte, die erst die Orientierung für die «profane Welt» geben.

Im Bereich des Heiligen gelten andere Gesetze als im profanen Raum. Gott ist im heiligen Bezirk gleichsam in die Welt eingewandert und schafft so zur profanen Welt nicht nur einen Kontrast, sondern auch die oft ritualisierten Formen einer anderen Welt in dieser Welt. Die Faszination, die etwa Tempel, Kirchen, Synagogen und Moscheen auch auf nichtreligiöse Menschen ausüben, zeugt noch immer von der Kraft dieser Unterscheidung. Diese Doppelung oder Aufteilung der Welt wirkt aber auch in Zeiten fort, die sich der umfassenden Profanierung verschrieben haben, Spuren einer religiösen Wertung der Welt werden sich, so Eliade, immer finden und nicht austilgen lassen.

Wie solche Spuren aussehen, welche Formen und Gestalten das Heilige in einer säkularisierten und profanierten Welt annehmen kann, hat Umberto Eco schon vor Jahrzehnten in zahlreichen Essays, die in der deutschen Übersetzung sinnigerweise unter dem Titel «Über Gott und die Welt» versammelt wurden, vorgeführt. Von Gott war in diesen Texten natürlich nicht mehr explizit die Rede, wohl aber davon, dass wir intellektuell auf ein neues Mittelalter zusteuern und die islamische Welt generell zu einer theokratischen Vorstellung des sozialen und politischen Lebens zurückkehrt – dies schrieb Eco 1979! Aber auch die damals in Italien wütenden Roten Brigaden, also der linke politische Terrorismus, wiederholten für Eco in «gewalttätigen Formen ein von der Mystik geprägtes Szenario»: das «Verlangen nach leidvoller Zeugenschaft», «Martyrium» und «reinigendem Blutbad». Vom islamischen Terror unserer Tage liesse sich wohl Ähnliches sagen – das sollte zu denken geben.

Eco vergass dabei nicht, auf jene Definition des Heiligen zu verweisen, die der Religionswissenschafter Rudolf Otto am Ende des Ersten Weltkriegs publiziert hatte und an die auch Mircea Eliade angeschlossen hatte: Otto hatte das Heilige als das «Numinose» bestimmt, abgeleitet vom lateinischen Wort für göttliche Wesen. Dieses Numinose ist vor allem durch das Moment des «tremendum» bestimmt, des Schauervollen, dann durch das Moment der «majestas», des Übermächtigen, und schliesslich durch das Moment des «fascinans», des Anziehenden. Keine Frage, dass sich das Heilige in einer profanen Welt in unterschiedlichen säkularisierten Formen erhalten kann: vom ästhetisch Erhabenen über die Unantastbarkeit der Menschenwürde bis zur Anbetung des Silicon Valley.

Die Säkularisierungsthese

Gerade Letzteres könnte tatsächlich als ein paradigmatisch heiliger Ort der Gegenwart beschrieben werden, auf den alle klassischen Bestimmungsstücke des Numinosen zutreffen: Macht, Faszination und Erschrecken. Und nur wenigen Ausgewählten ist es erlaubt, diesen Ort zu betreten und mit den Hohepriestern der digitalen Religion in Kontakt zu treten. Wem dies gelingt, der erzählt davon und von dem, was er nun weiss und andere nicht wissen, in jenem Modus der Erleuchtung, der in früheren Zeiten Menschen charakterisierte, denen sich ein Gott mitgeteilt hatte. Und wie die biblischen Propheten verkünden die Jünger des Silicon Valley, dass wir alle untergehen werden, wenn wir nicht in uns gehen und uns fit machen für die digitale Zukunft und die damit verbundenen Verheissungen, die himmlische Ausmasse erreichen: vom selbstfahrenden Auto über automatisierte Nahrungsmittelzustellung bis zur Unsterblichkeit.

Natürlich: Man soll die Säkularisierungsthese nicht zu weit treiben, und nicht alles, was in Vokabular oder Gestik an religiöse Kommunikationsformen und die dazugehörigen Formeln erinnert, indiziert im strengen Sinn eine Wiederkehr der Religion. Die findet schon dort statt, wo sich Gott nicht hinter den technoiden Euphemismen der Moderne verbergen muss, sondern als solcher angerufen werden kann, sie findet dort statt, wo heilige Schriften und die Worte der alten Propheten der Welt wieder ihre Ordnungsmuster oktroyieren wollen. Der Gottesstaat, wie ihn radikale Strömungen im Islam verkünden, zehrt von der Idee, dass das Immanente vom Transzendenten beherrscht und die Differenz von Gott und Welt zum Verschwinden gebracht werden soll.

Die moderne säkularisierte Lebenswelt versuchte ebenfalls, diese Differenz zumindest in ihrer klassischen Form einzuebnen, aber in die andere Richtung. Nun gibt es keine Transzendenz, keinen Gott mehr, der ausserhalb dieser Welt gedacht werden kann, Gott wird, im schlimmsten Fall, zu einer illegitimen Projektion, zu einem Opiat, zum Symptom einer Neurose, zu einem von Machtinteressen geleiteten Betrugsmanöver, im besten Fall zu einer kulturhistorisch interessanten Chiffre für soziale Fragen.

Nicht nur die philosophischen Debatten, auch die praktische Politik der Gegenwart hat sich an diesen widersprüchlichen Deutungen abzuarbeiten. Die aufgeklärte Position, die sich gerne Gott ohne die Welt und die Welt ohne Gott vorstellen wollte, lässt sich vielleicht theoretisch konzipieren, in der Praxis scheitert sie an jenen Gläubigen, die, in welcher Weise auch immer, Gott selbst in der Welt am Werke sehen wollen und das Ihre dazu beitragen möchten. Wie sehr wir schon wieder in deren Bann stehen, lässt sich übrigens aus dem neuen Trend ableiten, dass auch liberale, nichtreligiöse und nichtgläubige Menschen nun dazu aufrufen, einer Religionsgemeinschaft beizutreten, weil dadurch der soziale Zusammenhalt gestärkt werde. Man weiss nicht: Ist das eine Kapitulation der Aufklärung vor den neuen Herrschaftsansprüchen der alten Götter oder der hilflose Versuch, Religion ohne Gott wenn nicht zu denken, so doch zu praktizieren?

Angesichts solcher Entwicklungen, die unter dem Titel einer Renaissance der Religion ein postsäkulares Zeitalter einläuten könnten, möchte man doch daran erinnern, dass die Hoffnungen des modernen Menschen nicht im Heiligen, auch nicht in der Sakralisierung des Profanen, sondern in der Weltlichkeit der Welt lagen. Der Begriff der Welt konnte und kann nämlich auch als Gegenbegriff zu den heiligen Orten der Furcht und des Zitterns gedacht werden, als Inbegriff dessen, was das Leben dem Menschen bieten kann. Im Begriff der Welt schwebte immer schon die Ahnung von der Zugehörigkeit zu einer planetarischen Gemeinschaft mit.

Möglichkeitsräume

In die weite Welt hinausziehen, sich eine gewisse Weltläufigkeit aneignen, den Menschen als ein weltoffenes Wesen begreifen – all diese Formulierungen deuten die Welt nicht nur als einen existenziellen Möglichkeitsraum des Menschen und als einen Sehnsuchtsort, sondern bestimmen «Welt» immer als einen grösseren Zusammenhang, eine Totalität, wie sie in Hegels Begriff des «Weltgeistes» zum Ausdruck kommt, eine raumzeitliche Einheit, wie sie im Begriff des «Weltalters» noch mitschwingt, ein normativer Anspruch, wie er von Goethe etwa im Begriff der «Weltliteratur» festgelegt wurde. Und in Immanuel Kants Rede vom «Weltbegriff der Philosophie» drückte sich der Gedanke aus, dass es der Philosophie in einem universalen Sinn um den Gesamtzusammenhang des Daseins, um die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft gehen muss.

Wer über Gott und die Welt spricht, kann in einem leichten Plauderton beginnen. Schneller, als man glaubt, sieht man sich gezwungen, sehr genau über diese Begriffe nachzudenken: Es sind nämlich zentrale Fragen der Philosophie, die unter diesem Titel abgehandelt werden müssen. Die Unverbindlichkeit, die die Formel «über Gott und die Welt» nahelegt, hat dennoch – oder vielleicht deshalb – ihre Gründe. Am besten hat diese vielleicht Theodor W. Adorno formuliert: «Philosophie ist das Allerernsteste, aber so ernst wieder auch nicht.»

Konrad Paul Liessmann hat eine Professur am Institut für Philosophie der Universität Wien inne. Beim vorliegenden Text handelt es sich um das gekürzte Manuskript des Vortrags, den der Autor zur Eröffnung des 20. Philosophicum Lech am 22. September 2016 in Lech am Arlberg gehalten hat.