Dienstag, 17. Januar 2017

Resonanz - Kritische Betrachtungen zum Weltverhältnis

Hartmut Rosa: "Resonanz" Antwort auf die kapitalistische Entfremdung

Von Hannah Bethke

Plakat an einem Berliner Haus: "Markt oder Mensch?" (dpa/picture alliance/Paul Zinken)
"Mensch oder Markt?": Diese Frage bewegt den Jenaer Soziologen Hartmut Rosa (dpa/picture alliance/Paul Zinken)
Der Soziologe Hartmut Rosa setzt in seinem neuen Werk auf "Resonanz" - die ist seiner Ansicht nach der richtige Weg, um der Steigerungslogik des Kapitalismus zu begegnen. Unsere Rezensentin Hannah Bethke hat einen "brillanten Neuentwurf einer lebendigen Kritischen Theorie" gelesen.

Dass unser Umgang mit Zeit der Schlüssel zum Verständnis der modernen Gesellschaft ist, hat vielleicht keiner so anschaulich dargelegt wie der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa. Sein Buch "Beschleunigung" beschreibt Prozesse der fortschrittsbedingten Dynamisierung, die die Zeitstrukturen der Gesellschaft so verändert, dass diese permanent einer Steigerungslogik unterliegt.

Beschleunigung ist das Problem, Resonanz die Lösung

Wenn also Beschleunigung das Problem ist, ist dann Verlangsamung die Lösung? Nein, erklärt Rosa in seinem neuen Buch - sondern Resonanz.

Resonanz ist laut Rosa ein Beziehungsmodus, in dem gegenseitige Schwingungen erzeugt werden. Relational sei Resonanz nicht nur im äußeren Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, sondern auch im inneren zwischen seinem Körper und seiner Psyche. Wenn Körper und Seele oder Mensch und Umwelt miteinander in Einklang gebracht werden, entstehe ein Resonanzraum.

Die dem Beschleunigungsprozess innewohnende "Eskalationstendenz" habe die Stellung des Menschen zur Welt jedoch grundlegend verändert. Rosa diagnostiziert drei große Krisentendenzen der Gegenwart: eine ökologische Krise (Klimawandel), eine Krise der Demokratie (Politikverdrossenheit) und eine "Psychokrise" (Burnout). Stets sei das Resonanzverhältnis gestört.

"Steigerungszwang" des modernen Kapitalismus

Die Ursache dafür, dass wir uns die Welt nicht mehr in einem wechselseitigen Prozess aneignen, sondern sie beherrschen und verdinglichen wollen, sieht Rosa in dem endlosen, sich selbst reproduzierenden "Steigerungszwang" des modernen Kapitalismus. Auf diese Weise brächen die "Resonanzachsen" zusammen: Der "vibrierende Draht zwischen uns und der Welt" werde zugunsten einer instrumentellen Logik der Verwertbarkeit gekappt.

Die Konsequenzen seien verheerend: "Das Leben gelingt nicht dann, wenn wir reich an Ressourcen und Optionen sind, sondern wenn wir es lieben." Statt Resonanz werde ein Zustand der Entfremdung erzeugt, der für Rosa mit der Urangst des Menschen vor dem Verstummen der Welt zusammenhängt.

Zugleich könne es aber auch keine totale Resonanz geben: Ähnlich wie Beschleunigung bei Rosa nicht ohne eine Gegentendenz zur Erstarrung auskommt, ist auch Resonanz auf ein Moment der Unverfügbarkeit, wenn nicht gar auf eine "Resonanzverweigerung" angewiesen. Schwingungen müssen immer wieder begrenzt werden, sonst kommt es wie in der Physik zu einer Resonanzkatastrophe, die das, was hergestellt werden soll, zerstört.

Rosa betreibt eine "Soziologie des guten Lebens"

Hartmut Rosa sieht seine Studie als "Beitrag zu einer Soziologie des guten Lebens", die er mit einer erneuerten Form der Kritischen Theorie verknüpft. Als konkrete Lösungsvorschläge für die krisengeschüttelte Gesellschaft schweben ihm das bedingungslose Grundeinkommen und eine umfassende Erbschaftssteuer vor.

Auf diesem Weg setzt sich Rosa nicht nur vom Pessimismus der Kritischen Theorie ab, sondern löst auch ihren Anspruch ein, die Welt durch kritische Einsicht veränderbar zu machen. Auch wenn man seiner 800 Seiten langen Analyse vorhalten kann, dass weniger manchmal mehr gewesen wäre – Hartmut Rosa ist ein brillanter Neuentwurf einer lebendigen Kritischen Theorie gelungen, die mit einer Kritik an den bestehenden Resonanzverhältnissen einen Weg aus der Entfremdung der modernen Gesellschaft aufzeigt.

Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
815 Seiten, 34,95 Euro  

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Resonanz statt Beschleunigung: Hartmut Rosas Gegenentwurf - SPIEGEL ONLINE

Zur Person

Hartmut Rosa wird häufig als "Entschleunigungspapst" bezeichnet - obwohl er mit einer Schrift über Beschleunigung bekannt wurde. Diese hat laut Rosa seit der Industrialisierung alle gesellschaftlichen Lebensbereiche erfasst. In seinem neuen Buch entwickelt der Soziologe, der an der Uni Jena lehrt, ein Gegenprogramm: "Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung."
SPIEGEL ONLINE: Herr Rosa, Beschleunigung war Ihr großes Thema - jetzt haben Sie ein Buch über Resonanz geschrieben. Was meinen Sie damit?
Rosa: Resonanz ist die Grundsehnsucht nach einer Welt, die einem antwortet. Und die in jedem Menschen angelegt ist, weil wir Beziehungsmenschen sind. Wenn diese Sehnsucht eingelöst wird, weil jemand aufgeht in einem bestimmten Bereich, führt er ein gelungenes Leben.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie Beispiele für das Einlösen dieser Sehnsucht?

Rosa: Resonanzmomente kann man in allen gesellschaftlichen Sphären erleben - in der Kunst, wenn man im Museum vor einem Bild steht, oder beim Singen im Chor. Wenn man in seiner Arbeit aufgeht. Häufig werden solche Momente des Aufgehens als Heimat verklärt, die man gefunden hat. Als Heimat aus der Kindheit, an die ich Erinnerungen habe.

SPIEGEL ONLINE: In jeder Kindheit ist doch nicht automatisch alles toll - und deshalb verklärenswert.

Rosa: Ich verstehe Heimat nicht nur als physische Konnotation, sondern als Idee: als Weltanschauung, die zu mir passt, als politische, berufliche, familiäre Heimat.

SPIEGEL ONLINE: Wovon hängt ab, wie resonanzfähig Menschen sind?

Rosa: Das Grundvertrauen in die Welt scheint wichtig zu sein: Steht mir die Welt als etwas Antwortendes, Gütiges gegenüber? Oder als etwas Feindliches? Dafür gibt es eine neurologische, hormonelle Basis. Dann glaube ich, dass psychologische Faktoren eine Rolle spielen, frühkindliche Erfahrungen, der Sozialisationsprozess in der Schule.

SPIEGEL ONLINE: Und wie merkt man, ob man das gefunden hat, was Sie Heimat nennen?

Rosa: Damit wir diesen Ort finden, müssen wir uns auf die Suche begeben, unsere Reichweite in dieser Welt ausdehnen. Das Lebensgefühl der Romantik hat das gut auf den Punkt gebracht, diese Idee, in sich selbst zu gehen und gleichsam in die Welt hinauszuziehen. Das Problem aber: Diese Idee der Ausdehnung hat sich verselbstständigt.

SPIEGEL ONLINE: Weil uns heute viel mehr Optionen zur Verfügung stehen als den Romantikern?

Rosa: Ich würde sagen, unsere Gesellschaft ist seit der Industrialisierung immer stärker darauf ausgelegt, Weltreichweite zu vergrößern - weil alle ihre Bereiche auf Steigerung ausgelegt sind. Dahinter steht dann aber nicht die Idee der Resonanz, sondern die des Verfügbarmachens, des Kontrollierens: Kinder bekommen heute leuchtende Augen, wenn sie ihr erstes Smartphone bekommen. Da steckt kein konkretes Sachbegehren hinter, sondern der Wunsch, Welt in Reichweite zu bringen: auf Spotify die größte Musikauswahl zur Hand zu haben, nachzugucken, wie das Wetter im Tokio ist. Das Problem ist aber, dass dieses Potenzial allein die Dinge noch nicht zum Sprechen bringt.

SPIEGEL ONLINE: Klingt, als hätte sich der Konsument in Ihrem Konzept von der Ware entfremdet. Klassische Kapitalismuskritik, oder?

Rosa: Ich bin sicher, dass es dem Kapitalismus nicht komplett gelingt, die Subjekte zu erschaffen, derer er bedarf; durch die in uns angelegte Resonanzsehnsucht können wir nicht komplett verdinglicht werden. Aber ja, an dieser Stelle funktioniert der Trick des Kapitalismus schon: Wir sind enttäuscht vom Einzelprodukt. Aber nicht so enttäuscht, dass wir das nächste nicht kaufen - weil die Produkte uns lebendige Beziehungen versprechen. Dazu kommt eine Wettbewerbslogik, wir häufen Resonanzprodukte ja auch an: Horten Bücher, weil wir die vage Idee haben, dass wir irgendwann aus dem Hamsterrad aussteigen und dann endlich in Ruhe Hegel lesen können. Dann haben wir dafür keine Zeit. Kaufen deshalb aber noch Kant dazu.

SPIEGEL ONLINE: Apropos Hegel und Kant. Ist die Sehnsucht nach Resonanz nicht ein Luxus, den sich nur bestimmte Schichten leisten können - nämlich die, die sich um Geld, Bildung und Aufstieg kaum mehr Gedanken machen müssen?

Rosa: Mir wird immer unterstellt, ich würde nur das Lebensgefühl von Akademikern beschreiben. Ich werde da richtig sauer. Sogar Leute bei McDonalds sagen häufig, sie machen den Job gern. Etwas gut und schön zu machen, etwas zu tun, das einen erfüllt, das ist keine akademische Zusatzidee. Zu behaupten, die da unten kämpfen nur ums Überleben, die haben gar keinen Sinn für die anderen Dimensionen - das ist paternalistisch. Reden Sie mal mit Obdachlosen. Die sagen ganz häufig, das Schlimmste ist nicht, dass sie kein Geld kriegen von Leuten. Sondern, dass sie nicht wahrgenommen werden. Dass Ihnen Resonanz verweigert wird.

SPIEGEL ONLINE: In den letzten Jahren scheint es einen Backlash zu geben. Und der bezieht sich schon auf eine bestimmte, gebildetere Schicht: Die DIY-Bewegung, Yoga - passt doch alles zu Ihrer Resonanzidee.

Rosa: Achtsamkeit und so. Ein Lebensgefühl, das von Zeitschriften wie "Flow" und "Happiness" zelebriert wird. Als Wissenschaftler sollte man sich davon fernhalten.

SPIEGEL ONLINE: Sie sind aber auch präsent in diesen Themenbereichen.

Rosa: Ich verstelle mich nicht. Ich mache das, was ich sinnvoll finde. Wenn mir etwas zu esoterisch scheint, sage ich aber ab, gerade zum Beispiel einen Meditationskongress.

SPIEGEL ONLINE: Noch mal aber die Frage: Was unterscheidet Ihr Resonanzkonzept von der Achtsamkeitsbewegung, bei der Menschen bewusster durch das Leben gehen wollen?

Rosa: Ich habe ein Problem mit Entschleunigung, der Hauptidee der Achtsamkeitsbewegung. Weil sie die Zeit isoliert betrachtet. Aber Zeit ist ein Grundverhältnis, das alle gesellschaftlichen Felder prägt - von Wirtschaft über Politik. Man kann nicht alles lassen, wie es ist und einfach langsamer machen. Langsamer machen reicht nicht.

SPIEGEL ONLINE: Es geht Leuten, die Yoga machen, nicht darum, alles langsamer zu machen. Sondern darum, auszusteigen aus Erwartungen und Stress. Der Gedanke liegt Ihrer Idee doch auch zugrunde.

Rosa: Vielleicht habe ich den Affekt dagegen auch, weil einem die Stimme genommen wird, sobald man in der Achtsamkeitsecke steht. Achtsamkeit hat den Ruf eines narzisstischen Upperclassproblems, das unpolitisch ist. Okay, die Grundsehnsucht mag eine ähnliche sein wie die, die ich mit meinem Konzept der Resonanz beschreibe. Dann habe ich nur noch zwei Probleme: Zum einen die ökonomische Verwertung, die dahintersteht: Kaufe diese Räucherstäbchen und du findest deine innere Seele. Und, dass das Bewusstsein nur auf das Subjekt gelenkt wird, weil suggeriert wird, dass es von uns selbst abhängt, ob wir achtsam durch die Welt laufen. Das ist die komplette Herauslösung aus den sozialen Verhältnissen, weil die Beziehungen keine Rolle mehr spielen. Das halte ich für einen Konzeptionsfehler. Und ich will ja mit meinem Konzept gesellschaftliche Realität erklären; die Demokratiekrise zum Beispiel.

SPIEGEL ONLINE: Dann erklären Sie mal.

Rosa: Demokratie ist an sich ein Resonanzversprechen: Gesetze und Autoritäten sollten uns nicht feindlich gegenüberstehen oder indifferent, sondern uns antworten - nicht im Sinne eines Poll-Verhältnisses, dass also nach Umfragen regiert wird. Sondern dialogisch. Protestbewegungen wie aktuell Pegida fordern im Grunde eine Resonanzbeziehung ein: Die Politiker hören nicht mehr auf uns, die haben die Beziehung verloren.

SPIEGEL ONLINE: Und die Pegida-Anhänger wollen alle in Resonanzverhältnisse mit der Welt treten?

Rosa: Nein, wollen sie nicht. Weil auch rechten Ideen eine Weltbeziehung zugrunde liegt, die per se feindlich ist. Je nationalistischer und faschistischer es wird, desto weniger geht es um das Wahrnehmen der Welt - man will nicht in Beziehung treten, sondern in einem Großkörper fusionieren. Alles, was anders ist, stumm machen, genau das steckt auch aktuell in diesem Ausruf "Wir sind das Volk". Die Nazis haben ja auch Resonanzen erzeugt. Mit Liedern und Fahnen, mit Fackeln. Aber es war eben nur ein Echoraum. Weil er auf einem an sich stummen Weltverhältnis basierte.

Lesen Sie zu dem Thema auch eine Rezension zu Hartmut Rosas Beschleunigungsbuch.
Das alles beherrschende Monster

Meta-Phänomen Beschleunigung: Höher, schneller, leerer
Steve Ballmer ist nicht Steve Jobs. Der Vorstandschef von Microsoft gilt nicht als Philosoph. Und doch war es ihm kürzlich vorbehalten, anlässlich der Entwicklerkonferenz des Unternehmens das Motto unserer Zeit in eine einprägsame Formel zu kleiden: "Schneller! Schneller! Schneller! Schneller!"

Ballmer mag damit die Entwicklung neuer Produkte oder die Geschwindigkeit von Betriebssystemen gemeint haben, doch schneller zu werden, ist heutzutage ein universelles Ziel: nicht allein ein technisches Phänomen, wie der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa in seinem neuen Essay "Beschleunigung und Entfremdung" darlegt, sondern das Kernelement jeglicher Modernisierung. Und damit der entscheidende Begriff unserer Epoche.

Rosa unterscheidet zwischen technischer Beschleunigung, der Beschleunigung des sozialen Wandels und der Beschleunigung des Lebenstempos. Die technische Beschleunigung hat - verbunden mit der Industrialisierung - bereits im 19. Jahrhundert begonnen. Im Verkehr hat sie dazu geführt, dass die Welt im Vergleich zu der Zeit, die man braucht, um eine Strecke zurückzulegen, auf ein Sechzigstel ihrer Größe geschrumpft ist.

Möglichst viele Optionen

Heute zeigt sich die technische Beschleunigung vor allem im digitalen Sektor. Ihr paradoxer Effekt wirkt sich in der Beschleunigung des Lebenstempos aus: Obwohl die technische Beschleunigung eigentlich dazu hätte führen müssen, dass dem Einzelnen mehr Zeit zur Verfügung steht, weil er für einzelne Tätigkeiten weniger Zeit benötigt, genießen die Bürger moderner Gesellschaften nach Rosas Ansicht keinesfalls ihre üppige Freizeit - sondern leiden an deren Gegenteil: unter Zeitknappheit.

Der Grund dafür liege im Anspruch, "möglichst viele Optionen zu realisieren aus jener unendlichen Palette der Möglichkeiten, die die Welt uns eröffnet". Das Leben auszukosten werde zum zentralen Streben des modernen Menschen - ein Erfahrungshunger, der allerdings nicht gestillt werden könne: "Ganz egal, wie schnell wir werden, das Verhältnis der gemachten Erfahrungen zu denjenigen, die wir verpasst haben, wird nicht größer, sondern konstant kleiner". Dazu kommt, so Rosa, dass Depressionen und Burnout stark zugenommen hätten.

Zur Beschreibung aller Beschleunigungsfolgen greift er einen ursprünglich marxistischen Begriff auf: Entfremdung. Seine Kritik aber richtet sich nicht mehr gegen die kapitalistischen Produktionsbedingungen (denn anders als frühere Kritiker der industriellen Moderne konzentriert Rosa sich nicht auf die Arbeitswelt), sondern gegen die Beschleunigung als Metaphänomen. Es hätte, wie das Buch zeigt, zumindest ebenso viel Aufmerksamkeit verdient wie der Begriff Globalisierung.

Zahlreiche Konflikte

Zumal die zunehmende Beschleunigung des sozialen Wandels auch gesamtgesellschaftlich zu einer rasanten Veränderung von Werten, Lebensstilen und Beziehungen geführt habe.

Zahlreiche Konflikte, könnte man Rosas Thesen hinzufügen, entstehen dadurch, dass die Betroffenen die derart veränderte Welt schlicht nicht mehr verstehen. Die Folge: Ein Konservatismus, der sich mal rabiat äußert, wie zuletzt häufig in der islamischen Welt, mal äußerst dogmatisch, wie in Teilen der USA, oder zumindest im Wunsch, nach einer längeren Phase rascher gesellschaftlicher, technischer und ökonomischer Umbrüche, wie sie sich seit 1989 vollzogen haben, verschnaufen zu wollen - in der Bundesrepublik führte dies zuletzt zum vielbeschworenen Bild eines "neuen Biedermeiers" unter Angela Merkel.

Für demokratische Gesellschaften hat das Metaphänomen Beschleunigung Rosa zufolge noch andere Auswirkungen: Der Prozess der politischen Willensbildung wird umso schwerfälliger, je heterogener die gesellschaftlichen Gruppen werden. Politik könne deshalb, anders als von der Öffentlichkeit noch immer erwartet, kaum mehr Schrittmacher des Wandels sein. Ihr bliebe nur noch die Rolle, den Wandel zu zähmen.

Schlaflosigkeit und Panikattacken

Im Vergleich zum ökonomischen Bereich, in dem vor allem die Finanzmärkte einer drastischen Beschleunigung ausgesetzt waren, wirkt Politik deshalb statisch - ein vermeintlicher Makel, der besonders in der Blütephase der neoliberalen Ideologie von Meinungsmachern immer wieder ins Feld geführt wurde.

Aufgrund des erhöhten Tempos des gesellschaftlichen Lebens aber müssen politische Entscheidungen heute schneller getroffen werden. Die Konsequenz, meint Rosa, sei klar: In der spätmodernen Politik bestimme nicht mehr das Argument, sondern zunehmend das Ressentiment, das mehr oder minder irrationale Bauchgefühl. Vor diesem Hintergrund sei es nicht überraschend, dass Medienstars wie Schwarzenegger politische Ämter erringen und die Coolness von Politikern wichtiger sei als deren Konzepte - in Deutschland würde dies wohl zumindest auf den Aufstieg Guttenbergs zutreffen, auch wenn Rosa diesen gefallenen Medienstar nicht erwähnt.

Angesichts der Tatsache, dass Populisten in der Politik nicht nur ein Phänomen der Gegenwart, sondern der Weltgeschichte sind, wirkt Rosas These allzu zugespitzt. Das gilt wohl auch für seine Behauptung, dass in der hochbeschleunigten westlichen Welt mehr Menschen unter Schlaflosigkeit und Panikattacken litten als in Nordkorea oder im Irak unter Saddam Hussein, für die Rosa keine Belege anführt.

Sein Buch gipfelt in der These, Beschleunigung sei eine neue, abstrakte Form des Totalitarismus. Thomas Hobbes verwendete im 17. Jahrhundert für den Staat als alles beherrschendes Monster die berühmt gewordene Formel vom Leviathan. Bei Hartmut Rosa ist dieser Leviathan längst nicht mehr der Staat, sondern die Beschleunigung in all ihren Erscheinungsformen.

Doch wie dieses Monster bändigen? Das weiß auch Rosa nicht. Er räumt ein: "Im Moment verfüge ich noch nicht einmal über eine Skizze einer solchen Konzeption."
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Soziologe Rosa über sein Buch "Resonanz" Entschleunigung ist auch keine Lösung

Hartmut Rosa im Gespräch mit Katrin Heise

Der Professor Hartmut Rosa vom Lehrstuhl für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, aufgenommen am Mittwoch (01.09.2010) bei einer Pressekonferenz in Jena (picture-alliance / dpa-ZB / Martin Schutt)
Der Professor Hartmut Rosa vom Lehrstuhl für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. (picture-alliance / dpa-ZB / Martin Schutt)
Viele Menschen propagieren Slow Food, Slow Work und dergleichen. Mit einem entschleunigten Leben wollen sie auf Zeitknappheit, Stress und Hektik im Alltag reagieren. Für den Soziologen Hartmut Rosa löst diese Strategie das Problem jedoch nicht.

Slow Food oder Slow Work sollen unser Leben entschleunigen und das Gefühl von permanentem Stress lindern. Der Soziologe Hartmut Rosa plädiert stattdessen dafür, der Welt anders gegenüberzutreten: weniger kontrolliert und bereit, sich auf Menschen und Dinge einzulassen.

Der Modus der Verzweiflung bringt Stillstand

"Kaum jemand findet Langsam-Sein als Selbstzweck gut", sagt er. Ihm zufolge geht es nicht um Langsamkeit, sondern um eine neue Beziehung zur Welt, die er mit "Resonanz" beschreibt. In diesem Zustand versucht der Mensch nicht, die Dinge zu kontrollieren und schnell und effizient zu handhaben. Vielmehr lässt er sich von Begegnungen mit Anderen, von Orten, von Musik, der Natur berühren und erlaubt  diesen, etwas in ihm zum Schwingen zu bringen.

"Wenn wir im Alltagsbewältigungsverzweiflungsmodus sozusagen durch die Welt hetzen, dann kommt es eben zu einem Stillstehen der Schwingungen, weil wir schnell und effizient Dinge instrumentell handhaben müssen." 

Wider die Steigerungslogik

Dahinter steht Rosa zufolge eine Steigerungslogik, die auch mit dem Kapitalismus zusammenhängt und die auf Kontrolle und Akkumulation abzielt: "Eigentlich hetzen wir immer nur danach, unsere Weltreichweite zu vergrößern, indem wir unsere Vermögenslage verbessern oder unser Freunds- und Bekanntennetz ausdehnen oder unsere Gesundheit steigern. Aber das ist eine Art des In-der-Welt-Seins, eine Form der Weltbeziehung, die uns eben resonanzarm macht."

Auch mit der Fokussierung auf Qualitätssicherung oder Erfolgsgarantien wollten wir Dinge verfügbar machen, "und zwar punktgenau und zeitgenau", kritisiert der Soziologe.

"Resonanz" dagegen habe immer ein Moment der Unverfügbarkeit. "Man kann es nicht garantiert herstellen. Gerade dann, wenn wir uns vornehmen, heute will ich unbedingt in diesem Modus sein, dann misslingt es uns häufig. Weihnachtsabende sind dafür ein klassisches Beispiel."

Hartmut Rosa: "Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung"
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2016
816 Seiten, 34,95 Euro
Erscheint am 7. März

Das Interview im Wortlaut:

Katrin Heise: Sie freuen sich ja vielleicht auch, weil Sie schon wach sind, obwohl Sie heute gar nichts Bestimmtes vorhaben, ein langes Wochenende vor Ihnen liegt, die Zeit sich also ja genüsslich ausdehnt. Genießen Sie diesen Moment! Es ist ein herrliches Gefühl, denn wir haben ja sehr vieles angehäuft, vieles gesammelt, nur eins fehlt uns regelmäßig: die Zeit natürlich. Vor allem die Zeit, in der wir uns nach nichts anderem sehnen, nichts anderes uns gelüstet als nach dem, was wir gerade machen, also wir fühlen uns ja sonst immer unter Druck. Der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa beschäftigt sich seit Langem mit den Phänomenen der Zeit, mit Entschleunigung und mit Beschleunigung, aber er ist nicht der Auffassung, dass wir einfach die Zeit anhalten sollten, so nach dem Motto, mit Entschleunigung, mit Langsamermachen, wird alles besser, nein, in seinem neuen Buch spricht er von Resonanz. Schönen guten Morgen, Hartmut Rosa!

Hartmut Rosa: Guten Morgen, hallo!

Heise: Resonanz entsteht ja, wenn etwas in Schwingungen gerät. Meinen Sie mit Resonanz, wie Sie sie verwenden, wenn mich eine Begegnung, ein Moment sozusagen in Schwingungen versetzt?

Rosa: Ja, das meine ich durchaus. Resonanz ist ein Zustand, eine Art und Weise des Verbundenseins mit der Welt, bei der tatsächlich in uns so was zu schwingen beginnt. Man kann das, glaube ich, wirklich in diese Metapher fassen, weil das eine Art des In-der-Welt-Seins beschreibt, bei dem uns Dinge noch berühren oder bewegen oder ergreifen – das sagt ja schon unsere Sprache, also etwas in Schwingung kommt –, wo wir aber auch das Gefühl haben, wir können da draußen sozusagen Klänge erzeugen, also Dinge in Schwingung bringen.

Heise: Also wir können in Schwingung bringen. Der Untertitel Ihres Buches lautet: "Eine Soziologie der Weltbeziehung". Was meinen Sie in dem Zusammenhang mit Weltbeziehung?

Rosa: Ich hatte ja, wie Sie schon gesagt haben, lange über Zeit und Zeitverhältnisse nachgedacht und mir auch überlegt, was meinen eigentlich Menschen, wenn sie von Entschleunigung reden oder darauf hoffen oder gar davon schwärmen oder wenn sie sagen, wir müssen mal innehalten. Da geht es nämlich, glaube ich, gar nicht um Langsamkeit per se. Kaum jemand findet Langsamsein als Selbstzweck gut, aber es geht darum, auf eine andere Weise in der Welt zu sein, auf eine andere Weise in Verbindung zu treten mit anderen Menschen, zum Beispiel auch mit unserer Arbeit und mit unserem Körper oder mit der Natur da draußen. Ich wollte außerdem mir die verschiedenen Weisen angucken, die Modi, mit denen wir mit der Welt in Beziehung treten können. Und da ist mir eben aufgefallen, dass wenn wir im Alltagsbewältigungsverzweiflungsmodus sozusagen durch die Welt hetzen, dann kommt es zu einer Art eben von einem Stillstehen der Schwingung, weil wir schnell und effizient Dinge instrumentell handhaben müssen. Und vielleicht können wir einen Samstagmorgen nutzen, um auf eine andere Weise uns selbst und Welt zu erfahren. Und dafür habe ich dann versucht, den Resonanzbegriff einzubringen.

Heise: Also halten wir mal fest: Es ist eben nicht allein die Zeitknappheit, die uns unter Druck setzt, sondern eigentlich, dass dieses ganze Gehetze zu nichts führt, also jedenfalls zu nichts führt, was uns wirklich berührt.

Wirtschaftssystem fördert Entfremdung

Rosa: Ja. Ich glaube, wir haben vielleicht individuell, aber eben auch institutionell, zum Beispiel in unserem Wirtschaftssystem, viel zu viel Wert gelegt, oder das ganze System ist darauf ausgerichtet, Dinge zu akkumulieren, anzusammeln, also eigentlich Ressourcen zu vergrößern, zum Beispiel das Sozialprodukt, wenn man jetzt volkswirtschaftlich denkt. Aber auch individuell hetzen wir immer danach, eigentlich unsere Weltreichweite zu vergrößern, indem wir unsere Vermögenslage verbessern oder unser Freundes- und Bekanntennetz ausdehnen oder unsere Gesundheit steigern, aber das ist eine Art des In-der-Welt-Seins, eine Form der Weltbeziehung, die eben uns resonanzarm macht.

Heise: Wenn Sie sagen uns und wir, meinen Sie da tatsächlich auch sich, beobachten Sie das bei sich genauso?

Rosa: Ja, absolut. Also ich möchte nicht ein Soziologe sein, der anderen Menschen sagt, was sie falsch machen, sondern ich beschreibe die Art und Weise, in unserer Gesellschaft zu leben, und das kann ich bei mir sehr gut beobachten. Ich stelle natürlich da schon auch einen Zusammenhang fest zwischen notorischer Zeitknappheit und Resonanzverlust. Den Gegenbegriff von Resonanz versuche ich ja, als Entfremdung zu bestimmen – also Entfremdung und Resonanz bilden ein Gegensatzpaar.

Und natürlich stelle ich fest, dass wenn man kaum Zeit hat, zum Beispiel mit den Menschen, mit denen man umgeht – bei mir sind es zum Beispiel häufig Studenten –, dann stelle ich gerade fest, dass ich mit denen nicht in Resonanz treten will, ich möchte gar nicht mich für sie öffnen oder dass sie mit mir eine wirkliche Begegnung anstreben, sondern ich möchte ganz schnell wissen, worum es geht zum Beispiel in der Sprechstunde, und versuche dann ganz schnell eine Lösung zu präsentieren. Und so geht es einem auch, wenn man ganz häufig den Ort wechselt zum Beispiel. Man reist von Ort zu Ort, dann lässt man sich nicht auf den ein, man tritt nicht in eine Beziehung mit dem, es kommt nicht zu dem, was wir Schwingung genannt haben.

Heise: Das mit dem Reisen, das ist ja was freiwillig Gewähltes …

Rosa: Nicht immer.

Heise: … ja, auch nicht immer, da haben Sie recht. Und das mit Ihren Studenten kann auch freiwillig sein, muss aber auch nicht immer. Diese Momente, wo man sich aufeinander einlässt, die passen ja eben nicht in einen Stundenplan, können eben nicht eingetaktet werden, aber wir sind in einem Leben, das sich nun mal beschleunigt hat, dem wir auch ausgesetzt sind. Wie können wir denn diese Momente trotzdem erreichen, oder geht das dann eben nicht?

Rosa: Doch, also ich glaube, Resonanz ist nicht nur eine Sehnsucht von Menschen überhaupt, sondern es ist auch ein Grundmodus des In-der-Welt-Seins, das heißt, wir alle machen solche Erfahrungen schon als Kinder. Kinder sind ganz stark Resonanzwesen, sie leben von diesem Begegnen, von dieser auch lebendigen Begegnung mit anderen Menschen, und deshalb haben wir immer einen Sinn dafür. Wir wissen noch, was es heißt, sich von einer Landschaft oder von einer Musik oder von einem Gedicht oder auch von unserer Arbeit insbesondere so berühren und bewegen zu lassen, dass wir da hineintreten können. Aber Resonanz hat – Sie haben das ja schon angedeutet – immer einen Moment der Unverfügbarkeit, man kann es nicht garantiert herstellen. Gerade dann, wenn wir uns vornehmen, heute will ich unbedingt in diesem Modus sein, dann misslingt es uns häufig – Weihnachtsabende sind dafür ein klassisches Beispiel.

Heise: Wie die Aufforderung: Sei locker!

Rosa: Ja, genau, ungefähr so.

Heise: Das geht schief.

Jeder verfügt über Resonanzachsen

Rosa: Und ich glaube tatsächlich, dass wir auch im Alltag aufgrund knapper Stundenpläne und aufgrund einer Steigerungslogik, die systemisch ist, die auch mit kapitalistischem Wirtschaften zusammenhängt, versuchen, Welt verfügbar zu machen, Dinge ganz sicher unter Kontrolle zu haben. Auch mit Qualitätssicherungsmomenten und Erfolgsgarantien und anderen Dingen möchten wir Dinge verfügbar machen, und zwar punktgenau und zeitgenau. Und das ist schon ein Modus, mit dem es schwierig wird, dann in Resonanz zu treten. Aber es ist niemandem unmöglich, also wir alle haben noch einen Sinn dafür und eine Erfahrung davon, und ich glaube deshalb, dass wir tatsächlich, auch wenn systemische Bedingungen problematisch sind, auch an uns arbeiten können, Resonanzfähigkeit wiederherzustellen.

Heise: Gibt es da konkrete Tipps? Ich meine, Sie sind jetzt nicht so ein Tippschreiber, der sagt, mach das und dann passiert das, aber haben Sie bei sich was beobachtet?

Rosa: Ja, aber wie gesagt, ich möchte keinen Ratgeber schreiben und auch kein Ratgeber sein, aber ich glaube, Menschen, ich würde sagen alle Menschen, verfügen über so etwas wie Resonanzachsen. Das heißt, es gibt bestimmte Dinge im Leben von Menschen, bei denen sie wissen, da ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich mit mir und der Welt in Resonanz trete. Bei mir ist es auf jeden Fall Musik zum Beispiel. Es gelingt nicht immer, jeder kennt es: Man legt seine Lieblingsplatte auf, und es passiert irgendwie gar nichts, weil man in schlechter Stimmung ist und weil einem irgendetwas auf der Leber liegt. Aber trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit hoch, zum Beispiel bei mir, wenn ich Musik höre oder Musik mache auch – Musikmachen ist ein ganz probates Mittel oder eine ganz probate Resonanzachse, aber es gibt viele andere Dinge.

Für manche ist es, wenn sie politisch tätig sind oder wenn sie religiös tätig sind oder wenn sie in die Natur gehen, und für ganz viele ist auch Arbeit ein Resonanzfeld. Deshalb ist der Verlust des Arbeitsplatzes eben nicht nur ein Verlust von Ressourcen, sondern auch ein Verlust von einer Resonanzsphäre. Und ich glaube, was man also tun kann, ist herauszufinden, wo liegen denn eigentlich meine, nicht meine Felder, wo ich Dinge akkumulieren kann, sondern da, wo ich in Resonanz mit mir und der Welt treten kann. Und ich glaube, da findet jeder was, wenn er in sich hineinhört oder sie.

Heise: Ja, das ist vielleicht der wichtigste Punkt, erst mal auf sich selber mal gucken, jetzt nicht nur in egoistischem Sinne, sondern wirklich mal zu spüren, was will ich eigentlich. Schön! Schön, dass Sie sich Zeit genommen haben, Hartmut Rosa.

Rosa: Sehr gerne geschehen!

Heise: In Ihrem Buch "Resonanz einer Soziologie der Weltbeziehung" können wir ja noch mehr darüber lesen. Ich wünsche Ihnen ein, ja, berührendes Wochenende!

Rosa: Danke schön, ebenso, auf Wiederhören!

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