Dienstag, 20. August 2019

Das Ruhrgebiet - Erinnerungen

Peter Trawny
Ein autobiographisches Kapitel aus einem nicht realisierten Buchprojekt. Vielleicht interessierts diejenigen, die, wie ich, im Ruhrgebiet der sechziger und siebziger Jahre aufwuchsen:

Heimatmuseum Ruhrgebiet

Ich verbrachte meine Kindheit in Wanne-Eickel, in einer Ruhrgebietsstadt, deren Name schmunzeln lässt. Mit ihm verbindet sich jedenfalls die Provinz, ein Verschlagensein an einen verlorenen Ort. Die Stadt wurde irgendwann eingemeindet in das etwas größere Herne, was gewiss nur ein sehr begrenzter Fortschritt war. Wer damals, Ende der sechziger Jahre dort lebte, hatte es auf die eine oder andere Weise mit der Schwerindustrie, mit Bergbau oder Stahlproduktion zu tun.

Mein Vater war Bergmann. Die Familie eingewandert aus dem Osten, einer Gegend, die im „Dritten Reich“ als „Masuren“ Karriere machte. Masuren sollten Deutsche sein, spielten doch in Gelsenkirchen, meiner Geburtsstadt, bei Schalke 04 Szepan und Kuzorra, zwei Masuren eben, die von den Nazis eingedeutscht wurden (Szepan begeisterte sich dann auch fürs Hakenkreuz). Es geschieht häufig, dass mein Name englisch ausgesprochen wird, in Wirklichkeit ist er slawischer Herkunft. Meine Großeltern väterlicherseits unterhielten sich, wie mein Vater berichtet, noch polnisch miteinander. Das Deutsch, das sie auch noch sprachen, klang ein wenig jiddisch, glaube ich.

Das väterliche Bergmannsein prägte meine Kindheit. Mein Vater arbeitete (auch Nachts) oder schlief. Das führte nicht selten zu manchmal erheblichen Auseinandersetzungen, denn wie sollte ich damals Anfang der siebziger Jahre meine T.Rex-Singles hören, wenn nebenan der erschöpfte Vater schlafen musste? Später habe ich dann auch über ein halbes Jahr lang unter Tage gearbeitet (auch Nachts). Das hat mein Verhältnis zu dem, was man „Arbeit“ nennt, gewiss beeinflusst.

Des Abends färbte sich der Himmel oft rot. Das kam vom Stahlabstich. Das Licht des aus dem Hochofen entlassenen flüssigen glühenden Metalls reflektierte in den Wolken. Man war daran gewöhnt, und dennoch war es nicht selten aufregend: Es war schon dunkel geworden, ich hatte mein Abendgebet gesprochen (ja, das war so) und dann, plötzlich, ein rotes Licht, das nicht die Sonne war; Zeichen einer Betriebsamkeit, die die Region boomen ließ. Das änderte sich dann bald.

Ich erinnere mich an eine Kindheit, die sich im Freien abspielte. Das Ruhrgebiet bot damals Brachen, unbebautes Gelände, auf denen Kinder ziemlich gefahrlos streunen konnten. Cowboy- und Indianer-Spiele irgendwo im Niemandsland. Da waren die Bahngleise, auf denen man Nägel plattfahren ließ. Oder die verlassenen Bunker des Weltkriegs, die einem so vertraut waren wie die regelmäßige Luftschutzübung, bei der die Sirenen zu heulen begannen. Kriegsversehrte gehörten selbstverständlich zum Anblick des öffentlichen Lebens.

Ich habe den Lokalpatriotismus des Ruhrgebiets nie gemocht. Die Behauptung, es gäbe einen harten, aber gerechten Menschenschlag unter den „Malochern“, fand ich immer verdächtig. Für jedwede Sensibilität gab es da keinen Platz. Wer sich für Gedichte interessierte, war entweder krank oder schwul, was als dasselbe galt. Jungs spielen Fußball und tragen blau oder gelb; was ich tat, ohne mich für eine dieser Farben zu interessieren. Doch mit dem Abstand ändert sich der Blick. Auch heute bleibe ich zurückhaltend, wenn an die goldene Vergangenheit der Malocher erinnert wird. Ein Song wie „Bochum“ von Grönemeyer finde ich unsäglich kitschig. Doch ich möchte meiner eigenen Herkunft gegenüber nicht verstockt sein. Meine Kindheit und Jugend habe ich dort verbracht.

Daher besuchte ich vor Kurzem das „Heimatmuseum Wanne-Eickel“, im Stadtteil Unser Fritz. Der Name stammt von einer Zeche, die ihren Namen von einem der preußischen Friedriche erhielt.ich war vor vielleicht dreißig Jahren schon einmal dort und erwartete das Museum unverändert. Damals war es, installiert in einer ehemaligen Volksschule, ein Museum des Museums. Es gab Hinweise auf den Bergbau, irgendwelche Küchengegenstände und Mammut-Knochen, ausgestopfte Tiere auch. Ich war vielleicht nicht der einzige Besucher, doch gewiss verlief sich nur selten jemand in diese vieldeutige Abgelegenheit. Das hat sich geändert. Das Museum ist heute ein gut besuchter Ort.

Vor ein paar Jahren hat man das Gebäude renoviert. Die gezeigten Gegenstände sind gut ausgesucht. Die Sammlung geht historisch vor. So gibt es jetzt einen eigenen Raum für die Stadtgeschichte im „Dritten Reich“. (Mein altes Gymnasium lag in der Nähe eines kleinen, anscheinend vergessenen jüdischen Friedhofs, an dem ich vor fünfunddreißig Jahren täglich vorbeikam…) Die Inszenierung einer Arbeitssituation „unter Tage“ gehört natürlich dazu. Es gibt ein komplettes Schulzimmer vom Beginn des 20. Jahrhunderts, mitsamt von Tafeln, auf denen die Buchstaben der alten deutschen Kurrent-Schrift zu lesen sind. Zehn Jahre vor meiner Geburt wurde sie noch gelehrt.

Ich begegnete auch mir selbst. Nicht wörtlich, aber vermittelt durch eine Dokumentation zu den wichtigsten Fußballklubs von Herne und Wanne-Eickel (in einem spielte ich eine Zeit lang) sowie zur Musikszene vom Anfang der achtziger Jahre. Die war damals lebendig und experimentell. Das blieb nur regional von Bedeutung, doch man nahm das Ganze ernst. Ich spielte damals in einem Trio Gitarre. Der begabte Schlagzeuger starb schon vor knapp zehn Jahren an übermäßigem Drogengebrauch.

Heimatmuseum - wenn Heimat museal wird, dann hat sie etwas Objektives angenommen. Sie ist von den Straßen und Höfen, den Brachen und Bunkern abgewandert in Räume, in denen sie in Vitrinen unserer Erinnerung punktiert wird. Alles Lebendige, Rausch- und Schmerzhafte wird dem Körper entzogen. Die Heimat, die in den kindlichen Bewegungen einfach da ist, wird zum Knochen. Ich erinnere mich, als wir eine Bahnböschung hinaufkletterten, um von den schweren Kohle- und Schotterzügen Nägel plätten zu lassen, und ein von oben kommender typischer Stein vom Gleis mein Schlüsselbein zerbrach. Nun liegt dieses Schlüsselbein im Heimatmuseum Unser Fritz - ich sehe es und lege mein Hand auf die Stelle, die sich noch warm anfühlt.

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