Die
universale Ausweitung des Religionsbegriffs.
Wenn
das Göttliche und Unbedingte in jedem Augenblick an der Wirklichkeit
erscheinen kann, als ihr transzendenter Grund und Sinn, dann hat alles in der
Welt eine Beziehung zu Gott, dann gibt es keinen Raum neben dem Göttlichen, dann kann keine Sphäre des Lebens ohne Bezug
auf etwas Unbedingtes bestehen, auf etwas, das uns unbedingt angeht. Die Religion ist nicht ein besonderer Bereich des Lebens und
nicht eine spezielle Funktion des menschlichen Geistes, sondern sie ist die
Erfahrung des Elements des Unbedingten in allen anderen
Funktionen des menschlichen Geistes und allen anderen Bereichen des Lebens. Die
Religion ist die menschlichste aller Erfahrungen, sie ist überall zu Haus, sie
ist der Grund und die Tiefe des menschlichen Geisteslebens. Es gibt keine
Funktion des menschlichen Geistes und keine Sphäre des Lebens, die nicht,
mögen sie scheinbar auch noch so profan sein, eine Beziehung auf das Unbedingte
und damit eine verborgene religiöse Dimension haben. Politische Ideen,
weltliche Gedichte, philosophische Gedanken, wissenschaftliche Untersuchungen
- weisen sie auf etwas Unendliches und Letztes in Sinn und Sein hin, so weisen
sie auf die gleiche Wirklichkeit hin, für die von der Religion im engeren Sinne
das Symbol Gott verwendet wird. Die Religion ist wie Gott allgegenwärtig, ihre
Gegenwart kann wie die Gottes vergessen, vernachlässigt, geleugnet werden. Sie
ist immer wirksam, verleiht dem Leben unausschöpfliche Tiefe und jedem
kulturellen Schaffen unausschöpflichen Sinn. Innerhalb der Geschichte ist eine
Vergangenheit oder Zukunft unvorstellbar, in der der Mensch nicht nach dem
Sinn seines Lebens fragte, das heißt aber, in der er ohne Religion lebte. Er
kann religiöse Symbole im engeren wörtlichen Sinn vermeiden, aber er kann nicht
ohne Religion in ihrer tieferen, universellen Bedeutung existieren. Religion in
diesem Sinne lebt, solange der Mensch lebt; sie kann aus der menschlichen
Geschichte nicht verschwinden, denn Geschichte ohne Religion wäre nicht mehr
menschliche Geschichte.
Grundsätzliches
zum Verhältnis von Theologie und
Philosophie
Philosophie
und Theologie sind nicht getrennt, und sie sind nicht identisch, aber sie
stehen in Korrelation. Das philosophische Element ist in die Struktur des
theologischen Systems selbst hineinzunemen:
einmal
als den Stoff, aus dem die Fragen entwickelt werden, auf die die Theologie
Antwort gibt;
zum
anderen als den Stoff, aus dem die Antworten geformt werden, die die Theologie
erteilt.
Die
Philosophie vermag nicht den Inhalt der
Antworten zu liefern; sie vermag nicht einmal die in der menschlichen Existenz
beschlossene Frage nach Gott zu explizieren. Dass Gott die Antwort ja schon,
dass er die explizierte Frage ist, kann nicht aus der menschlichen
Existenz
abgeleitet, sondern muss in sie hineingesprochen werden. Aber die Form, in der
dies geschieht, ist durch die Philosophie vorbestimmt, denn die Antwort hat in
ihrer Form der zuvor gestellten Frage zu entsprechen.
Das
nenne ich die theologische Methode der Korrelation.
Dieses
Auskommen zwischen Philosophie und Theologie wird dadurch ermöglicht, dass die
Ontologie in beiden Disziplinen eine bestimmende Rolle spielt. Beide,
Philosophie und Theologie, stellen die letzte Frage, die überhaupt gestellt
werden kann: die Frage nach dem Sein. Beide stellen sie nur von verschiedenen
Ausgangspunkten her und in verschiedener Haltung: Die Philosophie stellt sie
theoretisch als Frage nach der Gestalt des Seins an sich, die Theologie
existentiell als Frage nach dem Sinn des Seins für uns und damit als Frage nach
Gott.
Aber
auch der Philosoph fragt, wenn er die Frage nach dem Sein stellt, nicht nur in
theoretischer Distanz nach der Struktur des Seins, sondern auch in
existentieller Betroffenheit nach seinem Sinn, und wenn er eine Antwort darauf
gibt, wird er zu einem heimlichen oder offenen Theologen, auch wenn er es
eigentlich nicht sein will. Umgekehrt kommt auch der Theologe nicht darum
herum, kritisch Distanz zu nehmen und die Strukturen des Seins theoretisch zu
bedenken, und wenn er dies tut, verhält er sich philosophisch. So sind
Philosophie und Theologie ebensowohl „divergent“ wie „konvergent“. Sie sind
divergent, insofern die Philosophie grundsätzlich theoretisch und die Theologie
grundsätzlich existentiell ist, und sie sind konvergent, insofern beide zugleich
sowohl theoretisch als auch existentiell sein können. Auf diese Weise kann es
bei nie zu einem grundsätzlichen Konflikt zwischen Theologie und Philosophie
kommen, sondern höchstens zu einem praktischen zwischen Theologen und
Philosophen, und auch dies nur so, dass der Theologe und der Philosoph dann
entweder auf theologischer oder auf philosophischer Ebene miteinander
streiten.
Es
geht dabei nicht um die Verschmelzung von Philosophie und Theologie, wohl aber
um ihre wechselseitige Ergänzung: Sie sind aufeinander angewiesen und verarmen
beide, wenn sie voneinander getrennt werden. Gegen eine Philosophie, die sich
von der Theologie trennt, ist einzuwenden: Die Philosophie wird zum logischen
Positivismus. Oder sie wird zur reinen Erkenntnistheorie, schärft ständig das
Messer des Denkens, aber schneidet niemals. Oder sie wird zur Geschichte der
Philosophie, zählt eine philosophische Meinung der Vergangenheit nach der
anderen auf, hält sich selbst in vornehmer Distanz, glaubenslos und zynisch -
eine Philosophie ohne existentielle Basis, ohne theologischen Grund, ohne
theologische Macht. Gegen eine Theologie, die sich von der Philosophie trennt,
ist einzuwenden: Eine solche Theologie spricht von Gott als einem Wesen neben
anderen, der Struktur des Seins unterworfen wie alles Seiende, er ist das
höchste Seiende, aber nicht das Sein selbst, nicht der Sinn des Seins, und er
ist daher ein barmherziger Tyrann, der in seiner Macht beschränkt ist, der uns
zwar sehr viel angeht, aber nicht letztlich, nicht unbedingt; dessen Existenz,
zweifelhaft, wie sie ist, bewiesen werden muss wie die Existenz eines neuen
chemischen Elements oder eines umstrittenen Ereignisses in der vergangenen
Geschichte. Eine solche Theologie trennt den Menschen von der Natur und die
Natur vorn Menschen, das Selbst von seiner Welt und die Welt vom Selbst.
Das
Fazit aus der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Theologie
lautet: So umfassen sich Philosophie und Theologie, Religion und Erkennen
wechselseitig. Dies scheint von der Grenze her gesehen, das wirkliche
Verhältnis beider zu sein.
Die
Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie ist die Frage nach dem Wesen der Theologie
überhaupt. Keine Theologie kommt, wenn sie die Wahrheit über Gott für den
Menschen verständlich ausdrücken will, um die Philosophie herum.
Dass
Philosophie und Theologie so eng miteinander verbunden sind, liegt in der
einfachen Tatsache begründet, dass beide mit dem Sein zu tun haben. Philosophie
ist in ihrem Zentrum Ontologie. Sie stellt die Frage, was es bedeutet, wenn man sagt, dass
etwas „ist“. Das ist die
einfachste, tiefste und absolut unerschöpfliche Frage, die überhaupt gestellt
werden kann. Dieses Wort „ist“ verbirgt das Rätsel alter Rätsel, wie sein
Geheimnis bewegt sich alle Philosophie: Sie sucht das, was sich in allem
Seienden verkörpert, das „Sein-Selbst“, aufzufinden und so die Prinzipien,
Strukturen und Kategorien, die allem Seienden zugrunde liegen, zu erkennen.
Mit
dem Sein und also mit Ontologie hat es aber auch die Theologie zu tun. Alle
Aussagen, die die Theologie über Gott, die Welt und den Menschen macht, liegen
innerhalb des Bereiches des Seins und enthalten daher immer notwendig
ontologische Elemente. Schon die einfachste theologische Aussage, nämlich dass
Gott „ist“, schließt die
ontologische Frage ein und verlangt daher nach der Philosophie: Ohne eine
Philosophie, in der die ontologische Frage erscheint, wäre die christliche Theologie nicht in der Lage, das Sein
Gottes denen zu erklären, die wissen möchten, in welchem Sinne man sagen kann,
dass Gott „ist“.
Wie
die beiden Brennpunkte der Ellipse ist es zu betrachten, sowohl die
existentielle Frage als auch die theologische Antwort, das eine Mal in der
Form der Frage, das andere Mal in der Form der Antwort.
Wie
ist der Mensch zu sehen?
Denn
nichts charakterisiert den Menschen so sehr wie dies, dass er fragt - das
unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen: „Der Mensch ist das Seiende,
das die Frage nach dem Sein stellt.“ Geboren wird die Frage des Menschen nach
dem Sein aus einer Erschütterung, aus dem „ontologischen Schock“. Das Sein ist
umspült und bedroht vom Ozean des Nicht-Seins. Und das ist es, was den
Menschen in die Angst und ins Fragen treibt. Gepackt von dem Schock des
möglichen Nicht-Seins, von seiner Grundangst, dass das Nicht-Sein über das Sein
triumphiere, fragt der Mensch nach dem Sein. Er durchstößt mit seinem Fragen
eine Schicht der Wirklichkeit nach der anderen und schneidet schließlich durch
sie alle hindurch bis auf den Grund: Warum ist Sein und nicht vielmehr
Nicht-Sein? Was ist der Grund und Sinn alles Seins? Was ist der Grund und Sinn
meines Seins? Warum ist überhaupt etwas da und nicht vielmehr nichts da? Wofür
bin ich da? Indem der Mensch so nach dem Grund und Sinn des Seins fragt, fragt
er nach der letzten Wirklichkeit, nach dem „wirklich Wirklichen“, nach dem, was
ihn unbedingt angeht.
Der
Mensch fragt nach dem Sein, weil er eine Mischung aus Sein und Nicht-Sein ist:
Er hat teil am Sein und ist zugleich von ihm getrennt. Darin offenbart sich
seine Endlichkeit.
Die Endlichkeit ist die
fundamentale Eigenschaft aller menschlichen Existenz; sie bestimmt ihren
Inhalt und ihre Gestalt.
Der
Mensch existiert auf der Grenze zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, er hat,
im Unterschied zu allen anderen Lebewesen, endliche Freiheit - das ist seine
Mühsal und Last. Das ist es, was ihn zu einem Fragment macht, sich selbst ein
Rätsel, dunkel, geheimnisvoll, verwirrend und quälend. Darin
spiegeln sich sein Elend und seine Größe. Sein Elend ist, dass er endlich,
unvollkommen, vergänglich und sterblich ist, seine Größe, dass er um dies
alles weiß. Darum kann man fragen, ob seine Größe nicht nur die Größe seines
Elends sei. Er erfährt, dass er endlich ist, aber er würde es nicht erfahren,
wenn er nicht etwas ahnte von der Unendlichkeit;
er erfährt, dass er unvollkommen ist, aber er würde es nicht erfahren, wenn er
nicht etwas ahnte von der Vollkommenheit; er erfährt, dass er vergänglich ist,
aber er würde es nicht erfahren, wenn er nicht etwas ahnte von der Ewigkeit.
Immer noch nimmt der Mensch unbewusst Maß an der Würde seines Ursprungs und
wahren Wesens. Gewiss ist es eine verlorene Würde, aber noch der Verlust weist
auf den einstigen Besitz hin.
Die
Trennung des Menschen vom Sein weist auf den „Fall“ des Menschen hin. Dieser „Sündenfall“ ist zu deuten als
den Übergang des Menschen von der „Essenz“
zur „Existenz“.
Alles
kommt darauf an, dass der Übergang des Menschen von der Essenz zur Existenz
richtig gedeutet wird, nämlich nicht historisch, sondern existentiell. Er ist
kein Ereignis in Raum und Zeit, nicht das erste Faktum in einem zeitlichen
Sinne: Die Vorstellung, dass der Mensch und die Natur zunächst gut waren und in
einem bestimmten Zeitpunkt böse wurden, ist absurd und kann weder aus der
Erfahrung noch aus der Offenbarung begründet werden. Vielmehr ist der Übergang
von der Essenz zur Existenz „die transhistorische Qualität aller Ereignisse in
Raum und Zeit“, das, was jedem Faktum Realität verleiht: „es wird wirklich in
jeder Wirklichkeit“.
Das
Ergebnis des Übergangs des
Menschen von der Essenz zur Existenz ist die Entfremdung. Das Wesen der Entfremdung besteht darin, dass der
Mensch von dem entfremdet ist, zu dem er wesenhaft gehört. Er ist vom Grund des
Seins und damit von dem Ursprung und Ziel seines Lebens getrennt. Der Mensch
ist nicht das, was er eigentlich sein sollte. »Existenz« und »Entfremdung« sind
Synonyma: Existenz bedeutet immer Entfremdung des Menschen von seinem wahren, eigentlichen Sein und darum
Bedrohung durch das Nicht-Sein und eben darum Angst und Frage nach dem Sein.
Der
Zustand der Entfremdung, in dem der Mensch existiert, bedeutet eine dreifache
Trennung: Getrennt vom Grund des Seins, dem Ursprung und Ziel unseres Lebens,
sind wir zugleich getrennt von uns selbst und getrennt von unseren Mitmenschen.
So läuft ein unheilvoller Riss durch alles Sein. Das ist es, was die Bibel „Sünde“ nennt. Diese Auslegung steht
gegen das übliche moralische Mißverständnis des christlichen Sündenbegriffs;
Sünde hingegen ist ein transmoralischer, ein religiöser Begriff. Sünde
bezeichnet nicht nur einen sittlichen Defekt, überhaupt nicht nur ein
subjektives Verhalten des Menschen, nicht nur persönliche Schuld, sondern immer
auch ein tragisches Schicksal und Verhängnis, freilich ein Schicksal und Verhängnis,
an dem wir handelnd teilnehmen, und darum immer auch Schuld, für die wir
persönlich verantwortlich sind. Unter den Bedingungen der Existenz leben heißt
in Sünde leben. Vor aller praktischen Tat ist die Sünde ein ontologischer
Stand, der Stand der Entrfremdung des Menschen von Gott.
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