Heinz
Hübner, Nov. 2014
1. Philosophische
Anknüpfung
„In der Praxis muss
der Mensch die Wahrheit i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens
beweisen...Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle
Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre
rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser
Praxis... Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es
kommt darauf an sie zu verändern.“
(aus K. Marx: Thesen über Feuerbach)
Im
Anschluß an diese thetische Setzung versteht sich Lenin als Philosoph neuen
Typs, der nicht von Vorstellungen und Ideen ausgeht, sondern in der
sozialistisch-revolutionären Bewegung, der gesellschaftlichen Praxis die
Theorie anhand der Praxis entwickelt. So nimmt er die Lehren von Marx und
Engels auf und vollendet sie praxisnah zum System des revolutionären
Marxismus-Leninismus.
2. Praktischer
Hintergrund
Am Ende des 19. Jh.
befindet sich der Kapitalismus im Übergang von der freien Konkurrenz in den
Imperialismus. Die sozialistische Revolution als Auflösung dieser
kapitalistischen Widersprüche tritt auf die Tagesordnung der Geschichte. Die Organisierung
einer Partei neuen Typs wird notwendig, einer „Kampfpartei, einer
revolutionären Partei, die kühn genug ist, die Proletarier in den Kampf um die
Macht zu führen, die genügend Theorie und Erfahrung hat, um sich in den
komplizierten Verhältnissen der revolutionären Situation zurechtzufinden, und
genügend Elastizität besitzt, um Klippen jeder Art auf dem Weg zum Ziel zu
umgehen. Ohne eine solche Partei ist an einen Umsturz des Imperialismus, an die
Diktatur des Proletariats gar nicht zu denken.“ (J. Stalin in: Über die
Grundlagen des Leninismus.1924)
Die Schaffung dieser Partei bedurfte ideologischer
Voraussetzung, die Lenin als praktischer Theoretiker, als Philosoph neuen Typs
schuf. So entwickelt er die Lehren von Marx und Engels auf dem Boden der sich
wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse fort. Die revolutionäre Partei der
Arbeiterklasse braucht die Ideologie als philosophisches Kampfmittel, um die
Probleme der politischen und gesellschaftlichen Praxis einer Lösung zuzuführen.
Schon Marx konstatiert in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen
Rechtsphilosophie: „Für Detschland ist die Kritik der Religion im Wesentlichen
beendigt...Das Fundament der Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die
Religion macht nicht den Menschen.“ Lenin nimmt das auf, um in seinem
philosophischen Denken beim Menschen in seiner materialistischen Sozialität
anzusetzen. Sein denkerisches System ist in drei Bereiche eingeteilt,
a) Philosophie,
gegliedert in die Hauptteile historischer und dialektischer Materialismus
b) Politökonomie als
Wirtschaftslehre
c) Theorie des
wissenschaftlichen Sozialismus, gemeint als Theorie und Taktik der
sozialistischen Bewegung durch die Partei neuen Typs.
Dabei ist die
Philosophie die Grundlage der gesamten Lehre, das Band, das alles zusammenhält.
Sie ist nicht allein Erkenntnistheorie oder Methodenlehre, sondern Methode und
Weltanschauung zugleich, also Gesamtdeutung des menschlichen Daseins bzw. allen
Seins überhaupt und zwar dogmatisch, d.h. nicht tastend suchend, sondern auf
wissenschaftlicher Grundlage entwickelt, abschließend und endgültig bewiesen.
3. Philosophischer
Ansatz – Historischer Materialismus
So fasst Lenin diese
Philosophie auf:
„Die Philosophie des
Marxismus ist der Materialismus. Im Laufe der gesamten neuesten Geschichte
Europas und insbesondere Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich, wo eine
entscheidende Schlacht gegen alles mittelalterliche Gerümpel, gegen den
Feudalismus in den Einrichtungen und in den Ideen geschlagen wurde, erwies sich
der Materialismus als die einzige folgerichtige Philosophie, die allen Lehren
der Naturwissenschaften treu bleibt, die dem Aberglauben, der Frömmelei usw.
feind ist. Die Feinde der Demokratie waren daher aus allen Kräften bemüht, den
Materialismus „zu widerlegen", zu untergraben und zu diffamieren, und
nahmen die verschiedenen Formen des philosophischen Idealismus in Schutz, der
stets, auf diese oder jene Art, auf eine Verteidigung oder Unterstützung der
Religion hinausläuft.
Marx und Engels
verfochten mit aller Entschiedenheit den philosophischen Materialismus und
legten zu wiederholten Malen dar, wie grundfalsch pede Abweichung von dieser
Grundlage ist. Am klarsten und ausführlichsten sind ihre Anschauungen in
Engels' Werken „Ludwig Feuerbach" und „Anti-Dühring" niedergelegt,
die - wie das „Kommunistische Manifest" - Handbücher jedes klassenbewußten
Arbeiters sind.
Aber Marx blieb nicht
beim Materialismus des 18. Jahrhunderts stehen, er entwickelte die Philosophie
weiter. Er bereicherte sie durch die Errungenschaften der deutschen klassischen
Philosophie und besonders des Hegelschen Systems, das seinerseits zum
Materialismus Feuerbachs geführt hatte. Die wichtigste dieser Errungenschaften
ist die Dialektik, d. h. die Lehre von der Entwicklung in ihrer
vollständigsten, tiefstgehenden und von Einseitigkeit freiesten Gestalt, die
Lehre von der Relativität des menschlichen Wissens, das uns eine
Widerspiegelung der sich ewig entwickelnden Materie gibt. Die neuesten
Entdeckungen der Naturwissenschaft - das Radium, die Elektronen, die Verwandlung
der Elemente - haben den dialektischen Materialismus von Marx glänzend
bestätigt, entgegen den Lehren der bürgerlichen Philosophen mit ihrer ständig
„neuen" Rückkehr zum alten und faulen Idealismus.
Marx, der den
philosophischen Materialismus vertiefte und entwickelte, führte ihn zu Ende und
dehnte dessen Erkenntnis der Natur auf die Erkenntnis der menschlichen
Gesellschaft aus. Der historische Materialismus von Marx war eine gewaltige
Errungenschaft des wissenschaftlichen Denkens. Das Chaos und die Willkür, die
bis dahin in den Anschauungen über Geschichte und Politik geherrscht hatten,
wurden von einer erstaunlich einheitlichen und harmonischen wissenschaftlichen
Theorie abgelöst, die zeigt, wie sich aus einer Form des gesellschaftlichen,
Lebens, als Folge des Wachsens der Produktivkräfte, eine andere, höhere Form
entwickelt - wie zum Beispiel aus dem Feudalismus der Kapitalismus hervorgeht.
Genauso wie die
Erkenntnis des Menschen die' von ihm unabhängig existierende Natur, d. h. die
sich entwickelnde Materie widerspiegelt, so spiegelt die gesellschaftliche
Erkenntnis des Menschen (d. h. die verschiedenen philosophischen, religiösen,
politischen usw. Anschauungen und Lehren) die ökonomische Struktur der
Gesellschaft wider. Die politischen Einrichtungen sind ein Überbau auf der
ökonomischen Basis. Wir sehen zum Beispiel, wie die verschiedenen politischen
Formen der heutigen europäischen Staaten dazu dienen, die Herrschaft der
Bourgeoisie über das Proletariat zu festigen.
Marx' Philosophie ist
der vollendete philosophische Materialismus, der der Menschheit - insbesondere
aber der Arbeiterklasse -- mächtige Mittel der Erkenntnis gegeben hat.“
(aus: W.I.Lenin, Drei
Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, März 1913,
in Lenin Werke,
Bd.19, S. 3-4)
4. Zur dialektischen
Methodik
„In der Hegelschen
Dialektik als der umfassendsten, inhaltsreichsten und tiefsten
Entwicklungslehre sahen Marx und Engels die größte Errungenschaft der
klassischen deutschen Philosophie. Jede andere Formulierung des Prinzips der Entwicklung,
der Evolution, hielten sie für einseitig und inhaltsarm, für eine Entstellung
und Verzerrung des wirklichen Verlaufs der (sich nicht selten in Sprüngen,
Katastrophen, Revolutionen vollziehenden) Entwicklung in Natur und
Gesellschaft. „Marx und ich waren wohl ziemlich die einzigen, die ... die
bewußte Dialektik in die materialistische Auffassung der Natur ...
hinübergerettet hatten" (aus der Zerschlagung des Idealismus,
einschließlich des Hegelianertums). „Die Natur ist die Probe auf die Dialektik,
und wir müssen es der modernen Naturwissenschaft nachsagen, daß sie für diese
Probe ein äußerst reichliches" (geschrieben vor der Entdeckung des
Radiums, der Elektronen, der Verwandlung der Elemente u. dgl. m.!), „sich
täglich häufendes Material geliefert und damit bewiesen hat, daß es in der
Natur, in letzter Instanz, dialektisch und nicht metaphysisch hergeht."
„Der große
Grundgedanke", schreibt Engels, „daß die Welt nicht als ein Komplex von
fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen, worin die
scheinbar stabilen Dinge, nicht minder wie ihre Gedankenabbilder in unserem
Kopf, die Begriffe, eine ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens
durchmachen... - dieser große Grundgedanke ist, na-
mentlich seit Hegel,
so sehr in das gewöhnliche Bewußtsein übergegangen, daß er in dieser
Allgemeinheit wohl kaum noch Widerspruch findet. Aber ihn in der Phrase
anerkennen und ihn in der Wirklichkeit im einzelnen auf jedem zur Untersuchung
kommenden Gebiet durchführen, ist zweierlei." „Vor ihr" (der
dialektischen Philosophie) „besteht nichts Endgültiges, Absolutes, Heiliges;
sie weist von allem und an allem die Vergänglichkeit auf, und nichts besteht
vor ihr als der ununterbrochene Prozeß des Werdens und Vergehens, des Aufsteigens
ohne Ende vom Niedern zum Höhern, dessen bloße Widerspiegelung im denkenden
Hirn sie selbst ist." Demnach ist die Dialektik nach Marx „die
Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl der äußern Welt
wie des menschlichen Denkens"
Diese, die
revolutionäre Seite der Hegelschen Philosophie wurde von Marx übernommen und
weiterentwikkelt. Der dialektische Materialismus „braucht keine über den andern
Wissenschaften stehende Philosophie mehr". Was von der bisherigen
Philosophie noch bestehenbleibt, ist „die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen
- die formelle Logik und die Dialektik". Die Dialektik in der Marxschen
ebenso wie in der Hegelschen Auffassung schließt aber in sich das ein, was man
heute Erkenntnistheorie nennt, die ihren Gegenstand gleichfalls historisch
betrachten muß, indem sie die Entstehung und Entwicklung der Erkenntnis, den
Übergang von der Unkenntnis zur Erkenntnis erforscht und verallgemeinert.
In unserer Zeit ist
die Idee der Entwicklung, der Evolution, nahezu restlos in das gesellschaftliche
Bewußtsein eingegangen, jedoch auf anderen Wegen, nicht über die Philosophie
Hegels. Allein in der Formulierung, die ihr Marx und Engels, ausgehend von
Hegel, gegeben haben, ist diese Idee viel umfassender, viel inhaltsreicher als
die landläufige Evolutionsidee. Eine Entwicklung, die die bereits durchlaufenen
Stadien gleichsam noch einmal durchmacht, aber anders, auf höherer Stufe
(„Negation der Negation"), eine Entwicklung, die nicht geradlinig, sondern
sozusagen in der Spirale vor sich geht; eine sprunghafte, mit Katastrophen
verbundene, revolutionäre Entwicklung; „Abbrechen der Allmählichkeit" ;
Umschlagen der Quantität in Qualität; innere Entwicklungsantriebe, ausgelöst
durch den Widerspruch, durch den Zusammenprall der verschiedenen Kräfte und
Tendenzen, die auf einen gegebenen Körper einwirken oder in den Grenzen einer
gegebenen Erscheinung oder innerhalb einer gegebenen Gesellschaft wirksam sind;
gegenseitige Abhängigkeit und engster, unzertrennlicher Zusammenhang aller
Seiten jeder Erscheinung (wobei die Geschichte immer neue Seiten erschließt),
ein Zusammenhang, der einen einheitlichen, gesetzmäßigen Weltprozeß der
Bewegung ergibt - das sind einige Züge der Dialektik als der (im Vergleich zur
üblichen) inhaltsreicheren Entwicklungslehre. (Vgl. Marx' Brief an Engels vom
8. Januar 1868 [21] mit dem Spott über Steins „hölzerne Trichotomien", die
mit der materialistischen Dialektik zu verwechseln Unsinn wäre.)“
(aus: W.I.Lenin, Karl
Marx, November 1914,
in Lenin Werke,
Bd.21, S. 41-44)
5. Die
materialistische Geschichtsauffassung
„Die Erkenntnis der
Inkonsequenz, Unzulänglichkeit und Einseitigkeit des alten Materialismus
brachte Marx zu der Überzeugung von der Notwendigkeit, „die Wissenschaft von
der Gesellschaft ... mit der materialistischen Grundlage in Einklang zu bringen
und auf ihr zu rekonstruieren" [22j. Erklärt der Materialismus überhaupt
das Bewußtsein aus dem Sein, und nicht umgekehrt, so forderte der Materialismus
in seiner Anwendung auf das gesellschaftliche Leben der Menschheit die
Erklärung des gesellschaftlichen Bewußtseins aus dem gesellschaftlichen Sein.
„Die Technologie", sagt Marx („Das Kapital", I[23I), „enthüllt das
aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozeß
seines
Lebens, damit auch
seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden
geistigen Vorstellungen." Eine abgeschlossene Formulierung der Grundsätze
des Materialismus, ausgedehnt auf die menschliche Gesellschaft und ihre
Geschichte, gab Marx im Vorwort zu seinem Werk „Zur Kritik der Politischen
Ökonomie" in folgenden Worten:
„In der
gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte,
notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein,
Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer
materiellen Produktivkräfte entsprechen.
Die Gesamtheit dieser
Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die
reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und
welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die
Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und
geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das
ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein
bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen
Produktionskräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen
Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit
den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus
Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln
derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der
Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau
langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets
unterscheiden zwischen der materiellen naturwissenschaftlich treu zu
konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den
juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen,
kurz, ideologischen Formen, worin sich die Mensehen dieses Konflikts bewußt
werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt,
was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus
ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den
Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dein vorhandenen Konflikt zwischen
gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären ...
In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche
Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen
Gesellschaftsformation bezeichnet werden."[24] (Vgl. Marx' kurze
Formulierung in seinem Brief an Engels vom 7. Ji4i 1866: „Unsere Theorie von
der Bestimmung der Arbeitsorganisation durch das Produktionsmittel." Pes])
Die Entdeckung der
materialistischen Geschichtsauffassung oder richtiger: die konsequente Fortführung,
die Ausdehnung des Materialismus auf das Gebiet der gesellschaftlichen
Erscheinungen hat zwei Hauptmängel der früheren Geschichtstheorien beseitigt.
Diese hatten erstens im besten Falle nur die ideellen Motive des
geschichtlichen Handelns der Menschen zum Gegenstand der Betrachtung gemacht,
ohne nachzuforschen, 'wodurch diese Motive hervorgerufen werden, ohne die
objektive Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung des Systems der gesellschaftlichen
Verhältnisse zu erfassen, ohne die Wurzeln dieser Verhältnisse im
Entwicklungsgrad der materiellen Produktion zu erblicken; zweitens hatten die
früheren Theorien gerade die Handlungen der Massen der Bevölkerung außer acht
gelassen, während der historische Materialismus zum erstenmal die Möglichkeit
gab, mit naturgeschichtlicher Exaktheit die gesellschaftlichen
Lebensbedingungen der Massen sowie die Veränderungen dieser Bedingungen zu
erforschen.
Die „Soziologie"
und die Geschichtsschreibung vor Marx hatten im besten Falle eine Anhäufung von
fragmentarisch gesammelten unverarbeiteten
Tatsachen und die Schilderung einzelner Seiten des historischen Prozesses
geliefert. Der Marxismus wies den Weg zur allumfassenden, allseitigen Erforschung
des Prozesses der Entstehung, der Entwicklung und des Verfalls der ökonomischen
Gesellschaftsformationen, indem er die Gesamtheit aller widerstreitenden Tendenzen untersuchte, diese auf die
exakt bestimmbaren Lebens- und Produktionsverhältnisse der verschiedenen Klassen
der Gesellschaft
zurückführte, den Subjektivismus und die Willkür bei der Auswahl bzw. Auslegung
der einzelnen „herrschenden" Ideen ausschaltete und die Wurzeln
ausnahmslos aller
Ideen und aller verschiedenen Tendenzen im gegebenen Stand der materiellen
Produktivkräfte aufdeckte. Die Menschen machen ihre Geschichte selbst; aber
wodurch die Motive der Menschen und namentlich der Massen der Menschen
bestimmt, wodurch die Zusammenstöße der widerstreitenden Ideen und
Bestrebungen verursacht werden, was die Gesamtheit aller dieser Zusammenstöße
der ganzen Masse der menschlichen Gesellschaften darstellt, was die objektiven
Produktionsbedingungen des materiellen Lebens sind, die die Basis für alles
geschichtliche Handeln der Menschen schaffen, welcherart das Entwicklungsgesetz
dieser Bedingungen ist - auf all dies lenkte Marx die Aufmerksamkeit und wies
so den Weg zur wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte als eines
einheitlichen, in all seiner gewaltigen Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit
gesetzmäßigen
Prozesses.“
(aus: W.I.Lenin, Karl
Marx, November 1914,
in Lenin Werke,
Bd.21, S. 44-46)
6. Zum Begriff
Materie
Lenin entwickelt den
philosophischen Materialismus weiter, indem er den Materiebegriff neu
formuliert.
Er verwirft den
alten, zu eng gewordenen Begriff der Materie. Für ihn ist Materie »eine philosophische
Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität«. Dieser Begriff ist also
viel weiter als der ursprüngliche und vor allem viel elastischer, sobald man
ihn im Sinne des dialektischen Materialismus expliziert:
Zum Wesen der Materie
gehört für den dialektischen Materialismus die Bewegung. Keine Materie ohne
Bewegung - keine Bewegung ohne Materie. Unter Bewegung ist dabei jegliche Art
der Veränderung zu verstehen - nicht etwa nur die Ortsveränderung der Körper im
Raum, auch physikalische, auch soziale Prozesse.
Zum Wesen der Materie
gehört weiter ihre Unendlichkeit. Das ist sowohl im räumlichen Sinne zu
verstehen wie im zeitlichen. Die Welt hat also keinen Anfang und kein Ende in
der Zeit.
Raum wie Zeit werden
als objektive und reale Seinsweisen der Materie aufgefaßt.
Da Raum und Zeit
darüber hinaus Seinsweisen jeglichen denkbaren Seins sind, so ist die
Vorstellung eines außerweltlichen, d. h. außerhalb von Raum und Zeit
existierenden Gottes widersinnig. Bemerkenswert ist, daß Raum und Zeit nicht als
schlechthin unveränderlich angesehen werden, daß sie sich vielmehr im Zuge des
Entwicklungsprozesses, den die Materie durchmacht, ebenfalls entwickeln, so daß
im Universum qualitativ verschiedene Raum- und Zeitelemente vorhanden sein
können.
Die gesamte materielle
Welt, und das heißt die gesamte Welt, bildet eine Einheit. Der Beweis für diese
These wird darin gesehen, daß die Naturforschung bisher, soweit ihr Blick auch
in die Tiefe des Universums, vordringt, noch niemals Anzeichen gefunden hat,
die die Annahme einer durchgehenden materiellen Einheit mit einheitlichen
Gesetzmäßigkeiten widerlegen könnten.
Dieser Materialismus
ist zu unterscheiden vom Vulgärmaterialismus des ausgehenden 19.Jahrhunderts.
Materialistisch ist
er in folgendem doppeltem Sinn:
1. Das Seiende,die
Materie ist eine objektive, also vom erkennenden Bewußtsein unabhängige
Realität; diese Auffassung wäre korrekt als erkenntnistheoretischer Realismus
zu kennzeichnen.
2. Die Materie in dem
geschilderten weitgefaßten Sinn ist seinsmäßig - ontologisch betrachtet - das
Primäre;
was man „Geist“
nennt, ist nur ihre Widerspiegelung im Bewußtsein der Menschen und also von ihr
abhängig.
7. Sein und
Bewusstsein
Die Frage nach dem
Verhältnis zwischen Sein und Bewußtsein ist für Lenin die Grundfrage aller,
speziell aller neueren Philosophie. Für ihn ist das Bewußtsein „Produkt,
Funktion und Eigenschaft“ der Materie.
Produkt der Materie:
Bewußtseinsfähigkeit tritt nach allem, was wir wissen, nur in lebenden
Organismen mit einem funktionstüchtigen Nervensystem bestimmter Art auf.
Bewußtsein ist ein Produkt der Gehirnmaterie.
Funktion der Materie:
Nach Lenin sind Bewußtseinsvorgänge und die physiologisch-chemischen Prozesse
im denkenden Gehirn nicht zwei (parallele) Prozesse, sondern ein einheitlicher
Vorgang, dessen „inneren Zustand“ dessen Innenseite gleichsam, das Bewußtsein
darstellt.
(nach: W.I.Lenin,
Materialismus und Empiriokritizismus, 1908,
in Lenin Werke,
Bd.14, S. 111ff und weiter:)
8. Zum Dialektischen
Materialismus
Die Eigenart der leninschen
Philosophie, auch ihre relative Flexibibität und ihre Überzeugungskraft werden
erst deutlich, wenn man der „materialistischen“ Grundhaltung ein zwei weitere
Bestimmungsstücke hinzufügt:
a) die Dialektik als
allgemeines Entwicklungsgesetz der Materie
b) die Dialektik des
gesellschaftlichen Prozesses als allgemeines Entwicklungsgesetz der
menschlichen Geschichte.
Die Bewegung, die zum
Wesen der Materie gehört, hat im ganzen gesehen eine aufsteigende Richtung: sie
führt von Erscheinungsformen niederer Ordnung zu Phänomenen von höherer Ordnung
und immer größerer Vielfalt. Sie führt von der leblosen Materie zur Entstehung
des Lebens und bei der höchstentwickelten uns bekannten Form des Lebens zu
sozialen Prozessen und den mit ihr verbundenen Formen des Bewußtseins.
In den höheren
Bereichentritt etwas prinzipiell Neues tritt (ein „kategoriales Novum“), das
sich nicht auf das jeweils Niedere zurückführen läßt. So ist Leben zwar auf
chemisch-physiologischen Prozessen aufgebaut, aber mit ihnen nicht identisch
und in seinem Wesenskern auch nicht aus ihnen ableitbar. Trotzdem ist es aus
ihm entwicklungsgeschichtlich hervorgegangen. Lenin deutet das mit dem
Verfahren des dialektischen Materialismus. Die Dialektik lehrt verstehen, wie
der „Sprung“ zum qualitativ Neuen, vorher nicht Dagewesenen aus der Entwicklung
der Materie notwendig hervorgeht. Der dialektische Sprung muß im Zusammenhang
mit der These vom »Umschlag der Quantität in Qualität« gesehen werden: Da alles
in Bewegung und Veränderung ist, so ändern sich die Eigenschaften des Seienden
zunächst einmal in der Weise, daß die Quantität sich ändert, z. B. des
Vorhandenseins bestimmter Mengen bestimmter Stoffe an einer Stelle des Raumes
oder etwa die Geschwindigkeit eines bewegten Körpers oder der Grad des Vorhandenseins
bestimmter Eigenschaften. Innerhalb gewisser Grenzen verändern solche
Bewegungen das Wesen, die Qualität, der in Frage stehenden Materie noch nicht.
Wird aber ein bestimmtes Maß überschritten, so tritt ein Umschlag ein, ein
Sprung, der zu etwas qualitativ Andersartigem und Neuem führt.
(Beispiel: Wasser
bleibt Wasser, wenn man es erwärmt, aber bei ioo Grad Celsius nimmt es eine
qualitativ andere Zustandsform an. Eisen bleibt Eisen, wenn man es in immer
kleinere Stücke zerlegt; aber von einer bestimmten Grenze an - nämlich beim
Atom - führt eine weitere Teilung nicht mehr auf »Eisen«. Uran kann ohne
qualitative Veränderung angehäuft werden, bis das Erreichen der sogenannten
kritischen Menge den Prozeß der Kernspaltung in Gang setzt und die augenblicks
einsetzende Kettenreaktion zu einer Explosion und zum Zerfall der Uranatome
führt.)
Dies macht erst einen
Teilaspekt aus. Dialektik als Lehre von den allgemeinsten Entwicklungsgesetzen
der Materie umfaßt eine weiterer Einzelzüge:
a) der allgemeine Zusammenhang
zwischen den Erscheinungen,
b) Bewegung und
Entwicklung in Natur und Gesellschaft;
c) Entwicklung als
Übergang quantitativer in qualitative Veränderungen,
d) Entwicklung als
Kampf von Gegensätzen.
Was heißt „Kampf von
Gegensätzen“? Da es außerhalb der Materie nichts gibt, was ihr etwa Anstöße zur
Bewegung vermitteln könnte, ist die Bewegung der Materie stets Selbstbewegung.
Für Hegel ist der Weltprozeß ebenfalls Selbstbewegung, jedoch Bewegung des
Weltgeistes. Der Weltgeist bewegt sich in der Weise, daß alles „Positive“,
„Gesetzte“, alles Seiende in sich schon den Widerspruch, die Negation seiner
selbst trägt. Für den dialektischen Materialismus, für den der Weltprozeß
Selbstbewegung nicht des Weltgeistes, sondern der Materie ist, liegen die Widersprüche,
welche die Entwicklung dialektisch vorantreiben, in der Materie selbst.
„Widerspruch“ strenggenommen ist ein logischer Begriff: zwei Aussagen können
einander widersprechen. Real Seiendes kann zueinander nicht im Widerspruch,
sondern nur im Gegensatz stehen. Widerspruch heißt hier soviel wie
Vorhandensein gegensätzlicher Eigenschaften (Bestimmungen) am materiell
Seienden. Als Beispiele können dienen Anziehung und Abstoßung, Positives und
Negatives, Assimilation und Dissimilation. Wenn jegliches Seiende gleichsam
seine eigene Negation mit sich führt, so führt der Austrag dieses Widerspruchs
in Form eines Konfliktes zu einer Veränderung dieses Seienden, zu seiner
Verwandlung in etwas Neues, in dem das Alte zugleich vernichtet und bewahrt
(„aufgehoben“) ist. Auch dieses Neue wird freilich nach dem „Gesetz der
Negation der Negation“ wiederum durch innere Widersprüche auseinanderbrechen
und in etwas Neues übergehen.
Im Zusammenhang mit
dieser Entwicklungslehre hat der dialektische Materialismus sich mit dem
Problem der Kausalität auseinandersetzen müssen
Lenin hält an der
durchgängigen Geltung des Kausalitätsgesetzes fest, wenn er auch dem „Zufall“
einen gewissen Spielraum zubilligen. Im Zusammenhang mit der Dialektik erörtert
er auch das Problem Notwendigkeit und Freiheit. Ähnlich wie für Hegel ist
Freiheit für den philosophischen Materialismus „bewußte Notwendigkeit“, das
heißt: Alles Geschehen verläuft notwendig, nach unabänderlichen Gesetzen;
soweit der Mensch imstande ist, diese Gesetze zu erkennen, kann er sie
planmäßig für seine Zwecke wirken lassen. Freiheit ist im Grunde „die
Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können“. Daraus ergibt sich u. a.,
daß der Mensch erst ganz allmählich einen gewissen Grad von Freiheit erlangt,
nämlich mit dem Fortschreiten der Naturerkenntnis. Der entscheidende Schritt
zur Freiheit wird jedoch erst getan, wenn die Menschen, durch Marx, Engels und
Lenin belehrt, die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung mit derselben
Exaktheit wie die Naturgesetze erkennen und anwenden. Hier spielt die Theorie
der Partei neuen Typs eine besondere Rolle.
Ein kritischer Punkt
für den dialektische Materialismus liegt darin, daß er
zugleich Logik und
Erkenntnistheorie sein will.
Dies wird etwa so
begründet: für Hegel ist die Bewegung der Materie nur „entäußerte“ Bewegung des
Geistes. So kann für ihn die „Wissenschaft der Logik“,
d.h. die Lehre von
der Selbstbewegung des Geistes, zugleich die Lehre vom Sein, die Ontologie, mit
umfassen, ja es fallen beide zusammen.
Entsprechend gilt in
genauer Umkehrung für den dialektische Materialismus:
Da die materielle
Wirklichkeit sich nach dialektischem Gesetz entwickelt, und da die Entwicklung
des menschlichen Bewußtseins (anderes Bewußtsein gibt es nicht) nur diese
Entwicklung widerspiegelt, so gehen die objektive Dialektik des Seienden (die
Realdialektik) und die subjektive Dialektik des Denkens nicht nur parallel, sie
fallen vielmehr zusammen.
Hier taucht ein
wichtiger Zug der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie auf. Dieser Zug
betrifft die Rolle der „Praxis“. Auf die Frage „Wer oder was garantiert uns,
daß der Denkprozeß wirklich dem realen Entwicklungsprozeß konform ist, daß wir
also nicht in die Irre gehen?“ lautet die Antwort: die Praxis. Das heißt: Die
Grundlage der Erkenntnis ist der praktische Umgang mit der Materie; auch
historisch gesehen entfaltet sich Erkenntnis allmählich im Fortschreiten der
praktischen Tätigkeit des Menschen, d. h. der Arbeit, die schon für Hegel als
die eigentlich grundlegende Wesensbestimmung des Menschen gilt. Praxis ist
zugleich Ziel der Erkenntnis, sowohl im Bereich der Natur wie im
gesellschaftlichen Leben.
Der historischer
Materialismus, wie ihn Marx entwickelt hat, besagt, dass das bestimmende
Element im gesellschaftlichen Prozeß die materiellen Produktivkräfte sind. Die
Gesetze der dialektischen Bewegung werden dabei zuerst im geschichtlichen
Prozeß aufgefunden. Danach, durch Engels und in der Weiterführung durch Lenin,
ist erst der dialektische Materialismus entwickelt worden.
Ein zentrales Problem
dabei ist das Verhältnis von Basis und Überbau. Die Grundthese von Marx lautet:
Die ökonomische Struktur der Gesellschaft, Produktivkräfte und
Produktionsverhältnisse und ihre dialektische Wechselwirkung, bildet die reale
Basis der ganzen gesellschaftlichen Prozesse. Über ihr erhebt sich ein Überbau,
und zwar erstens ein politisch-rechtlicher, der in unmittelbarer Abhängigkeit
von der Basis lebt (so sind Staat und Recht nichts anderes als Instrumente der
ökonomisch herrschenden Klasse), und zweitens ein „ideologischer Überbau“ in
Gestalt von Philosophie, Wissenschaft, Kunst, Moral, Religion. Alle Formen des
Überbaus sind von der Basis bestimmt und spiegeln die ökonomische
Grundstruktur, doch ist die Abhängigkeit des ideologischen Überbaus nicht so
direkt wie die der politischen; die Ideologien hängen nicht unmittelbar von der
ökonomischen Basis ab, sondern „vermittelt“ durch das politisch-rechtliche
System.
Diese Grundthese ist
bereits durch Engels differenziert worden, als er darauf hinwies, daß die ökonomische
Basis nur „in letzter Instanz“ bestimmend sei, nicht aber das allein
Ausschlaggebende. Die verschiedenen Formen des Überbaus - Verfassungen,
Rechtsformen, politische und soziale Theorien, religiöse Vorstellungen - üben
vielmehr auch ihrerseits ihren Einfluß auf die geschichtliche Entwicklung aus,
insbesondere auf die Formen, in denen diese abläuft. Lenin spricht dem Überbau
eine relative Selbständigkeit nicht ab. In dieser Richtung hat Lenin die
Entwicklung noch weiter getrieben. Gegenüber Einwänden der sogenannten
Revisionisten, die unter anderem auf die Frage hinausgehen: »Wozu eine
Revolution machen, wenn die historische Entwicklung ohnehin mit absoluter
Notwendigkeit zur sozialistischen Gesellschaft führt?«, hat Lenin entschieden
die ausschlaggebende Rolle des Bewußtseins betont: Die geschichtliche
Notwendigkeit setzt sich nicht von selber durch; sie erfordere eine bewußte
kämpferische Anstrengung - getragen von einem klassenbewußten Vortrupp des
Proletariats. Lenin geht so weit, zu erklären, daß das Proletariat das hierzu
erforderliche Bewußtsein überhaupt nicht selbst entwickeln könne (es könne aus
eigener Kraft allenfalls bis zu einem „trade unionistischen“, also
revisionistischen Bewußtsein kommen); dieses müsse ihm vielmehr „von außen“
gebracht werden.
9. Kritische Anfrage
Lenin hat die
„umgestaltende, schöpferische Rolle des Überbaus“ unterstrichen, sofern es sich
um einen sozialistischen Überbau handelt; mit anderen Worten: Sobald der
Sozialismus zu siegen begonnen hat, hängt seine weitere Verwirklichung
entscheidend von der durch die Partei bestimmten ideologischen Erziehungsarbeit
ab.
Hier ist die Frage zu
stellen: Woher denn bei zugestandener relativer Selbständigkeit des Überbaus
die dynamischen Energien stammen können, die ihn befähigen, die
gesellschaftliche Entwicklung von sich aus mitzubestimmen und zu überformen -
da doch nach der philosophischen Grundthese des Materialismus jegliches
Bewußtsein und jegliche Ideologie nichts sind als Reflex, Produkt,
Widerspiegelung der allein realen und sich selbst bewegenden Materie?
Noch interessanter,
als hier mit Kritik einzusetzen, ist es aber, die weitere Entwicklung im
Marxismus selbst zu verfolgen, zu beobachten, wie die marxistischen Theoretiker
mit den Schwierigkeiten fertig zu werden suchen, die die Durchführung ihrer
Grundthesen heraufbeschwört. Dabei können wir von der folgenden (bewußt etwas
vage formulierten) Frage ausgehen: Wenn der gesamte Überbau Widerspiegelung der
Basis ist, und wenn die bisherige Geschichte, ökonomisch gesehen, ausschließlich
eine Geschichte von Klassenkämpfen darstellt, so liegt es nahe, anzunehmen, daß
die Menschheit bisher (bis zum Aufkommen des Marxismus) nur klassenbedingte
Ideologien hervorgebracht haben kann. Müssen wir also annehmen (dieses Wort im
doppelten Sinne sowohl als »postulieren« wie als »akzeptieren«), alle
vormarxistischen geistigen Hervorbringungen der Menschheit seien
klassenbedingte Ideologien? Wie steht es mit den bisherigen Moralsystemen - die
doch von Konfuzius bis zur letzten päpstlichen Enzyklika einige bemerkenswerte
Übereinstimmungen aufweisen? Sind die Schöpfungen der großen Kunst vergangener
Zeiten, eine griechische Statue, ein gotischer Dom, ein Drama Shakespeares,
eine Symphonie Beethovens, klassenbedingt, und können sie demnach für den
sozialistischen Menschen der Zukunft nichts mehr bedeuten? Sind die
Weltreligionen, ihre Lehren, ihr Moralkodex durchweg klassengebunden? Sind die
Erkenntnisse der »bürgerlichen« Wissen.
10. Zur besonderen
Behandlung der Religion
Seinen parteilichen
Standpunkt zu Fragen der Religion stellt Lenin u.a. in seinem Artikel:
Sozialismus und Religion, 1905 sowie im Artikel Über das Verhältnis der
Arbeiterpartei zur Religion, 1909 dar.:
W. I.
Lenin: Sozialismus und Religion
Die moderne
Gesellschaft ist ganz auf der Ausbeutung der ungeheuren Massen der
Arbeiterklasse durch eine verschwindend kleine, zu den Klassen der
Grundeigentümer und Kapitalisten gehörende Minderheit der Bevölkerung
aufgebaut. Das ist eine Sklavenhaltergesellschaft, denn die „freien"
Arbeiter, die ihr Leben lang für das Kapital arbeiten, „haben Anrecht"
nur auf solche Existenzmittel, die zum Lebensunterhalt der Profit erzeugenden
Sklaven und zur Sicherung und Verewigung der kapitalistischen Sklaverei
notwendig sind.
Die ökonomische
Unterdrückung der Arbeiter verursacht und erzeugt unvermeidlich alle möglichen
Arten der politischen Unterdrückung und sozialen Erniedrigung, der Verrohung
und Verkümmerung des geistigen und sittlichen Lebens der Massen. Die Arbeiter
können sich mehr oder weniger politische Freiheit für den Kampf um ihre ökonomische
Befreiung erringen, aber keinerlei Freiheit wird sie von Elend,
Arbeitslosigkeit und Unterdrückung erlösen, solange die Macht des Kapitals
nicht gestürzt ist. Die Religion ist eine von verschiedenen Arten geistigen
Joches, das überall und allenthalben auf den durch ewige Arbeit für andere,
durch Not und Vereinsamung niedergedrückten Volksmassen lastet. Die Ohnmacht
der ausgebeuteten Klassen im Kampf gegen die Ausbeuter erzeugt ebenso unvermeidlich
den Glauben an ein besseres Leben im Jenseits, wie die Ohnmacht des Wilden im
Kampf mit der Natur den Glauben an Götter, Teufel, Wunder usw. erzeugt.
Denjenigen, der sein Leben lang arbeitet und Not leidet, lehrt die Religion
Demut und Langmut hienieden und vertröstet ihn mit der Hoffnung auf himmlischen
Lohn. Diejenigen aber, die von fremder Arbeit leben, lehrt die Religion
Wohltätigkeit hienieden, womit sie ihnen eine recht billige Rechtfertigung
ihres ganzen Ausbeuterdaseins anbietet und Eintrittskarten für die himmlische
Seligkeit zu erschwinglichen Preisen verkauft. Die Religion ist das Opium des
Volks. Die Religion ist eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven des
Kapitals ihr Menschenantlitz und ihre Ansprüche auf ein halbwegs menschenwürdiges
Leben ersäufen.
Doch der Sklave, der
sich seiner Sklaverei bewußt geworden ist und sich zum Kampf für seine
Befreiung erhoben hat, hört bereits zur Hälfte auf, ein Sklave zu sein. Durch
die Fabrik der Großindustrie erzogen und durch das städtische Leben
aufgeklärt, wirft der moderne klassenbewußte Arbeiter die religiösen Vorurteile
mit Verachtung von sich, überläßt den Himmel den Pfaffen und bürgerlichen Frömmlern
und erkämpft sich ein besseres Leben hier auf Erden. Das moderne Proletariat
bekennt sich zum Sozialismus, der die Wissenschaft in den Dienst des Kampfes
gegen den religiösen Nebel stellt und die Arbeiter vom Glauben an ein
jenseitiges Leben dadurch befreit, daß er sie zum diesseitigen Kampf für ein
besseres irdisches Leben zusammenschließt.
Erklärung der
Religion zur Privatsache - mit diesen Worten wird gewöhnlich die Stellung der
Sozialisten zur Religion ausgedrückt. Doch die Bedeutung dieser Worte muß man
genau definieren, damit sie keine Mißverständnisse hervorrufen können. Wir
fordern, daß die Religion dem Staat gegenüber Privatsache sei, können sie aber
keinesfalls unserer eigenen Partei gegenüber als Privatsache betrachten. Den
Staat soll die Religion nichts angehen, die Religionsgemeinschaften dürfen mit
der Staatsmacht nicht verbunden sein. Jedem muß es vollkommen freistehen, sich
zu jeder beliebigen Religion zu bekennen oder gar keine Religion anzuerkennen,
d. h. Atheist zu sein, was ja auch jeder Sozialist in der Regel ist. Alle
rechtlichen Unterschiede zwischen den Staatsbürgern je nach ihrem religiösen Bekenntnis
sind absolut unzulässig. Selbst die Erwähnung der Konfession der Staatsbürger
in amtlichen Dokumenten muß unbedingt ausgemerzt werden. Es darf keine Zuwendungen
an eine Staatskirche, keine Zuwendungen von Staatsmitteln an kirchliche und
religiöse Gemeinschaften geben, die völlig freie, von der Staatsmacht
unabhängige Vereinigungen gleichgesinnter Bürger werden müssen. Nur die
restlose Erfüllung dieser Forderungen kann Schluß machen mit jener schmählichen
und verfluchten Vergangenheit, da die Kirche in leibeigener Abhängigkeit vom
Staat war und die russischen Bürger in leibeigener Abhängigkeit von der
Staatskirche waren, da (bis auf den heutigen Tag in unseren Strafgesetzbüchern
und Prozessualordnungen erhalten gebliebene) mittelalterliche, inquisitorische
Gesetze bestanden und angewandt wurden, die Glauben oder Unglauben verfolgten,
das Gewissen der Menschen vergewaltigten, Staatspöstchen und Staatspfründen
mit der Verteilung dieses oder jenes Staatskirchenfusels verknüpften.
Vollständige Trennung der Kirche vom Staat - das ist die Forderung, die das
sozialistische Proletariat an den heutigen Staat und die heutige Kirche stellt.
Die russische
Revolution muß diese Forderung als unerläßlichen Bestandteil der politischen
Freiheit verwirklichen. Die russische Revolution findet diesbezüglich besonders
günstige Bedingungen vor, denn die widerwärtige Bürokratenwirtschaft des
absolutistischen Polizei- und Leibeigenschaftsstaates hat selbst innerhalb der
Geistlichkeit Unzufriedenheit, Gärung und Empörung hervorgerufen. So geduckt
und unwissend die russische rechtgläubige Geistlichkeit auch war, sogar sie
wurde -jetzt von dem Getöse geweckt, mit dem die alte, mittelalterliche Ordnung
in Bußland eingestürzt ist. Sogar sie schließt sich der Forderung nach
Freiheit an, protestiert gegen die Bürokratenwirtschaft und Beamtenwillkür,
gegen die polizeilichen Spitzeldienste, zu denen die „Diener Gottes"
genötigt werden.
Wir Sozialisten
müssen diese Bewegung unterstützen, indem wir die Forderungen der ehrlichen
und aufrichtigen Geistlichen bis zu Ende führen, diese Leute, wenn sie von
Freiheit sprechen, beim Wort nehmen, von ihnen fordern, daß sie jedes Band
zwischen Religion und Polizei entschlossen zerreißen. Entweder ihr seid
aufrichtig - dann müßt ihr für die völlige Trennung der Kirche vom Staat und
der Schule von der Kirche, für die uneingeschränkte und vorbehaltlose
Erklärung der Religion zur Privatsache sein. Oder ihr akzeptiert diese
konsequenten Forderungen nach Freiheit nicht - dann seid ihr also immer noch in
den Überlieferungen der Inquisition befangen, dann klebt ihr also immer noch an
den Staatspöstchen und Staatspfründen, dann glaubt ihr also nicht an die
geistige Kraft eurer Waffe und laßt euch nach wie vor von der Staatsmacht
bestechen - und dann erklären euch die klassenbewußten Arbeiter ganz Rußlands
den schonungslosen Krieg.
Für die Partei des
sozialistischen Proletariats ist die Religion keine Privatsache. Unsere Partei
ist ein Bund klassenbewußter, fortgeschrittener Kämpfer für die Befreiung der
Arbeiterklasse. Ein solcher Bund kann und darf sich nicht gleichgültig
verhalten zu Unaufgeklärtheit, zu Unwissenheit oder zu Dunkelmännertum in Form
von religiösein Glauben. Wir fordern die völlige Trennung der Kirche vom
Staat, um gegen den religiösen Nebel mit rein geistigen und nur geistigen
Waffen, mit unserer Presse, unserem Wort zu kämpfen. Aber wir haben unseren
Bund, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands, unter anderem gerade
für einen solchen Kampf gegen jede religiöse Verdummung der Arbeiter gegründet.
Für uns ist der ideologische Kampf keine Privatsache, sondern eine Angelegenheit
der ganzen Partei, des gesamten Proletariats.
Wenn dem so ist,
warum erklären wir in unserem Programm nicht, daß wir Atheisten sind? warum
verwehren wir es Christen und Gottesgläubigen nicht, in unsere Partei
einzutreten?
Die Antwort auf diese
Frage soll einen sehr wichtigen
Unterschied zwischen
der bürgerlich-demokratischen und der sozialdemokratischen Fragestellung
hinsichtlich der Religion klarmachen.
Unserem ganzen
Programm liegt eine wissenschaftliche, und.zwar die materialistische
Weltanschauung zugrunde. Die Erläuterung unseres Programms schließt daher notwendigerweise
auch die Klarlegung der wahren historischen und ökonomischen Quellen des
religiösen Nebels ein. Unsere Propaganda schließt notwendigerweise auch die
Propaganda des Atheismus ein; die Herausgabe entsprechender wissenschaftlicher
Literatur, die von der absolutistisch-fronherrschaftlichen Staatsmacht bisher
streng verboten und verfolgt worden ist, muß jetzt einen Zweig unserer
Parteiarbeit bilden. Wir werden jetzt wahrscheinlich den Rat befolgen müssen,
den Engels einmal den deutschen Sozialisten erteilt hat: die Literatur der
französischen Aufklärer und Atheisten des 18. Jahrhunderts zu übersetzen und
massenhaft zu verbreiten.
Doch wir dürfen uns
dabei auf keinen Fall dazu verleiten lassen, die religiöse Frage abstrakt,
idealistisch, „von Vernunft wegen", außerhalb des Klassenkampfes zu stellen,
wie das radikale Demokraten aus der Bourgeoisie häufig tun. Es wäre unsinnig,
zu glauben, man könne in einer Gesellschaft, die auf schrankenloser
Unterdrückung und Verrohung der Arbeitermassen aufgebaut ist, die religiösen
Vorurteile auf rein propagandistischem Wege zerstreuen. Es wäre bürgerliche
Beschränktheit, zu vergessen, daß der auf der Menschheit lastende Druck der
Religion nur Produkt und Spiegelbild des ökonomischen Drucks innerhalb der
Gesellschaft ist. Durch keine Broschüren, durch keine Propaganda kann man das
Proletariat aufklären, wenn es nicht durch seinen eigenen Kampf gegen die
finsteren Mächte des Kapitalismus aufgeklärt wird. Die Einheit dieses wirklich
revolutionären Kampfes der unterdrückten Klasse für ein Paradies auf Erden ist
uns wichtiger als die Einheit der Meinungen der Proletarier über das Paradies
im Himmel.
Das ist der Grund,
warum wir in unserem Programm von unserem Atheismus nicht sprechen und nicht
sprechen dürfen; das ist der Grund, warum wir den Proletariern, die noch diese
oder jene Überreste der alten Vorurteile bewahrt haben, die Annäherung an
unsere Partei nicht verwehren und nicht verwehren dürfen. Die wissenschaftliche
Weltanschauung werden wir immer propagieren, und die Inkonsequenz irgendwelcher
„Christen" müssen wir bekämpfen; das bedeutet aber durchaus nicht, daß man
die religiöse Frage an die erste Stelle rücken soll, die ihr keineswegs
zukommt, daß man eine Zersplitterung der Kräfte des wirklich revolutionären,
des ökonomischen und politischen Kampfes um drittrangiger Meinungen oder
Hirngespinste willen zulassen soll, die rasch jede politische Bedeutung
verlieren und durch den ganzen Gang der ökonomischen Entwicklung bald in die
Rumpelkammer geworfen werden.
Die reaktionäre
Bourgeoisie hat überall danach getrachtet und beginnt jetzt auch bei uns
danach zu trachten, den religiösen Hader zu entfachen, um so die Aufmerksamkeit
der Massen von den wirklich wichtigen und grundlegenden ökonomischen und
politischen Fragen abzulenken, die das gesamtrussische Proletariat, das sich in
seinem revolutionären Kampf zusammenschließt, jetzt praktisch löst. Diese
reaktionäre Politik der Zersplitterung der proletarischen Kräfte, die sich
heute hauptsächlich in Pogromen der Schwarzhunderter äußert, kann morgen sehr wohl
auch irgendwelche raffinierteren Formen ersinnen. Wir werden ihr jedenfalls die
ruhige, beharrliche und geduldige, von jeder Aufbauschung zweitrangiger
Meinungsverschiedenheiten freie Propaganda der proletarischen Solidarität und
der wissenschaftlichen Weltanschauung entgegenstellen.
Das revolutionäre
Proletariat wird durchsetzen, daß die Religion für den Staat wirklich zur
Privatsache wird. Und unter diesem, vom mittelalterlichen Moder gesäuberten
politischen Regime wird das Proletariat einen breiten und offenen Kampf führen,
um die ökonomische Sklaverei, diese wahre Quelle der religiösen Verdummung der
Menschheit, zu beseitigen.
„Nowaja Shisn"
(Neues Leben) Nr. 28, 3. Dezember 1905.
Unterschrift: N. L e
n in.
Werke, Bd. 10, S.
70-75.
Aus W.I. Lenin: Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion,
1909
Die ganze
Weltanschauung der Sozialdemokratie ist auf dem wissenschaftlichen Sozialismus,
d. h. dem Marxismus aufgebaut. Die philosophische Grundlage des Marxismus
bildet, wie sowoh, Marx als auch Engels wiederholt erklärt haben, der
dialektische Materialismus, der die historischen Traditionen des Materialismus
des 18. Jahrhunderts in Frankreich sowie Feuerbachs (erste Hälfte des 19.
Jahrhunderts) in Deutschland in vollem Umfang aufgegriffen hateines
Materialismus, der unbedingt atheistisch und jeder Religion entschieden feind
ist. ......
Der Marxismus betrachtet alle heutigen
Religionen und Kirchen, alle religiösen Organisationen stets als Organe der bürgerlichen
Reaktion, die die Ausbeutung verteidigen und die Arbeiterklasse verdummen und
umnebeln sollen..
....
Marxismus ist
Materialismus. Als solcher steht er der Religion ebenso schonungslos feindlich
gegenüber wie der Materialismus der Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts oder
der Materialismus Feuerbachs. Das steht außerZweifel. Aber der dialektische
Materialismus von Marx und Engels geht weiter als jener der Enzyklopädisten und Feuerbachs,
denn er wendet die materialistische Philosophie auf das Gebiet der Geschichte,
auf das Gebiet der Gesellschaftswissenschaften an. Wir müssen die Religion
bekämpfen. Das ist das Abc des gesamten Materialismus und folglich auch des
Marxismus. Aber der Marxismus ist kein Materialismus, der beim Abc
stehengeblieben ist. Der Marxismus geht weiter. Er sagt: Man muß verstehen, die
Religion zu bekämpfen, dazu aber ist es notwendig, den Ursprung, den Glauben
und Religion unter den Massen haben, materialistisch zu erklären. Den Kampf
gegen die Religion darf man nicht auf abstrakt-ideologische Propaganda
beschränken, darf ihn nicht auf eine solche Propaganda reduzieren, sondern er
muß in Zusammenhang gebracht werden mit der konkreten Praxis der Klassenbewegung,
die auf die Beseitigung der sozialen Wurzeln der Religion abzielt. Warum findet
die Religion in den rückständigen Schichten des städtischen Proletariats, in
breiten Schichten des Halbproletariats und auch in der Hauptmasse der
Bauernschaft noch Boden? Wegen der Unwissenheit des Volkes, antwortet der
bürgerliche Fortschrittler, der Radikale oder der bürgerliche Materialist.
Also, nieder mit der Religion, es lebe der Atheismus, die Verbreitung atheistischer
Anschauungen ist unsere Hauptaufgabe. Der Marxist sagt: Das ist falsch. Eine
solche Auffassung ist oberflächliche, bürgerlich beschränkte Kulturbringerei.
Eine solche Auffassung erklärt die Wurzeln der Religion nicht gründlich genug,
nicht materialistisch, sondern idealistisch.
In den modernen
kapitalistischen Staaten sind diese Wurzeln hauptsächlich sozialer Natur. Die
soziale Unterdrükkung der werktätigen Massen, ihre scheinbar völlige Ohnmacht
gegenüber den blind waltenden Kräften des Kapitalismus, der den einfachen
arbeitenden Menschen täglich und stündlich tausendmal mehr entsetzlichste
Leiden und unmenschlichste Qualen bereitet als irgendwelche außergewöhnlichen
Ereignisse wie Kriege, Erdbeben usw. - darin liegt heute die tiefste Wurzel
der Religion. „Die Furcht hat die Götter erzeugt." Die Furcht vor der
blind wirkenden Macht des Kapitals, blind, weil ihr Wirken von den Volksmassen
nicht vorausgesehen werden kann und dem Proletarier und dem Kleineigentümer bei
jedem Schritt ihres Lebens den „plötzlichen", „unerwarteten",
„zufälligen" Ruin, den Untergang, die Verwandlung in einen Bettler,
einen Pauper, eine Prostituierte, den Hungertod zu bringen droht und auch
tatsächlich bringt - das ist jene Wurzel der heutigen Religion, die der
Materialist vor allem und am meisten beachten muß, wenn er nicht ein AbcSchütze
des Materialismus bleiben will. Keine Aufklärungsschrift wird die Religion aus
den Massen austreiben, die, niedergedrückt durch die kapitalistische
Zwangsarbeit, von den blind waltenden, zerstörerischen Kräften des Kapitalismus
abhängig bleiben, solange diese Massen nicht selbst gelernt haben werden, diese
Wurzel der Religion, die Herrschaft des Kapitals in all ihren Formen vereint,
organisiert, planmäßig, bewußt zu bekämpfen.
Folgt daraus etwa,
daß eine Aufklärungsschrift gegen die Religion schädlich oder überflüssig wäre?
Keineswegs. Daraus ergibt sich etwas ganz anderes. Daraus folgt, daß die
atheistische Propaganda der Sozialdemokratie ihrer Hauptaufgabe untergeordnet
sein muß: der Entfaltung des Klassenkampfes der ausgebeuteten Massen gegen die
Ausbeuter.
Jemand, der sich
nicht in die Grundlagen des dialektischen Materialismus, d. h. der Philosophie
von Marx und Engels, vertieft hat, wird diese These möglicherweise nicht
begreifen (oder
zumindest nicht sofort begreifen). Wie soll das möglich sein? Die ideologische
Propaganda, die Propagierung bestimmter Ideen, der Kampf gegen den Feind der
Kultur und des Fortschritts, der sich seit Jahrtausenden am Leben hält (d. h.
gegen die Religion), soll dem Klassenkampf, d. h. dem Kampf für bestimmte
praktische Ziele auf ökonomischem und politischem Gebiet, untergeordnet
werden?
Ein solcher Einwand
gehört zu den landläufigen Einwänden gegen den Marxismus, die nur davon
zeugen, daß man die Marxsche Dialektik ganz und gar nicht verstanden hat. Der
Widerspruch, der alle jene verwirrt, die solche Einwände erheben, ist ein
lebendiger Widerspruch des lebendigen Lebens, d. h. ein dialektischer
Widerspruch und kein Widerspruch in Worten, kein ausgedachter Widerspruch. Die
theoretische Propaganda des Atheismus, d. h. die Zerstörung des religiösen
Glaubens bei gewissen Schichten des Proletariats, durch eine absolute,
unüberschreitbare Grenze von dem Erfolg, dem Verlauf, den Bedingungen des
Klassenkampfes dieser Schichten trennen heißt undialektisch denken, heißt das
zu einer absoluten Grenze machen, was eine bewegliche, relative Grenze ist,
heißt etwas gewaltsam auseinanderreißen, was in der lebendigen Wirklichkeit
untrennbar miteinander verbunden ist. Nehmen wir ein Beispiel. Gesetzt, das
Proletariat eines bestimmten Gebiets und eines, bestimmten Industriezweigs
zerfalle in eine fortgeschrittene Schicht ziemlich bewußter Sozialdemokraten,
die selbstverständlich Atheisten sind, und in ziemlich rückständige, noch mit
dem Dorf und der Bauernschaft verbundene Arbeiter, die an Gott glauben, in die
Kirche gehen oder sogar unter dem direkten Einfluß des Ortsgeistlichen stehen,
der, sagen wir, einen christlichen Arbeiterverein gründet. Gesetzt ferner, der
ökonomische Kampf habe in einem solchen Ort zu einem Streik geführt. Der
Marxist ist verpflichtet, den Erfolg der Streikbewegung in den Vordergrund zu stellen,
einer Aufspaltung der Arbeiter in diesem Kampf in Atheisten und Christen
entschieden entgegenzuwirken und gegen eine solche Aufspaltung entschieden zu
kämpfen. Atheistische Propaganda kann unter diesen Umständen ganz überflüssig,
ja schädlich sein - nicht vom Standpunkt spießerlicher Erwägungen über die
Abschreckung der rückständigen Schichten, über einen Mandatsverlust bei den
Wahlen usw., sondern vom Standpunkt des wirklichen Fortschritts des Klassenkampf
es, der unter den Verhältnissen der modernen kapitalistischen Gesellschaft die
christlichen Arbeiter hundertmal besser zur Sozialdemokratie und zum Atheismus
führen wird als die bloße atheistische Propaganda. Ein Propagandist des
Atheismus würde in einem solchen Augenblick und unter solchen Umständen nur dem
Pfaffen und dem Pfaffentum Vorschub leisten, die nichts sehnlicher wünschen
als eine Aufspaltung der Arbeiter nach dem Glauben an Gott anstatt ihrer
Scheidung nach der Streikbeteiligung. Ein Anarchist, der den Krieg gegen Gott
um jeden Preis predigt, würde dadurch in Wirklichkeit den Pfaffen und der
Bourgeoisie helfen (wie ja die Anarchisten in Wirklichkeit stets der
Bourgeoisie helfen). Ein Marxist muß Materialist sein, d. h. ein Feind der
Religion, doch ein dialektischer Materialist, d. h. ein Materialist, der den
Kampf gegen die Religion nicht abstrakt, nicht auf dem Boden einer abstrakten,
rein theoretischen, sich stets gleichbleibenden Propaganda führt, sondern
konkret, auf dem Boden des Klassenkampfes, wie er sich in Wirklichkeit abspielt,
der die Massen am meisten und am besten erzieht. Ein Marxist muß es verstehen,
die ganze konkrete Situation zu berücksichtigen, stets die Grenze zwischen
Anarchismus und Opportunismus zu finden (diese Grenze ist relativ, beweglich,
veränderlich,
aber sie existiert),
er darf weder in das abstrakte, phrasenhafte, in Wirklichkeit hohle
„Revoluzzertum" des Anarchisten verfallen noch in das Spießertum und den
Opportunismus des Kleinbürgers oder des liberalen Intellektuellen,
der sich nicht traut,
gegen die Religion zu kämpfen, der diese seine Aufgabe vergißt, sich mit dem
Glauben an Gott abfindet, sich nicht von den Interessen des Klassenkampfes
leiten lässt, sondern von der kleinlichen, kläglichen Berechnung: niemanden
kränken, niemanden abstoßen, niemand abschrecken – von der neunmalweisen Regel
„Leben und leben lassen“...
Von diesem Standpunkt
aus müssen alle Einzelfragen gelöst werden, die das Verhältnis der
Sozialdemokratie zur Religion betreffen...“
„Proletari" Nr. 45,
13. (26.) Mai 1909.
Werke, Bd. 15, S.
404-415.
11. Abschließende
Bewertung
Lenins
historisch-materialistische Grundanschauung von der Stellung des Menschen im
Kosmos steht - bei aller tieferen Problematik, die sie in sich birgt - in
klaren und durchsichtigen Sätzen vor uns: Der Mensch ist eine besondere Bildung
der einen allumfassenden Natur, der materiellen Welt. Er ist selbst ein
materielles Wesen, d. h. ein stoffliches, körperliches Gebilde inmitten der
anderen materiellen Gebilde, in Wechselwirkung und in Abhängigkeitsbeziehungen
mit ihnen. Er ist entwicklungsgeschichtlich aus dem Mutterschoß - der Name
„Materie" hat hierin seinen tieferen Sinn - der lebendigen und der
unbelebten Natur hervorgegangen und bleibt stets in sie eingeordnet, an sie
rückgebunden, wie hoch er sich auch als ein besonderes, plus-quam-naturales
Wesen über sie erheben mag. Der Mensch teilt - jedenfalls als Individuum, auch
als Gattung das Schicksal alles Natürlichen, das der Endlichkeit und
Vergänglichkeit. Das, womit er sich über die ganze übrige Natur erhebt, ist
seine produktive Leistung, durch die er eine Kultur hervorbringt, seine
spezifisch menschlich-gesellschaftliche Welt, die seine „zweite Natur"
bildet und ihn gegen die Unbilden der ersten, ursprünglichen Natur schützt.
Das besondere Problem des Atheismus.
Der Mensch ist ebenso
wie die ganze Welt nicht das Geschöpf eines göttlichen Urhebers, er steht in
seinem Leben und Tun nicht unter
einer göttlichen
Lenkung und Gesetzgebung, er hat nicht in Gott (oder einer Mehrzahl von
Göttern) ein personales Gegenüber, an das er sich in seinen Angelegenheiten und
Nöten wenden könnte. Ihn erwartet nach seinem Tode nicht das Jenseits eines
„anderen" Daseins in Erlösung oder Verdammnis, auf das hin er sein
irdisches, „diesseitiges" Leben zu führen hätte. Und wenn der Mensch sich
im Laufe seiner bisherigen Geschichte eine solche göttliche Macht und andere
Welt in mannigfachen Gestalten imaginiert hat, so ist das wiederum kein
unwandelbares Attribut seiner Natur, sondern ein Resultat geschichtlich
besonderer ebensumstände.
Dieser konsequente
Atheismus der marxistisch-leninistischen Weltanschauung ist nicht bloß ein
„politischer" Atheismus (obwohl ihm die politischen Verflechtungen der
Religionen zweifellos seine besondere Vehemenz verliehen haben), sondern
durchaus ein prinzipiell-theoretischer Standpunkt; auch ist er nicht generell
ein „postulatorischer" Atheismus, für den es einen Gott nicht geben
„darf", weil sich sonst der Mensch in seinem Streben beengt fühlen müßte
(ein Postulat dieser Art richtet sich allenfalls gegen das religiöse
Bewußtsein). In seinem theoretischen Kern versteht sich der marxistische
Atheismus ganz einfach als die Durchstreichung der „Hypothese Gott".
12. Religion –
dialektisch-materialistisch betrachtet
Schlussthesen und
Ausblick
1. Religion entsteht
und hält sich am Leben unter gesellschaftlichen Bedingungen, die es den
Menschen nicht gestatten, die natürlichen und gesellschaftlichen Grundlagen
ihres Lebens - in die ihre individuellen Problemstellungen
eingebettet sind - zu begreifen. Den Bedingungen ihres Lebens gegenüber
entwickeln die Menschen zwar Bewußtseinsinhalte, aber da es unbegriffene Bedingungen
sind, sind es falsche Bewußtseinsinhalte, falsche Formen der geistigen
Aneignung der Wirklichkeit. Religion kann folglich nur absterben, wenn die
Gesellschaft einen Entwicklungsstand erreicht, unter dem die Massen die
natürlichen und gesellschaftlichen (eingeschlossen : die individuellen)
Bedingungen ihres Lebens beherrschen können.
2. Religion ist ihrem allgemeinen Charakter gemäß eine Art
der idealistischen Weltanschauung. Stets liegen ihr Formen der Aufspaltung der
einheitlichen materiellen Welt in eine diesseitige und jenseitige, der
Verjenseitigung, der Verabsolutierung menschlicher Wesenskräfte zugrunde. Es
handelt sich um geistige Wesenskräfte des Menschen.
3. Dennoch ist Religion nicht einfach idealistische Philosophie.
Zwar verabsolutiert sie menschliche Geisteskräfte, aber keinesfalls primär ihre
abstrakt-rationalen Bereiche. Wegen der Funktion von Religion, Weltanschauungsbedürfnisse
von Massen (in falscher geistiger Art) zu befriedigen, muß Religion in hohem
Maße emotionale, ästhetische Bereiche des menschlichen Geistes ansprechen und
zugleich verabsolutieren, damit sie auch die in Unbildung gehaltenen Massen
erreicht. Dieser Funktion von Religion entspricht ihr anthropomorpher Charakter.
4. Religion stellt eine falsche Art der geistigen Aneignung
der Wirklichkeit dar, was bedeutet, daß der Mensch in und mit der Religion
Macht über die Wirklichkeit erhalten, Einfluß auf sie ausüben, das religiöse
Subjekt in seinen Dienst stellen will, wozu bestimmte religiöse Handlungen:
Bitten, Gebete, Beschwörungen, Opfer gehören.
5. Religion ist erst auf einer relativ hohen
Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaft entstanden, kann keine
allgemeine, dem „Wesen des Menschen" entspringende Erscheinung sein.
Allerdings entstanden die ersten Formen von Religion (Naturreligion) schon vor
der Herausbildung der Klassengesellschaft,
auf der Grundlage der dämmernden Erkenntnis, daß der Mensch nicht nur eins mit
seiner naturhaften Umgebung und daß diese ihm gegenüber eine ihn
überwältigende Macht sei.
6. Mit der Herausbildung der Klassengesellschaft wurzelt
Religion zunächst auch, später primär, in den unverstandenen Grundbedingungen
des gesellschaftlichen Lebens und in den Klasseninteressen der ausbeutenden und
unterdrückenden Klassen.
7. Religion, historisch entstanden, ist auch dem
historischen Wandel unterworfen. Auf der Grundlage der allgemeinen
Charakteristiken und Funktionen von Religion paßt sie sich den grundlegenden
Bedingungen der jeweiligen Gesellschaftsformation so an, daß z. B. das
Christentum der untergehenden römischen Sklavenhaltergesellschaft, dasjenige
des Feudalismus und dasjenige des Kapitalismus wesentliche Unterschiede aufweisen.
8. In der Klassengesellschaft kommt der Religion eine konservative,
systemerhaltende Funktion zu, stellt sie eine systemstabilisierend auf die
Gesellschaft einwirkende Macht dar. Infolge der Teilung der Arbeit in manuelle
und geistige, bei Zuordnung einerseits der manuellen Arbeit an die
Ausgebeuteten und Unterdrückten, andererseits der Tätigkeit der Priester als
geistig Arbeitenden an die herrschende und ausbeutende Klasse, aus der sich
auch der höhere Klerus rekrutiert, infolge der Höherbewertung geistiger Arbeit
und ihrer Vergöttlichung (Gott ist Geist), infolge der idealistisch und
anthropomorph die realen Verhältnisse falsch darstellenden Macht der Religion
(Ursache wird Wirkung, das Geschöpf des Menschen - Gott - zum Schöpfer des Menschen),
infolge der Sanktionierung bestehender Macht und der Verurteilung der
Revolution sowie der Pervertierung sozialrevolutionärer Theorie und Praxis in
eine Jenseitslösung und (höhere) geistige Belohnung für erlittene materielle
Ungemach ist Religion ein erstrangiges Manipulierungs-, Desorientierungs-,
Herrschaftsmittel der jeweils herrschenden Ausbeuterklasse, das auf wirksamste
Weise deren materiellen Zwangsapparat ergänzt.
9. Wie alle ideologischen Formen, so schafft sich auch die Religion ihren politischen
Niederschlag: die Kirchen. Sie sind mächtige
gesellschaftliche Organisationen, Angehörige aller Klassen vereinigend, sie
aber an die staatlich-politische Macht ausbeutender und unterdrückender Klassen
bindend, die sozialrevolutionäre
Bewegung durch die theologische Konstruktion der „Zwei-Reiche-Lehre" abwiegelnd.
10. Religion und Kirchen entwickeln sich in der Klassengesellschaft
und unter dem Einfluß der Klassenkämpfe und Revolutionen. Sozialrevolutionäre
Gehalte, Ausdruck gesellschaftlicher Umbruchszeiten (Gleichheitsvorstellungen
vor allem), dringen auch in die Religion ein, wo sie einerseits Bestandteil
falschen Bewußtseins werden (Gleichheit vor Gott schließt Ungleichheit vor der
weltlichen Macht, eher ein als aus). Dennoch sind sie immer wieder
Berufungsquellen von Revolutionären mit religiöser Überzeugung gewesen. Nicht
die Religion war oder ist jedoch die Wurzel solch revolutionären Verhaltens,
sondern der reale Klassenkampf, und das religiöse Bewußtsein ist weit öfter
die Quelle für unhistorische politische Vorstellungen von Revolutionären, für
anarchistische Vorstellungen. Revolutionäre Zielstellungen werden um so
klarer sein, je mehr sie real gesellschaftlich-historischer Art, je weniger
religiös sie sind.
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