Mittwoch, 19. Oktober 2016

Was ist Religion - Philosophischer Essay

Was ist Religion – Eine vorläufige philosophische Betrachtung

In der folgenden Betrachtung wird die Frage nach dem Wesen der Religion gestellt. Ich

frage: „Was ist Religion?“ und versuche begrifflich zu erfassen, was in lebendigen

Zeugnissen und Bekenntnissen als Religion sichtbar ist. Dabei wird eines sogleich deut-

lich, nämlich, daß man diese Frage nicht beantworten kann, wenn man nicht eine

ungefähre Ahnung von dem hat, was man unter Religion verstehen will, denn sonst

könnte man die geschichtlich gegebenen Phänomene nicht finden, welche die

Grundlage der Definition bilden sollen. Wir müssen also wissen, es handelt sich um

bestimmte Erscheinungen, die irgendwie mit einer überirdischen Wirklichkeit zu tun

haben. Diese ganz allgemeine Feststellung muß getroffen werden, ehe wir auf die

Suche gehen nach Phänomenen, welche in diesen Bereich fallen, um von ihnen

hernach ihr Wesen auszusagen.

Ich frage also: Was ist die Lebensmitte der religiösen Bekenntnisse, was ist Religion?

Ich glaube, daß man das innerste Wesen dessen erfaßt, was in Worten sich bekundet,

wenn man sagt:

Religion ist erlebnishafte Begegnung des Menschen mit dem Heiligen und antwortendes

Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen.

Ich werde diese Definition im einzelnen erläutern und vertiefen. Aber zunächst schon ist

sichtbar, dass mit dieser Rahmendefinition ausgeschlossen ist eine Mißdeutung der

Religion in bestimmten, immer wiederkehrenden Richtungen, nämlich einerseits ist völlig

ausgeschlossen, Religion als eine Art vorwissenschaftlicher Welterklärung anzusehen,

und auf der anderen Seite kann man Religion auch nicht als eine theologisch-

sanktionierte Moral definieren. Beides ist geschehen und geschieht auch weiterhin,

obwohl bereits Schleiermacher gegen diese beiden Mißdeutungen der Religion in

seinen berühmten „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“

1799 Front gemacht hatte. Gehen wir also im einzelnen die vorangestellte Definition

durch und analysieren wir die Elemente, die in dieser Rahmendefinition,

bewußtermaßen formal zunächst, gegeben sind, dann zeigt sich folgendes: zunächst

einmal Begegnung, erlebnishafte Begegnung mit heiligen Mächten. Das bedeutet also,

daß der Ort der Begegnung und die Art der Begegnung festliegen. Erlebnishafte

Begegnung soll es sein, und das Objekt der Begegnung sind heilige Mächte. Es handelt

sich also um Erfahrung, um lebendige Erfahrung, die im Innern des menschlichen

Subjektes vor sich geht. Und diese Begegnung geschieht in der weiten Welt irdischer

Erscheinungen.

Das erste und allgemeinste Objekt der Begegnung mit dem Heiligen ist die den

Menschen umgebende Natur.

Dass Naturgegenstände wie Berge und Bäume, Wasser und Feuer, Steine und Erde

und so weiter Erscheinungsformen numinoser Macht und numinoser Mächte sein

können beziehungsweise als solche erlebt werden, ist eine weitverbreitete Anschauung,

zumal in den Frühformen der Religion. Wir müssen indessen das Objektgebiet, das wir

hier im Auge haben, über die naturalen Einzelerscheinungen hinaus erweitern und auf

die gesamte außermenschliche Welt und ihre Ordnungen ausdehnen; denn im Ablauf

kosmischen Geschehens und irdischer Geschichte wittert der Mensch als Ursache

heilige, hintergründige Mächte persönlicher oder unpersönlicher Art.

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Unter den Medien bzw. Objekten der religiösen Begegnung nimmt weiterhin das heilige

Wort eine besondere Stelle ein. Es begegnet uns in mannigfachen Formen, als

Schöpfungswort, als Wort prophetischer Verkündigung, als metaphysische Realität, als

Wort der Religionsstifter. Hervorragendes Wort-Medium ist ferner die heilige Schrift. In

allen Religionen, in denen es heilige Schriften gibt, besteht Einmütigkeit darin, dass an

einen wie immer im einzelnen vorgestellten göttlichen Ursprung dieser Schriften

geglaubt wird.

Ein weites Gebiet innerweltlichen Lebens, auf das sich die religiöse Erfahrung der

Menschheit seit frühen Tagen richtet, ist das individuelle Schicksal. Das deutsche Wort

Schicksal deutet ja selbst bereits an, daß das den Menschen betreffende Geschehen

hinsichtlich seines Ursprungs eine Deutung erfährt. Das Ereignis als solches ist nicht

ohne weiteres Schicksal bzw. als solches im eigentlichen Sinne erkennbar. Schicksal

kommt von „schicken“. Nennt man einen Vorgang Schicksal, dann sagt man damit, daß

man es als „geschickt“ von einer Schicksalsmacht ansieht.

Alle diese vordergründigen Bezirke des Lebens sind der Ansatzpunkt der Begegnung

mit dem Heiligen, das darinnen sich bekundet. Und so ist die eigentliche Frage also die:

was ist das „Heilige“, dem in diesen Eindrücken und sinnlichen Erfahrungen begegnet

wird?

Ich beziehe mich hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung dessen, was das Heilige ist,

auf das Buch von Rudolf Otto „Das Heilige“, das 1917 in erster Auflage erschienen ist. In

diesem Buch wird die Frage gestellt, worin das eigentümliche Wesen des religiösen

Objektes, also eben des Heiligen liegt. Diese Frage aber wird nicht beantwortet, indem

spekulativ irgendwelche Theorien über Gott und Jenseits aufgestellt werden, sondern

indem, gerade von der Erkenntnis aus, daß man das Heilige nicht in wissenschaftlicher

Erkenntnis direkt erfassen kann, der Umweg über den Menschen genommen wird. Die

Frage ist also: was meinen religiöse Menschen in aller Welt und in allen Religionen,

wenn sie bekunden, daß sie vom Heiligen ergriffen seien, wenn sie in Texten bezeugen,

irgendwo und irgendwie dem Heiligen begegnet zu sein? Was finden sie bei sich selber

für eine Bestimmtheit vor, die ja feststellbar ist, eine Bestimmtheit, deren

entsprechender bestimmender Gegenpol eben das Heilige ist, das nicht in unmittelbarer

wissenschaftlicher Erkenntnis zugänglich ist. Darauf antwortet Rudolf Otto: das Heilige

ist das „Numinose“, und zwar das Numinose, das nun eben nicht mit den Begriffen des

Rationalen und vor allem des Moralischen identisch ist, sondern die Reaktion auf das

Heilige, durch die wir das irrationale Heilige umschreiben, ist eine eigentümliche

Gemütsbestimmtheit. Und eben dieses Heilige minus seines sittlichen Gehaltes nennt

Otto das Numinose. Dieses Numinose aber erscheint als das ganz andere, als das

Überweltliche, das Unirdische. Diese Ausdrücke, die aus dem Bereich des Räumlichen

genommen sind, sind aber eben nicht räumlich gemeint, sondern sind Qualitätsbegriffe,

welche eine Modalität des Seins, eine Modalität der numinosen Wirklichkeit aussagen.

Das Numinose ist nicht grundsätzlich das Außerweltliche, es vermag ja eben

auch innerhalb dieser Welt erfahren zu werden. Aber es ist grundsätzlich anders als

alles Weltliche, es ist ein Etwas, das sich aller Vergleichbarkeit entzieht und das nicht

einzuordnen ist in die bekannten irdischen Kategorien. Wie wir schon sagten: der

Erscheinungsbereich dieses Numinosen ist das natürliche Sein, ein Stück Welt, an dem

Überweltliches, Unweltliches erfahren wird. Will man noch näher die Erfahrung des

Heiligen, von der Seite des Subjektes her definieren, dann bedient man sich der von

Otto dafür geprägten Begriffe.

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Zunächst einmal ist es das Mysterium tremendum. Dieses Heilige wirkt auf den

Menschen, indem es ihn erhebt, aber zugleich erdrückt, indem es Zittern in ihm erregt

und ein Gefühl des Befremdetseins. Es ist der heilige Gott, der ferne und unnahbare,

der geheimnisvolle Gott. Alle diese Bildbegriffe wollen auf dieses eine erste

grundlegende Moment in der Erfahrung des Heiligen hinweisen, nämlich auf das

Abdrängende, das Befremdende, das den Menschen in seiner Geschöpflichkeit erzittern

Machende.

Daneben steht in merkwürdiger Kontrastharmonie ein zweites, das R. Otto das

„Fascinans“ nennt, das Anziehende, das Beglückende, die Erfahrung des ewig

begehrenswerten Guten.

Auch dieser Wert, dieses Beseligende und Beglückende, ist unvergleichbar. Es ist ein

absoluter Selbstwert, kein dienender Wert. Es ist das absolut Beglückende. Alle diese

Begriffe, wie gesagt, deuten an, aber sie erschöpfen nicht.

Ein Drittes kommt hinzu, das Otto das „Augustum“ nennt. Damit meint er nun wiederum

eine Qualität des Heiligen, die er umschreibt durch die Reaktion des Menschen auf sie,

nämlich als Abwertung der Modalität des empirischen Seins.

Es bedeutet die Abwertung der gesamten irdischen Existenz des Menschen als eines

Wesens in einer ungöttlichen, unheiligen Wirklichkeit. Und eben den entsprechenden

Wert innerhalb der Welt des Heiligen nennt Otto das Augustum, das Erhabene. Wir

müssen schon hier, ehe wir später von den Gottesvorstellungen reden, uns klar darüber

sein, daß das Heilige sowohl als neutrales und impersonales als auch als persönliches

göttliches Wesen erfahren und vorgestellt werden kann. Aber alle später zu erörternden

Auffassungsweisen des Göttlichen haben das gemeinsam, daß sie alle sich auf eine

Wirklichkeit beziehen, die die Qualitäten des Heiligen hat.

Wenn wir also gesagt haben, daß Religion einerseits Begegnung des Menschen mit

dem Heiligen ist, so steht auf der anderen Seite die Reaktion: antwortendes Handeln

des vom Heiligen bestimmten Menschen. In dieser zweiten Seite der Definition ist die

Reaktion des Menschen ausgesprochen, die zum Wesen der Religion unbedingt

dazugehört.Religion ist eben nicht nur Gefühl, nicht nur Erlebnis, sondern auch Antwort

auf dieses Erlebnis und diese Antwort im weitesten Sinne verstanden. Es bedeutet, daß

der Mensch, der hier jetzt handelt, in den verschiedenen Bezirken möglichen Handelns,

vom Heiligen bestimmt ist. Insofern ist damit gesagt, daß Religion entscheidend eine

Lebensform ist und nicht etwa eine Denkform oder eine spekulative phantastische

Vorstellungsform. Alles das ist Religion eben nicht, sondern sie ist eine Lebensform, die

sich aus diesen Elementen zusammensetzt.

Antwortendes Handeln aber ist eine bewußt formale und umfassende Bezeichnung.

Denn selbstverständlich ist antwortendes Handeln auf vielen Gebieten möglich. Es

gehört hierher schon die Antwort, die im Mythos, der religiösen Frühsprache der

Menschheit, gegeben ist. Schon der Mythos ist eine Antwort und das Gebetswort ist

selbstverständlich Antwort im gleichen Sinne.

Hierher gehört der weite Bereich des Kultus, der selbstverständlich ebenso ein Handeln,

und zwar ein antwortendes Handeln ist. Es gehört weiter hierher die Welt des Sittlichen

und der religiösen Kunst, natürlich auch alle theologischen und rationalen Versuche

begrifflicher Selbstklärung dieser Erfahrung. Alles das gehört in den Bereich des

antwortenden Handelns und alles das gehört, mit dem Moment der Begegnung mit dem

Heiligen zusammen, zum Wesen der Religion.

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Nachdem ich so das Wesen der Religion begrifflich umschrieben habe, will ich das

Gesagte dadurch noch weiter verdeutlichen, daß ich uns in Kürze mit mancherlei

Theorien auseinandersetze, die den Ursprung der Religion erklären sollen. Dabei wird

sich zeigen, daß die meisten dieser Ursprungstheorien zum ständigen Rüstzeug aller

durch die Zeiten sich ziemlich gleich bleibenden Angriffe auf die Möglichkeit von

Religion innerhalb der modernen Welt und ihres Weltbildes gehören. Zugleich aber läßt

sich zeigen, daß diese Theorien eine Auffassung vom Wesen der Religion

voraussetzen, die religionswissenschaftlich als überwunden gelten muß.

Da ist zunächst die soziologisch positivistische These zu berücksichtigen, welche

besagt: Religion ist aus sozialem Elend entsprungen, indem verelendete Schichten zum

Trost für irdisches Ungemach sich ein seliges Jenseits erträumten, in dem alle Wünsche

erfüllt sind, die ihnen hier ewig versagt bleiben. Die führenden Schichten haben diesen

illusionären Glauben bewußt gepflegt, um die Geführten ihr soziales Elend vergessen zu

machen. Die Verbesserung der irdisch-wirtschaftlichen Verhältnisse wird daher die

Religion in wachsendem Maße aufheben. Diese Theorie ist schon von der

Religionsgeschichte her zu widerlegen, denn manche Religionist geradezu inmitten von

Glanz und Reichtum entstanden. Die erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen ist in

den verschiedenen Bereichen des Lebens möglich, und wenn beobachtet wurde, daß

manche Religion wie zum Beispiel das Christentum unter Mühseligen und Beladenen

entsprang und gedieh, dann bedeutet das durchaus nicht, daß Armut die Wurzel der

Religion ist, sondern, daß die Begegnung mit dem Heiligen denen leichter möglich ist,

deren Inneres, aus Mangel an irdischen Gütern, nicht durch diese Welt absorbiert ist,

sondern offen ist für die überirdische Welt. Eben deshalb pries Jesus die Armen selig,

und nicht weil er Armut selbst für einen Wert hielt.

Immer wieder begegnet uns ferner die Erklärung der Religion aus primitivem

Erkenntnistrieb. Religion wäre dann vorwissenschaftliche Welterklärung, deren

Ergebnisse durch die spätere, heutige exakte Naturwissenschaft in wachsendem Maße

widerlegt werden. Die Möglichkeit von Religion würde daher mit fortschreitender

Erkenntnis aufgehoben werden, da ihre Wahrheit sich als Irrtum herausstellt. Bei diesem

Versuch, Religion zu erklären und gleichzeitig zu bekämpfen, zeigt sich besonders

deutlich, daß dabei von einem falschen Verständnis lebendiger Religion ausgegangen

wird, Der Sinn religiöser Aussage über Gott und Welt liegt nicht im Rationalen. Religiöse

Aussagen sind nicht aus Erkenntnistrieb entstanden, sie sagen vielmehr religiöse

Begegnung mit dem Heiligen aus, zum Beispiel im Mythos, dessen für uns schwer

nachvollziehbare Phantastik nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß ein Mythos echte

Wirklichkeitserfassung enthält und darstellt. Ausgesprochen wird sie in anschaulichen

Vorstellungsformen, die dem Weltbild des Frühzeitmenschen gemäß waren. Die im

Mythos wie in allen anderen religiösen Ausdrucksformen gegebene Erfassung

numinoser Wirklichkeit ist das zeitlos Gültige darin, die Wahrheit, die von keiner das

Weltbild korrigierenden Wissenschaft widerlegt werden kann.

An dieser Stelle darf ein Wort über den Begriff der Wahrheit in der Religion gesagt

werden. Wahrheit kann man verstehen als Richtigkeit einer Aussage über einen

objektiven Sachverhalt. Eine solche Aussage ist richtig, wenn ihr rationaler Inhalt mit

dem Sachverhalt übereinstimmt. Man kann aber unter Wahrheit auch die objektive

Wirklichkeit verstehen, wenn man etwa sagt, man habe die Wahrheit erkannt. In diesem

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doppelten Sinne begegnet uns nun auch in der Religion der Begriff der Wahrheit. Die

göttliche Wirklichkeit wird in religiösen Texten nicht selten als Wahrheit bezeichnet.

Hier ist Wahrheit nicht die Richtigkeit von Aussagen, sondern die göttliche Wirklichkeit

selbst. Die andere, zuerst genannte Anwendung des Begriffes Wahrheit im Sinne von

Richtigkeit kann in der Religionswelt legitim und illegitim sein. Legitim ist sie dann, wenn

man damit die in jeder Glaubenserfahrung gegebene religiöse Erkenntnis meint, auf die

ja die Begriffe richtig und falsch anwendbar sind. Man muß sich aber bewußt sein, daß

diese Art der religiösen Erkenntnis nicht mit rational-wissenschaftlicher Erkenntnis

identisch ist, so daß nicht einfach der ra= tionale Inhalt der Glaubensaussage „wahr“ im

Sinne von richtig sein kann, sondern wahr ist eine solche Aussage, wenn mit ihr, das

heißt in ihrem symbolischen Begriff religiöse Wirklichkeit erfaßbar ist. Illegitim aber ist

der Begriff Wahrheit als Richtigkeit in der Religion, wenn man die religiöse Aussage als

rationale Erkenntnisaussage auffaßt und mit wissenschaftlicher Erkenntnis gleichsetzt.

Hier setzt dann die berechtigte Kritik rationaler Wissenschaft ein und es entsteht der

Konflikt von Glauben und Wissen, der in lebendiger Religion nicht möglich ist. In dieser

Auffassung religiöser Wahrheit als rationaler Richtigkeit wurzelt die intolerante

Verfolgung fremder religiöser Meinung.

Bis in die Antike reicht der Versuch zurück, Religion als menschliche Erfindung zur

moralischen Lenkung der den Gesetzen des Staates widerstrebenden Menschen zu

erklären. Auch diese Theorie ist eindeutig falsch, denn die Religionsgeschichte beweist,

daß die Gottheiten der Frühzeit gerade keine moralischen Qualitäten haben und auch

nicht notwendig moralische Richter sind über das Tun der Menschen.

Immer wieder begegnet bis in die Gegenwart der Gedanke, die Gottesvorstellungen

seien phantasievolle Personifizierungen der Naturgewalten, denen sich der Mensch

hilflos ausgeliefert fühle. Man begründet diese These durch den Hinweis auf die vielen

Götter, die, wie der Gott des Gewitters, des Regens, der Fruchtbarkeit usw., eindeutig

Naturvorgänge zu ihrem Funktionsbereich haben. Die Naturbeziehung vieler Gottheiten

der Religionsgeschichte ist selbstverständlich nicht zu leugnen, sie bedeutet aber nicht,

daß Gottheiten aus Personifikation von Naturkräften entstanden seien. Die Gottheiten

werden ja auch nicht mit der Natur und ihren Kräften identifiziert, wohl aber, und das

bestätigt unsere Definition des Wesens der Religion, begegnet der Mensch in den

Naturvorgängen, zumal in den ihn erschütternden, dem Heiligen. Der Sonnengott ist

daher nicht die Sonne, aber die Sonne freilich ist sein Symbol. Durch eine

phantasievolle Personifizierung der Naturkräfte entständen übrigens auch niemals

heilige Götter, sondern bestenfalls gesteigerte Menschengestalten, denen das

Wesentliche am Gotteswesen fehlte, das Moment des Heiligen, und heilig sind alle

Gottheiten der Religionsgeschichte.

Feuerbach hat die Behauptung aufgestellt, die ihm vielfach nachgesprochen wurde,

„Götter sind die in göttliche Wesen verwandelten Wünsche der Menschen“. So ist es

nach seiner Ansicht vor allem der Selbsterhaltungstrieb, der angesichts des Todes das

Jenseits erfand.

Auch diese These ist schon von der Religionsgeschichte her als falsch erwiesen, denn

es gibt viele Religionen, die gar nicht an einer persönlichen Unsterblichkeit interessiert

sind und die gerade den natürlichen Selbstbehauptungstrieb des Menschen bekämpfen.

Religion ist dann also gerade nicht aus elementaren Wünschen des Menschen und aus

seinen Bedürfnissen entstanden, sondern sogar gegen seine natürlichen Triebe.

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Es ist auch unmöglich, Religion aus der Furcht abzuleiten, wie es ebenfalls bereits in der

Antike geschah. Daß Dämonenfurcht, zumal im Bereich der Naturreligion, eine wichtige

Rolle spielt, ist sicher. Aber man verwechselt Ursache und Wirkung, wenn man erklärt,

aus der Furcht sei Religion entsprun= gen, denn ehe man sich fürchtet, muß man

Wesen begegnet sein, die zu fürchten sind. Die Dämonen sind früher als die

Dämonenfurcht, man kann jene nicht aus dieser ableiten. Religion ist eben primär

Begegnung mit dem Heiligen.

Religion ist auch nicht aus dem Wunder entstanden, sofern man Wunder unrichtig

definiert als Durchbrechung des natürlichen Kausalzusammenhanges, denn in der

Frühzeit kannte man kein Naturgesetz, das durch wunderhafte Ereignisse hätte

durchbrochen werden können. Man kannte nur den gewohnten Ablauf der

Naturvorgänge. Das Ungewöhnliche, aber darum nicht naturgesetzlich Unmögliche, war

für den naiven Menschen die bevorzugte Offenbarungsform der Gottheit. Darum setzt

die Erfahrung des Wunderbaren den religiösen Glauben voraus, sie begründet ihn aber

nicht.

Der Glaube ist das Kind des Wunders. Auch das ist oft genug behauptet worden, daß

nämlich der Glaube aus den angeblich geschehenen Wundern erwächst und durch sie

begründet wird. Dazu ist ein Doppeltes anzumerken, einerseits schafft der Glaube

Wunder in dem Sinne, daß Wundererzählungen als Glaubensaussagen erdichtet

werden. Andererseits - und das ist der tiefere Sinn - sieht nur der Glaube Wunder auch

in Ereignissen, die an sich durchaus natürlich sind. Dem religiös nicht

Vernehmungsfähigen genügt die vordergründige Welt, sie gibt ihm keine Hinweise auf

numinose Mächte in und hinter den sichtbaren Erscheinungen. Es geht im religiösen

Wunder gar nicht um die Erklärbarkeit oder Unerklärbarkeit des beobachteten Vorgangs,

sondern darum, daß Menschen durch solche ungewöhnlichen (aber darum

naturgesetzlich nicht unmöglichen) Ereignisse zum religiösen Staunen, zum Sich-

Wundern veranlasst werden.

Was ist Religion?

Erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen

bestimmten Menschen. Sie entspringt weder aus rationaler Naturerklärung noch aus

menschlicher Phantasie, sondern aus echter Erfahrung einer heiligen Wirklichkeit, in der

menschliche Existenz verankert sein muß, wenn sie ganze, heile, also im Heil sich

vollziehende Existenz sein soll. Um dieses Heil kreist alle Religion, sei es, daß das

gegebene Heil bewahrt werden soll wie in den frühen Volksreligionen, sei es, daß es

erst gewonnen werden muss wie in den späten universalen Erlösungsreligionen.

Heinz Hübner, August 2016

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Mittwoch, 12. Oktober 2016

Gott und die Welt

Philosophicum Lech 2016

22.09.2016

Gott und die Welt

von Konrad Paul Liessmann

Eine Redewendung und was sie, zumal in unruhiger Zeit, besagen könnte – einige philosophische Überlegungen.

Wer ankündigt, über Gott und die Welt zu sprechen, darf mit einem wissenden Lächeln rechnen. Über Gott und die Welt – das ist eine Redensart, die fröhliche Unbekümmertheit ebenso signalisiert wie eine unverbindliche Beliebigkeit, die es sich erlauben kann, über alles Mögliche zu räsonieren, ohne thematische Fixierung, ohne gedankliche Verbindlichkeit, ohne Ergebnisorientierung. Gleichzeitig schwingt in diesen Bestimmungen ein Moment von Freiheit mit: reden können, ohne sich auf etwas festlegen zu müssen, vom einen zum anderen springend, dieses und auch jenes streifend, ohne jeden Anspruch auf schlüssige Argumentation oder angestrengte Überzeugungsarbeit.

Wer über Gott und die Welt spricht, löst keine Probleme, entschärft keine Konflikte und beugt sich nicht den Vorgaben der herrschenden Diskurse. Über Gott und die Welt zu reden, könnte als anarchische Gesprächsform gewertet werden, die quer steht zu den Ansprüchen, die an eine zeitgemässe Kommunikationskompetenz gerichtet werden. Allerdings: Ganz so beliebig ist die Rede über Gott und die Welt dann doch wieder nicht. Es handelt sich dabei weder um Smalltalk noch um jenen Tratsch, der Gerüchte über alles und jeden verbreitet. Wer über Gott und die Welt spricht, nimmt sich die Freiheit, auch einmal über jene grossen Fragen zu sprechen, deren Erörterung entweder als wenig zielführend oder als unpassend empfunden wird. Wer über Gott und die Welt spricht, spricht manchmal buchstäblich über alles und nichts.

Bipolares Denken

Hinter der Wendung «Gott und Welt» verbirgt sich allerdings eine der präzisesten Formeln der europäischen Geistesgeschichte. Mit diesen Begriffen wurde eine Wirklichkeitskonzeption auf den Punkt gebracht, die eine fundamentale Bipolarität zu ihrer Voraussetzung erklärt. In verschiedenen Begriffspaaren mit je unterschiedlichen Bedeutungsnuancen schwingt diese Dichotomie mit. Begriffe und Konzepte, die an Gott anschliessen, wie das Heilige, die Transzendenz, das Unendliche und Unsterbliche, ja das Geistliche und der Glaube, stehen in Kontrast und Konkurrenz zum Profanen, zur Immanenz, zum Endlichen und zur Sterblichkeit, letztlich zum Weltlichen und zu seiner Vernunft.

Brisant wird die Rede über Gott und Welt deshalb, weil diese Sphären einander nicht distanziert gegenüberstehen, sondern einander berühren, durchdringen, in Konflikt miteinander geraten und als Konkurrenten im Kampf um die Seele des Menschen auftreten. Die Welt war lange ein Synonym für die Verlockungen des Schmutzigen und Bösen, sich der Welt hingeben, der Welt verfallen, der Welt unterwerfen bedeutet immer, sich von einem Glanz blenden zu lassen, hinter dem ein Verhängnis lauert. Die Welt war der Ort der Eitelkeiten und des falschen, unglücklichen Bewusstseins. Das mittelalterliche Denken kannte noch den Topos der «Frau Welt», oft dargestellt als schöne, verführerische Frau, deren Rückseite ihr wahres Gesicht zeigte: einen vergänglichen, kranken, ekelerregenden Körper. Wer den Verlockungen des schönen Scheins entgehen wollte, musste danach trachten, dem Getriebe der Welt zu entkommen und Zuflucht zu finden in jener anderen Sphäre, die dem Wahren, dem Reinen, Ewigen und Göttlichen zugeordnet war.

Gott und die Welt: Man könnte die damit verbundenen Vorstellungen, Wertungen und affektiven Einstellungen auch mit der Nomenklatur beschreiben, die der Religionswissenschafter Mircea Eliade in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelte: das «Heilige» und das «Profane». Mit diesen Begriffen bezeichnete Eliade in erster Linie Ordnungsprinzipien des sozialen Lebens. Eliade vertrat die These, dass für den religiösen Menschen der Raum, in dem er lebt und der ihn umgibt, nicht «homogen» ist, sondern Teile und Bezirke aufweist, die von allen anderen prinzipiell verschieden sind. Es sind «heilige» Orte, die erst die Orientierung für die «profane Welt» geben.

Im Bereich des Heiligen gelten andere Gesetze als im profanen Raum. Gott ist im heiligen Bezirk gleichsam in die Welt eingewandert und schafft so zur profanen Welt nicht nur einen Kontrast, sondern auch die oft ritualisierten Formen einer anderen Welt in dieser Welt. Die Faszination, die etwa Tempel, Kirchen, Synagogen und Moscheen auch auf nichtreligiöse Menschen ausüben, zeugt noch immer von der Kraft dieser Unterscheidung. Diese Doppelung oder Aufteilung der Welt wirkt aber auch in Zeiten fort, die sich der umfassenden Profanierung verschrieben haben, Spuren einer religiösen Wertung der Welt werden sich, so Eliade, immer finden und nicht austilgen lassen.

Wie solche Spuren aussehen, welche Formen und Gestalten das Heilige in einer säkularisierten und profanierten Welt annehmen kann, hat Umberto Eco schon vor Jahrzehnten in zahlreichen Essays, die in der deutschen Übersetzung sinnigerweise unter dem Titel «Über Gott und die Welt» versammelt wurden, vorgeführt. Von Gott war in diesen Texten natürlich nicht mehr explizit die Rede, wohl aber davon, dass wir intellektuell auf ein neues Mittelalter zusteuern und die islamische Welt generell zu einer theokratischen Vorstellung des sozialen und politischen Lebens zurückkehrt – dies schrieb Eco 1979! Aber auch die damals in Italien wütenden Roten Brigaden, also der linke politische Terrorismus, wiederholten für Eco in «gewalttätigen Formen ein von der Mystik geprägtes Szenario»: das «Verlangen nach leidvoller Zeugenschaft», «Martyrium» und «reinigendem Blutbad». Vom islamischen Terror unserer Tage liesse sich wohl Ähnliches sagen – das sollte zu denken geben.

Eco vergass dabei nicht, auf jene Definition des Heiligen zu verweisen, die der Religionswissenschafter Rudolf Otto am Ende des Ersten Weltkriegs publiziert hatte und an die auch Mircea Eliade angeschlossen hatte: Otto hatte das Heilige als das «Numinose» bestimmt, abgeleitet vom lateinischen Wort für göttliche Wesen. Dieses Numinose ist vor allem durch das Moment des «tremendum» bestimmt, des Schauervollen, dann durch das Moment der «majestas», des Übermächtigen, und schliesslich durch das Moment des «fascinans», des Anziehenden. Keine Frage, dass sich das Heilige in einer profanen Welt in unterschiedlichen säkularisierten Formen erhalten kann: vom ästhetisch Erhabenen über die Unantastbarkeit der Menschenwürde bis zur Anbetung des Silicon Valley.

Die Säkularisierungsthese

Gerade Letzteres könnte tatsächlich als ein paradigmatisch heiliger Ort der Gegenwart beschrieben werden, auf den alle klassischen Bestimmungsstücke des Numinosen zutreffen: Macht, Faszination und Erschrecken. Und nur wenigen Ausgewählten ist es erlaubt, diesen Ort zu betreten und mit den Hohepriestern der digitalen Religion in Kontakt zu treten. Wem dies gelingt, der erzählt davon und von dem, was er nun weiss und andere nicht wissen, in jenem Modus der Erleuchtung, der in früheren Zeiten Menschen charakterisierte, denen sich ein Gott mitgeteilt hatte. Und wie die biblischen Propheten verkünden die Jünger des Silicon Valley, dass wir alle untergehen werden, wenn wir nicht in uns gehen und uns fit machen für die digitale Zukunft und die damit verbundenen Verheissungen, die himmlische Ausmasse erreichen: vom selbstfahrenden Auto über automatisierte Nahrungsmittelzustellung bis zur Unsterblichkeit.

Natürlich: Man soll die Säkularisierungsthese nicht zu weit treiben, und nicht alles, was in Vokabular oder Gestik an religiöse Kommunikationsformen und die dazugehörigen Formeln erinnert, indiziert im strengen Sinn eine Wiederkehr der Religion. Die findet schon dort statt, wo sich Gott nicht hinter den technoiden Euphemismen der Moderne verbergen muss, sondern als solcher angerufen werden kann, sie findet dort statt, wo heilige Schriften und die Worte der alten Propheten der Welt wieder ihre Ordnungsmuster oktroyieren wollen. Der Gottesstaat, wie ihn radikale Strömungen im Islam verkünden, zehrt von der Idee, dass das Immanente vom Transzendenten beherrscht und die Differenz von Gott und Welt zum Verschwinden gebracht werden soll.

Die moderne säkularisierte Lebenswelt versuchte ebenfalls, diese Differenz zumindest in ihrer klassischen Form einzuebnen, aber in die andere Richtung. Nun gibt es keine Transzendenz, keinen Gott mehr, der ausserhalb dieser Welt gedacht werden kann, Gott wird, im schlimmsten Fall, zu einer illegitimen Projektion, zu einem Opiat, zum Symptom einer Neurose, zu einem von Machtinteressen geleiteten Betrugsmanöver, im besten Fall zu einer kulturhistorisch interessanten Chiffre für soziale Fragen.

Nicht nur die philosophischen Debatten, auch die praktische Politik der Gegenwart hat sich an diesen widersprüchlichen Deutungen abzuarbeiten. Die aufgeklärte Position, die sich gerne Gott ohne die Welt und die Welt ohne Gott vorstellen wollte, lässt sich vielleicht theoretisch konzipieren, in der Praxis scheitert sie an jenen Gläubigen, die, in welcher Weise auch immer, Gott selbst in der Welt am Werke sehen wollen und das Ihre dazu beitragen möchten. Wie sehr wir schon wieder in deren Bann stehen, lässt sich übrigens aus dem neuen Trend ableiten, dass auch liberale, nichtreligiöse und nichtgläubige Menschen nun dazu aufrufen, einer Religionsgemeinschaft beizutreten, weil dadurch der soziale Zusammenhalt gestärkt werde. Man weiss nicht: Ist das eine Kapitulation der Aufklärung vor den neuen Herrschaftsansprüchen der alten Götter oder der hilflose Versuch, Religion ohne Gott wenn nicht zu denken, so doch zu praktizieren?

Angesichts solcher Entwicklungen, die unter dem Titel einer Renaissance der Religion ein postsäkulares Zeitalter einläuten könnten, möchte man doch daran erinnern, dass die Hoffnungen des modernen Menschen nicht im Heiligen, auch nicht in der Sakralisierung des Profanen, sondern in der Weltlichkeit der Welt lagen. Der Begriff der Welt konnte und kann nämlich auch als Gegenbegriff zu den heiligen Orten der Furcht und des Zitterns gedacht werden, als Inbegriff dessen, was das Leben dem Menschen bieten kann. Im Begriff der Welt schwebte immer schon die Ahnung von der Zugehörigkeit zu einer planetarischen Gemeinschaft mit.

Möglichkeitsräume

In die weite Welt hinausziehen, sich eine gewisse Weltläufigkeit aneignen, den Menschen als ein weltoffenes Wesen begreifen – all diese Formulierungen deuten die Welt nicht nur als einen existenziellen Möglichkeitsraum des Menschen und als einen Sehnsuchtsort, sondern bestimmen «Welt» immer als einen grösseren Zusammenhang, eine Totalität, wie sie in Hegels Begriff des «Weltgeistes» zum Ausdruck kommt, eine raumzeitliche Einheit, wie sie im Begriff des «Weltalters» noch mitschwingt, ein normativer Anspruch, wie er von Goethe etwa im Begriff der «Weltliteratur» festgelegt wurde. Und in Immanuel Kants Rede vom «Weltbegriff der Philosophie» drückte sich der Gedanke aus, dass es der Philosophie in einem universalen Sinn um den Gesamtzusammenhang des Daseins, um die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft gehen muss.

Wer über Gott und die Welt spricht, kann in einem leichten Plauderton beginnen. Schneller, als man glaubt, sieht man sich gezwungen, sehr genau über diese Begriffe nachzudenken: Es sind nämlich zentrale Fragen der Philosophie, die unter diesem Titel abgehandelt werden müssen. Die Unverbindlichkeit, die die Formel «über Gott und die Welt» nahelegt, hat dennoch – oder vielleicht deshalb – ihre Gründe. Am besten hat diese vielleicht Theodor W. Adorno formuliert: «Philosophie ist das Allerernsteste, aber so ernst wieder auch nicht.»

Konrad Paul Liessmann hat eine Professur am Institut für Philosophie der Universität Wien inne. Beim vorliegenden Text handelt es sich um das gekürzte Manuskript des Vortrags, den der Autor zur Eröffnung des 20. Philosophicum Lech am 22. September 2016 in Lech am Arlberg gehalten hat.

Dienstag, 5. Juli 2016

wie kann ich "glaube" fassen?

Zu Paul Tillich "Glaube - formal und material"
nach P. Tillich, Systematische Theologie Bd. 3, S. 155ff

Tillich wendet sich gegen die Verwechslung des Glaubens mit dem Fürwahrhalten. Deshalb definiert er "Glauben" neu von der formalen und materialen Seite her.
Die formale Seite des Glaubens umfasst jede Art von Glauben in allen Religionen und Kulturen und ist zu beschreiben als "Zustand des Ergriffenseins durch das, worauf sich die Selbst-Transzendierung richtet: das Unbedingte in Sinn und Sein." Kürzer formuliert er: "Glaube ist das Ergriffensein durch das, was uns unbedingt angeht."
      Dabei differenziert er die Korrelation eines subjektiven und eines objektiven Elements, das
      Anliegen des Menschen und die Unbedingtheit des Anspruchs.
      Jeder Mensch hat Glauben, denn es gehört zum Wesen des menschlichen Geistes, auf etwas
      Unbedingtes bezogen zu sein. Damit konstatiert Tillich einen fundamentalen und universalen
      Glaubensbegriff. Einen geschichtlichen Kampfplatz zwischen Glaube und Unglaube kann es
      somit nicht geben, allein verschiedene Formen des Glaubens, die sich darin unterscheiden,
      ob sie sich inhaltlich (materialiter) auf etwas Endliches und Bedingtes oder etwas Unendliches
      und Unbedingtes beziehen. Tillich spricht zum ersten von einem unwürdigen, zum zweiten
      von einem würdigen Glauben.
B)  Die materiale Seite des Glaubens wird von Tillich beschrieben als Zustand, "in dem der
      Mensch vom göttlichen Geist und für die transzendente Einheit unzweideutigen Lebens
      geöffnet ist." Oder genauer (resp. christliches Glaube): "Glaube ist der Zustand des 
      Ergriffenseins durch das neue Sein, wie es in Jesus als dem Christus erschienen ist."
      Damit wird materialiter die spezielle Definition des christlichen Glaubens zum Ziel,
      worauf alle Formen des Glaubens ausgerichtet sind, wobei der Anstoss stets der
      göttliche Geist ist, der den Zustand des Glaubens eröffnet.
Wenn Glaube - so Tillich - die Überwindung der Konflikte und Zweideutigkeiten im Leben des menschlichen Geistes durch den göttlichen Geist bezeichnet, kann es keine intellektuelle Zustimmung zu solcher Überwindung geben. Die Verifizierung des Glaubens bezieht sich nicht auf die Subjekt-Objekt-Struktur der menschlichen Wirklichkeit, sondern ergibt sich aus der Transzendierung dieser Struktur. Glaube stammt nicht vom Menschen, aber er lebt im Menschen. So ist sich der Mensch dessen bewusst, dass der göttliche Geist in ihm wirkt. Da Geist und Glaube im Menschen sind, weiß er um sie.
Dabei ist stets davon auszugehen, dass Glaube sich im Zustand des Ergriffenseins durch den göttlichen Geist ereignet. Er kann nicht mit menschlichen Geistfunktionen identifiziert oder aus ihnen abgeleitet werden. Damit stellt Tillich fest, dass Glaube weder durch Prozesse des Intellekts, noch durch Bemühung des Willens oder Bewegungen des Gefühls erzeugt werden kann.
Zusammenfassend spricht er inhaltlich von drei Elementen, in denen der Glaube unterschieden werden kann:
Das Geöffnetwerden durch den göttlichen Geist.
Das Aufnehmen des göttlichen Geistes trotz der unendlichen Kluft zwischen göttlichem und menschlichem Geist.
Die Erwartung der endgültigen Teilnahme an der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens.
Die drei Elemente sind korrelativ, folgen nicht linear aufeinander, sondern sind gegenwärtig, wo immer Glaube ist, der in allen Lebensprozessen sich als wirksam erweist.

Das Phänomen "Hören"

Nur Zuhören

Nicht wie wir zu anderen sprechen, noch was wir zu anderen sagen bestimmt unsere inneren Beziehungen, sondern wie wir den anderen  zuhören. Das heißt: wie lange und wie tief wir das Gesagte in uns klingen lassen können, ohne sofort zu reagieren. In dieser diziplinierten Verhaltenheit des Zuhörers liegt der ganze Kunst des Zuhörens.

Nur der hört wirklich zu, der nicht nur während jemand spricht, sondern auch nachdem jemand gesprochen hat, immer noch zuhören und in sich hineinhören kann.

Sprechen dient nur äußerlichem Kontakt und äußerlicher Kommunikation zwischen Menschen. Innerer Kontakt mit einem anderen Mensch entsteht aus einem nach innen gerichteten Horchen.

Zuhören ist die Urkunst des eigentlichen Da- und Mitseins, eine stille Verkörperung unseres Selbstseins, die das Wesen des anderen berührt und zu sich heranzieht. Zuhören ist echte und wesentliche Beziehung.

Wie und worüber jemand zu uns spricht ist auch durch unser Zuhören bestimmt. Die Art und Weise, wie wir zuhören, läßt den Sprecher spüren wofür wir offen sind und wofür nicht.

Sprechen erlaubt uns, über alles zu reden, ohne wirklich etwas von uns oder zu jemand zu sagen. In Wörtern kann ich ein “es” erklären. Nur schweigend und wortlos kann ich ganz Ohr sein und mein inneres Ich auf ein “Du” richten.

Sprechen zwingt uns, unser ganzes Denken und Fühlen durch intellektuelle und emotionelle Begriffe zu verstehen. Zuhören erlaubt uns, unser inneres Wissen und unsere inneren Gefühlstöne leiblich zu erleben und schweigend zu verkörpern.

Der andere wird nur dann zum wirklichen Gesprächspartner, wenn das, was gesagt wird, weder eine Rede über etwas ist, noch zum überreden eines anderen dient, sondern eine Antwort ist auf ein bisher Unausgesprochenes.

Wo unsere Aussagen nichts unausgesprochen lassen, sagen sie nichts. Wo unser Ohr nicht auf das Ungesagte horcht,  spricht uns nichts an.

Zuhören ist nicht nur der zeitweilige Verzicht, etwas zu sagen, sondern die Fähigkeit, unsere möglichen Ant-worten wortlos und wissentlich zurückzuhalten. Der verhaltende Zuhörer ist sich seines eigenes Ungesagten nicht nur bewußt, er un-sagt es durch die lautlosen Töne seines Hörens und Horchens.

Wenn man sich in etwas hineingehört hat, dann gehört man dazu.

Gruppenzugehörigkeit erwächst aus gegenseitigem Zuhören zu den Einzelnen durch das jeder seine eigene Stimme in den Worten des anderen hören kann.

Sogenannte “Metakommunikation” ist der eigentliche Grund der Kommunikation. Wo es keine Metakommunikation gibt, gibt es keine echte Kommunikation.

Der Kunst der echten Kommunikation ist die Kunst der bewußten Metakommunikation.

Sogenannte “dynamische Führungskräfte” sind oft Menschen, die ständig unter dem inneren Zwang stehen, aus einem Gespräch etwas  “machen” zu müssen, zu allem etwas zu fragen oder zu sagen zu haben, und auf andere sofort reagieren zu können.  Innere Stille und Schweigen können sie nicht ertragen. Deshalb ist es ihnen fast unmöglich, anderen Menschen wirklich zuzuhören. Ihr narzistischen Selbstbild erlaubt ihnen nicht, berührt und betroffen zu sein, oder durch das, was gesagt wird, zum Nachdenken gebracht zu werden.

Die Annahme, daß wir uns in einer Fremdsprache auf genau die gleiche Weise ausdrücken können müßten wie in unserer Muttersprache, ohne daß die Fremdsprache in ihrer Fremdheit auf uns einwirkt, stellt Sprachen als bloße Werkzeuge dar, die beliebig gegeneinander ausgetauscht werden können.

Wenn wir nicht bereit sind, unsere eigene Stimme durch die Stimme der Fremdsprache bestimmen zu lassen, dann scheint all das, was der Fremdsprache eigen, aber der Muttersprache fremd ist, nicht ganz zu “stimmen” oder gar “unlogisch” zu sein.

Sprache ist nicht durch Logik bestimmt - im Gegenteil, das, was wir logisch nennen, ist das, was mit der durch die Mutterprache bestimmten Struktur unsere Denkens übereinstimmt.

Lernerfolg im Spracherwerb heißt nicht, daß man eine Fremdsprache beherrscht, sondern daß man sich ihr hingibt.

Eine Fremdsprache zu lernen bedeutet vor allem, sich selbst und die Sprache mit einem neuen, anderen Ohr zu hören... das Sprechen folgt dann beinahe von selbst.

Eine Fremdsprache zu lernen heißt nicht nur, sich mit anderen Worten auszudrücken, sondern sowohl sich selbst als auch die Sprache selbst mit anderen Ohren zu hören.

Um ein französisches Wort richtig zu hören, muß man es mit einem französischen Ohr hören.

Um ein fremdes Wort oder einen fremden Satz richtig aussprechen zu können, muß man erst lernen, das Wort oder den Satz  innerlich zu wiederholen und  wiederhallen zu lassen.

Aussprache in jeder Sprache ist bestimmt durch inneres Hören und die Stimme unseres inneren Ohres.

Man übersetzt nicht Wörter. Man entnimmt dem einen Wort den Kern der Bedeutung und planzt ihn in den Boden der anderen Sprache.

Der Niedergang der Kultur

Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug

Ein gegenwartsdiagnostischer Kernpunkt der Dialektik der Aufklärung ist die „Aufklärung als Massenbetrug“. Unter Kulturindustrie ist die kommerzielle Vermarktung von Kultur zu verstehen; der Industriezweig, der sich gezielt mit der Herstellung von Kultur beschäftigt. Im Gegensatz dazu steht die authentische Kultur.

Nach Auffassung Horkheimers und Adornos raubt industriell hergestellte Kultur dem Menschen die Phantasie und übernimmt das Nachdenken für ihn. Die „Kulturindustrie“ liefert die „Ware“ so, dass dem Menschen nur noch die Aufgabe des Konsumenten zukommt. Durch Massenproduktion ist alles gleichartig und unterscheidet sich höchstens in Kleinigkeiten. Alles wird in ein Schema gepresst und erwünscht ist es, die reale Welt so gut wie möglich nachzuahmen. Triebe werden so weit geschürt, dass eine Sublimierung nicht mehr möglich ist.

Als Beispiel nennen sie den Kinofilm. Prinzipiell sind alle Filme ähnlich. Sie sind darauf ausgelegt, die Wirklichkeit möglichst gut wiederzugeben. Auch Fantasy-Filme, die den Anspruch erheben, nicht realitätsnah zu sein, werden den Anforderungen nicht gerecht. Egal, wie außergewöhnlich sie sein wollen, das Ende ist zumeist schon sehr schnell absehbar, da es nun mal viele Filme gibt, die nach dem gleichen Schema produziert wurden. Des Weiteren werden z.B. durch erotische Darstellungen Triebe so weit gestärkt, dass eine Umwälzung auf anderes nicht mehr möglich ist.

Das Ziel der Kulturindustrie ist – wie in jedem Industriezweig – ökonomischer Art. Alles Bemühen ist auf wirtschaftliche Erfolge ausgerichtet.

Die authentische Kultur hingegen ist nicht zielgerichtet, sondern Selbstzweck. Sie fördert die Phantasie des Menschen, indem sie Anregungen gibt, aber anders als die Kulturindustrie, den Freiraum für eigenständiges menschliches Denken lässt. Authentische Kultur will nicht die Wirklichkeit nachstellen, sondern weit über sie hinausgehen. Sie ist individuell und lässt sich nicht in ein Schema pressen.

Als Ursachen für die Entstehung von Kulturindustrie führen Horkheimer und Adorno an, dass sich Firmen finden, die Kultur vermarkten und dadurch das ökonomische Ziel der Profitmaximierung verfolgen. Durch diesen Umstand bleibt Kultur nicht, was sie ist bzw. sein soll, sondern wird eine Ware wie jede andere.

Banal und läppisch von Gott reden - Predigten kritisch betrachtet

Die Rede von Gott in heutigen Predigten Mit Gott auf du und du

Aus Deutsches Pfarrerblatt - Heft: 6 / 2016
Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts.

Von: Markus Beile

I. Das Wagnis eines jeden Sonntags

Ich gestehe es freimütig: Das Predigen ist mir in meiner Tätigkeit als Pfarrer nicht leicht gefallen. Die Schwierigkeit des Predigens bestand für mich weniger darin, die richtigen Formulierungen zu finden oder auf der Kanzel zu stehen im Angesicht vieler Menschen. Nein, da gab es eine grundsätzliche Schwierigkeit, vor allem, was das Reden von Gott anbetrifft: Wie kann man angemessen von Gott reden? War das nicht eine unmögliche Möglichkeit? »Gott als das Geheimnis der Welt«, so lautet der Titel eines berühmten Buches von Eberhard Jüngel. Wie soll man von etwas reden, das im Letzten ein Geheimnis ist und bleibt?

Im Studium hatten wir den berühmten Vortrag von Karl Barth besprochen, der die grundsätzliche Schwierigkeit, von Gott zu sprechen, folgendermaßen auf den Punkt gebracht hat: »Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.« Diese Worte erleichterten mir – wie man sich denken kann – das Predigen nicht gerade. Nun, mit den Jahren habe ich mich etwas leichter getan. Aber – trotz aller hilfreichen Routine – blieb das Predigen dennoch immer auch ein Wagnis, ein Ringen, ein Kampf, eine große Herausforderung – jedes Wochenende neu.





II. Gott ist ein netter Kerl

Zum Glück hat sich das in den letzten Jahren alles verändert. Im Nachhinein ärgere ich mich, dass ich mir das Predigen völlig unnötig so schwer gemacht habe. Die Rede von Gott ist nämlich viel einfacher, als ich dachte. Das konnte ich anhand von Predigten lernen, die Kolleginnen und Kollegen gehalten und veröffentlicht haben. Im Folgenden möchte ich anhand von Zitaten ein wenig spazieren gehen durch einige Regionen der modernen Predigtlandschaft (ich beziehe mich dabei auf Predigten im Buch »Gottesdienstpraxis: Taufe, Gütersloh 2010« und in den Arbeitshilfen »Von Glückskeksen und Überraschungseiern. Vier Konfirmationspredigten« bzw. »Gott segnet, was wir brauchen. Ansprachen zu Einweihungen«, beide herausgegeben vom Gottesdienstinstitut Nürnberg). Ich kann jetzt schon verraten: Es ist ein netter Kerl, der liebe Gott. Vielleicht ist er auch eine nette Frau – da gibt es noch letzte Unsicherheiten. Aber ansonsten ist alles völlig klar und einfach:

Wenn Sie, lieber Leser, liebe Leserin, meinen, Sie seien bisher Gott noch nicht begegnet, so kann das eigentlich gar nicht sein. Denn er ist mit Ihnen unterwegs. Und zwar überall hin: »Ich gehe mit dir, wenn du zu deinen Freundinnen und Freunden gehst, wenn du in die Schule gehst, wenn du in Ferien fährst«1. Das ist Ihnen bisher noch nicht so aufgefallen? Kaum zu glauben! Denn Gott ist schließlich kein stummer Begleiter. Er spricht zu Ihnen: »Manchmal ruft er den Namen ganz sachte, manchmal vielleicht auch laut und deutlich: Kind, pass auf! Kind, komm zurück!«2 Manchmal spricht Gott, wie es meine Mutter früher getan hat: »Du brauchst nicht schmutzig herumzulaufen«3.

Ja, Gott begleitet Sie und mich. Jeden Menschen begleitet er, durch dick und dünn. Er hat immer tolle Ideen für uns: Zum Beispiel »wenn du traurig bist, verspricht Gott, sende ich dir einen Engel, der dich zum Lachen bringt.«4 So gesehen kann’s einem nie schlecht gehen.

Und weil er immer bei Ihnen ist, siezt er Sie auch nicht (mehr). »Wir duzen ihn ja auch. Gott sagt zu mir nicht: Pfarrer N. Sondern er nennt mich bei meinem Vornamen: N.«5 Und das Tollste: »Wenn du was ausgefressen hast … Kein Problem! Gott hat dich immer lieb.«6 »Gott hält ohne Vorbehalte zu jedem von uns.«7 Ist das nicht einfach nur klasse?

Über konfessionelle Unterscheidungen ist Gott dabei erhaben: »Gott schaut, soweit ich informiert bin, nicht zuerst in der Liste nach: Ist die katholisch? Ist der evangelisch?«8 Und jetzt kommt das Beste: Das Ganze kostet nicht einmal etwas! Jedenfalls nicht direkt: »Gott bittet dich … nicht zur Kasse. Das macht für ihn die Kirche mit der Kirchensteuer«.9 Aber das muss es dir schon wert sein. Die Kirchensteuer ist ja nicht alle Welt!

Jetzt willst du vielleicht wissen, seit wann dein Freund »Gott« dich begleitet. Das ist ganz eindeutig: seit der Taufe. »Bei der Taufe ist Gott erstmals in deinem Leben aufgekreuzt.«10 Ohne Taufe geht nix! Das ist nun mal so. Kennen tut er dich schon vorher. Aber ab der Taufe »kann Gott sich den Namen merken«11. Nun, dafür muss man Verständnis haben. Gott ist ja schon ein bisschen älter. Aber die Feier der Taufe. Die vergisst er trotz seines fortgeschrittenen Alters nicht. Da hat er ja auch seinen Auftritt. Bei der Taufe sagt Gott nämlich »ja«12. Sonst nichts. Nur »ja«. Das klingt vielleicht ein wenig einsilbig. Aber später in deinem Leben wird er dann redseliger, wie wir ja schon wissen. Und das Wörtchen »ja« hat ja auch etwas Elementares!

Seit der Taufe weicht dann Gott nie mehr von deiner Seite: »Gott steht zu dir seit deiner Taufe und alle Tage bis ans Ende der Welt. ›DEN‹ haut nix um. Wenn du die Christus-Grenze übertrittst, kannst du immer wieder zurück zu ihm, wenn du merkst: Eigentlich war’s bei ihm besser.«13

Ja, so ist das mit Gott: Er ist einfach ein Lieber, Netter, der immer bei uns ist und uns nichts krumm nimmt. Manchmal ist er ein bisschen vergesslich, aber, nun ja, nobody is perfect. Insgesamt ist er ein toller Typ. Was er alles kann! »Bei den Israeliten damals gab’s das Wunder, dass Gott den wilden Fluss, der einen ins Verderben reißt, einfach angehalten hat!«14 So einer ist Gott! Und was er alles für uns bereithält! »Gott bietet dir in seinem ›Supermarkt‹ an, was er hat und womit du deine Basis-Suppe richtig aufpeppen kannst.«15

Übrigens wissen wir auch, was Gott denkt. Zum Beispiel, als er die Welt geschaffen hat. Da war es so: »So, dachte Gott, jetzt ist es Zeit, den Menschen zu machen. Denn dafür ist Platz jetzt.«16 Auch über seine Geschmäcker und Vorlieben wissen wir vielleicht nicht komplett, aber doch ziemlich gut Bescheid. Zum Beispiel dies: »Gott findet Feuerwehrautos … vermutlich auch toll«17.

Mit Gott auf du und du! So ist das mit Gott! Dass das der alte Karl Barth nicht wusste! Ist schon komisch! Und auch Eberhard Jüngels Buchtitel »Gott als Geheimnis der Welt« wirkt angesichts des Wissens, das wir inzwischen von Gott haben, merkwürdig deplatziert!





III. Lächerliche Predigten

Entschuldigung für die Ironie, aber ich kann einfach nicht anders reagieren, um meinem Ärger Luft zu machen: Ich finde, wir machen uns mit dieser Art von Predigten einfach nur lächerlich.

Da ist zum einen eine unerträglich anbiedernde, gewollt muntere und saloppe Sprache. Mich stößt diese Art der Sprache in der Predigt grundsätzlich ab und ich weigere mich, mich im Gottesdienst auf dieses Niveau herabführen zu lassen. Ich weiß sehr wohl, dass es unterschiedliche Milieus gibt und dass man zu Menschen unterschiedlichen Alters unterschiedlich sprechen muss. Aber muss das heißen, in eine verniedlichende Sprache zu verfallen oder Jugendsprache zu imitieren? Was will man mit Formulierungen wie »Gott bietet dir in seinem ›Supermarkt‹ an, was er hat und womit du deine Basis-Suppe richtig aufpeppen kannst« eigentlich erreichen? Will man Nähe suggerieren? Oder den Jugendlichen gefallen? Ich glaube nicht, dass man den Jugendlichen damit einen Gefallen macht. Ich bezweifle sogar, dass diese die bemühte Jugendsprache in der Predigt wirklich honorieren.

Unerträglich sind für mich auch die Plattitüden und die Vielzahl von theologischen Fehlern, von denen manche Predigten geradezu strotzen. Um noch einmal eines der genannten Beispiele aufzugreifen: Ich empfinde eine Aussage wie »Ich meine übrigens, dass Gott uns Deutsche nicht siezt. Wir duzen ihn ja auch« einfach nur als peinlich und albern. Dämlichkeiten dieser Art tun einfach weh.

Aber der Kern des Problems, das ich sehe, ist noch einmal ein anderer. Nämlich das Gottesbild, das mit Predigten dieser Art transportiert wird. Hier geht es um nicht mehr oder weniger als um das Zentrum unseres theologischen Denkens und Arbeitens. Ich nehme wahr, dass sich – und die vorgestellten Predigten sind für mich ein Indikator dafür – vermehrt ein platter Theismus breitmacht, als ob es die theologischen Diskussionen und Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte, ja Jahrhunderte nie gegeben hätte. Gott wird (wieder) unbefangen als Weltraummensch vorgestellt, eine Art älterer Onkel, der uns duzt, manchmal ein wenig vergesslich ist, aber immer lieb bleibt, was wir auch ausgefressen haben. Man mag sich bei dieser Art von Gottesbild auf alles Mögliche berufen, aber bitte nicht auf die Bibel! Darum soll es im Folgenden gehen. Es seien mir also ein paar biblisch-theologische Anmerkungen zur Rede von und über Gott gestattet.





IV. Fünf Problemhorizonte

Ich sehe bei der Art, von Gott zu reden, wie die oben zitierten Predigten es tun, fünf Problemhorizonte, die sich auftun. Ich gehe diese der Reihe nach durch.



1. Nicht kenntlich gemachte Ableitungen

»Gott sagt bei der Taufe ›ja‹ zu dir«. Dieser Satz ist bei Taufansprachen häufig zu hören18. Nichtsdestotrotz wirkt er ein wenig bizarr, als ob Gott bei der Taufe unmittelbar anwesend sei und sein »Ja« zum jeweiligen Täufling hauchte. So ist der Satz sicherlich nicht gemeint. Es geht nicht um ein unmittelbares, wörtlich verstandenes Reden Gottes bei der Taufe. Wie ist dieser Satz aber dann zu verstehen oder anders gefragt: Wie kommt es zu diesem Satz?

Es handelt sich um eine komplexe Ableitung aus der Taufgeschichte Jesu. Die Evangelien erzählen, dass sich bei der Taufe Jesu der Himmel öffnet und Gottes Stimme zu vernehmen ist: »Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe« (Mt. 3,16). Pfarrerinnen und Pfarrer beziehen diese Aussage Gottes über Jesus auf den Täufling. Das kann man tun. Man sollte dies aber als Ableitung einer Aussage aus einer biblischen Geschichte, die eigentlich einem anderen galt, kenntlich machen. Sonst wird der Zusammenhang nicht mehr deutlich und die Aussage »Gott sagt bei der Taufe ›ja‹ zu dir« wird unverständlich oder wirkt gar eigenartig-bizarr.

Ich glaube, viele Predigten leiden unter der Vielzahl von nicht mehr kenntlich gemachten Ableitungen oder dogmatischen Summierungen. Dietrich Ritschl schreibt: Wenn »Summierungen nicht mehr im direkten Bezug zu den ursprünglichen Stories verstanden werden, sondern Anlass zu ›Ableitungen‹, wie ich sie nenne, geben, und sogar Ableitungen von ›Ableitungen‹ möglich werden – also Ableitungen von Ableitungen von summierten Stories – dann sind einerseits dem Missverstehen und andererseits dem Aberglauben Tür und Tor geöffnet. Dies ist die Situation der Theologie und Kirche seit der Zeit der Alten Kirche. Denn nun kann man sagen: ›Das Blut Jesu rettet‹, ›Das Kreuz nützt‹ (auch als Zeichen aus Holz und Metall, das man dem Feind oder einer Krankheit entgegenhält), ›Die Bibel will‹, ›Der Glaube glaubt‹, und ungezählte andere, in sich völlig unsinnige Formulierungen«19.



2. Die Bibel ist nicht Gottes Wort

Der biblischen Tradition, auf die sich Predigten berufen, wird von Seiten der Christen Offenbarungscharakter zugesprochen. Egal wie man »Offenbarung« auch fasst, immer handelt es sich bei der biblischen Tradition zugleich um Texte, die Menschen ersonnen und aufgeschrieben haben. Die Bibel ist nicht Gottes Wort. Theologisch richtiger wäre die Glaubensaussage: »In der Bibel ist Gottes Wort«, verhüllt, verdeckt, immer vermittelt durch menschliche Worte, immer umstritten.

Diese Erkenntnis ist wichtig. Sie bewahrt uns davor, jedem Text in der Bibel die gleiche Dignität zuzuschreiben (was wir in der Praxis auch nicht tun). Nicht wenigen Texten in der Bibel werden wir heute sogar in aller Entschiedenheit widersprechen müssen (vgl. z.B. 1. Sam. 15, wo Gott zu Saul sagt: »Töte ohne Erbarmen Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder, Schafe, Kamele und Esel.«). Weil Texte von Menschen aufgeschrieben sind, die in einer bestimmten Zeit gelebt haben, die ihre Werte und Haltungen in die Texte eingetragen haben und ihr Verständnis von Gott, ist es wichtig, diese Texte auch zu kennzeichnen als menschliche Deutungen20. Ich habe immer mehr Schwierigkeiten damit, wenn Predigende unbefangen sagen, was Gott möchte und wie er denkt. Aussagen wie »Gott möchte, will« usw. sind theologisch stimmiger, wenn sie bezogen werden auf die Person, die eine solche Aussage trifft (also: »Der Prophet Jeremia ist sich sicher, was Gott von ihm will« oder »Ich glaube, dass Gott …«). Dann kann man sie entsprechend einordnen und notfalls auch kritisieren. Würden wir Predigende dazu übergehen, in dieser indirekten Form von Gott zu sprechen, würden wir uns in der Kirche viele Probleme ersparen.



3. Metaphorisch-symbolische Rede von Gott

Die biblische Rede von Gott ist immer metaphorisch-symbolisch. »Gott«, behauptet der evangelische Theologe Eberhard Jüngel, »ist ein sinnvolles Wort nur im Zusammenhang metaphorischer Rede«21. Der Theologe Paul Tillich hat die symbolische Redeweise als die authentische und unhintergehbare Sprache aller Religion bezeichnet. Diese theologische Erkenntnis – habe ich den Eindruck – droht immer mehr zu verschwinden.
Was heißt metaphorisch bzw. symbolisch? Metaphorisch meint einen Vergleich. Wir sagen zum Beispiel: Elvira ist eine Schlange. Damit meinen wir, dass bestimmte Eigenschaften einer Schlange übertragen werden können auf Elvira. Wichtig ist, sich klarzumachen, dass Elvira nicht im wörtlichen Sinne eine Schlange ist.

Das Symbol ist die Region des Doppelsinnes, hat der Philosoph und Theologe Paul Ricoeur einmal gesagt. Ein Herz hat nicht nur eine Bedeutung für sich, es steht auch für etwas, zum Beispiel für die Liebe. Der Ring kann Zeichen sein für die Ehe oder die Freundschaft.

Die biblische Rede von Gott ist immer metaphorisch-symbolisch. Das heißt: Alles, was in der Bibel über Gott gesagt wird, will im übertragenen Sinne verstanden werden, ist nur ein Vergleich. Gott ist kein Vater. Er ist wie ein Vater. Gott hat keine Augen im wörtlichen Sinne. Denn sonst könnten wir weiterfragen: Wie groß sind die Augen Gottes? Gott spricht nicht im wörtlichen Sinne. Denn sonst könnten wir weiterfragen: In welcher Sprache spricht Gott? Kann man seine Stimme auf Band aufnehmen?

Die Gefahr, die biblische Rede von Gott wörtlich misszuverstehen, ist immer gegeben. Der Psychologe Tilmann Moser erzählt in seinem Buch »Gottesvergiftung« davon, wie ihn die anthropomorphe Rede von Gott, die er als Kind wörtlich genommen hat, krank gemacht hat. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss der Gefahr, die biblische Rede von Gott wörtlich misszuverstehen, aktiv entgegengewirkt werden.

Bei fast allen Predigten, die ich oben zitiert habe, wird der metaphorisch-symbolische Horizont, in den biblische Gottesrede eingebettet ist, nicht mehr deutlich. Die Gefahr des wörtlichen Missverständnisses ist hoch. Wollen wir das wirklich?



4. Korrektur durch apersonale Gottesbilder

Wir haben die personalen Gottesbilder der Bibel als metaphorisch-symbolische Redeweise bezeichnet. Wichtig ist nun aber auch, dass die Gottesbilder in der Bibel nur teilweise personalen Charakter haben. Es gibt eine Menge von Gottesbildern in der Bibel, die apersonal sind (Gott als Quelle, als Burg, als Fels usw.). Diese korrigieren ein einseitig personal-anthropomorphes Gottesbild. Diese Korrektur durch apersonale Gottesbilder findet in den Predigten, die ich angeführt habe, nicht mehr statt. Hier gibt es nur noch personale Gottesbilder. Und selbst hier findet eine Engführung statt. Es gibt in der Bibel nämlich auch personale Gottesbilder, die – uns verstörend – das Bild des fürsorglichen, lieben Vaters in Frage stellen (z.B. Gott als Kriegsmann).
Die vielen unterschiedlichen Gottesbilder in der Bibel ergänzen sich gegenseitig und stellen sich zugleich wechselseitig in Frage. Hinzu kommt das Bilderverbot, das in der Bibel eine Zentralstellung innehat. Wie anders als wir Christen reden die Juden von Gott, mit viel mehr Ehrfurcht, Respekt und Zurückhaltung! Sie trauen sich nicht einmal, den Namen Gottes auszusprechen!



5. Die Predigthörenden ernst nehmen

Predigten beziehen sich einerseits auf die biblische Tradition. Andererseits beziehen sie sich auf Menschen aus heutiger Zeit, die Predigthörenden. Die Situation der Predigthörenden in der Postmoderne ist geprägt durch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und einem religiösen Markt, auf dem sich eine Vielzahl von Religionen präsentieren. In der Theologie hat man das Gespräch mit den Naturwissenschaften und mit anderen Religionen längst aufgenommen. Das hat zu spannenden Diskussion geführt22, die Pfarrerinnen und Pfarrer nicht ignorieren sollten, wollen sie ihre Predigthörenden wirklich ernstnehmen. Davon ist jedoch in den von mir zitierten Predigten nichts zu sehen. Nähe zu den Hörenden wird allein über eine anbiedernde Sprache hergestellt. Das kann nicht gut gehen!




V. Läppisch von Gott reden?

Fassen wir zusammen: Ich sehe in zumindest einigen modernen Predigten eine immer ungehemmtere Tendenz, von Gott in einer läppischen, banalen und biblisch-theologisch höchst fragwürdigen Art zu sprechen. Was ich mir von Predigenden stattdessen wünsche, ist ein mehr tastendes, ahnendes, metaphernreiches und symbolisch verschlüsseltes Reden von Gott. Vielleicht ist es genau das, was die Predigthörenden in heutiger Zeit von uns erwarten und was wir ihnen verweigern.

»Gott – das Geheimnis der Welt«: Vielleicht muss man wieder mehr theologisch ringen um die richtige Art und Weise, von Gott zu reden. Aber ein solches Ringen aktiviert auch die theologischen Gehirnmuskeln. Und das hat noch niemandem geschadet!



▸ Markus Beile





Anmerkungen:

1 Gottesdienstpraxis Taufe 2010, 81.

2 Gottesdienstpraxis Taufe 2010, 89.

3 Gottesdienstpraxis Taufe 2010, 23.

4 Gottesdienstpraxis Taufe 2010, 83.

5 Gottesdienstpraxis Taufe 2010, 88

6 »Gott, der dich immer lieb haben wird« (in: Gottesdienstpraxis Taufe 2010, 79).

7 Gottesdienstpraxis Taufe 2010, 122.

8 Gottesdienstpraxis Taufe 2010, 70.

9 Von Glückskeksen und Überraschungseiern. Vier Konfirmationspredigten, 9.

10 Von Glückskeksen und Überraschungseiern. Vier Konfirmationspredigten, 19.

11 Gottesdienstpraxis Taufe 2010, 88.

12 Gottesdienstpraxis Taufe 2010, 75.

13 Von Glückskeksen und Überraschungseiern. Vier Konfirmationspredigten, 9.

14 Ebd.

15 Ebd.

16 Gottesdienstpraxis Taufe 2010, 65.

17 Gott segnet, was wir brauchen. Ansprache zu Einweihungen, 8.

18 Vgl. z.B. Gottesdienstpraxis Taufe 2010, 75.

19 Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie, München 1984.

20 »Alles Anschauen«, schreibt der evangelische Theologe Friedrich Schleiermacher (mit »Anschauen« meint er die Wahrnehmung der uns umgebenden Wirklichkeit), »geht aus von einem Einfluss des Angeschauten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefasst und begriffen wird« (in: Friedrich Schleiermacher, Über die Religion, Göttingen 61967, 52).

21 Eberhard Jüngel, Thesen zur theologischen Metaphorologie, in: Jean Pierre von Noppen (Hg.), Erinnern, um Neues zu sagen, Frankfurt 1988, 53.

22 Vgl. hierzu beispielhaft das Buch »›Gott‹, ›Welt‹ und ›Mensch‹ im 21. Jahrhundert« meines Studienkollegen Stefan Schütze.

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