Dienstag, 26. April 2016

Heidegger - Zeit und Sorge

Zeitlichkeit - gewesend-gegenwärtigende Zukunft: Das Phänomen der gewesend-gegenwärtigenden Zukunft nennt Heidegger Zeitlichkeit. Sie ist ein einheitliches Phänomen, das eine strukturelle Gliederung mit den drei eben genannten unterschiedlichen Aspekten zeigt. Aber nie ist es möglich eines dieser drei von den anderen loszulösen und zu isolieren.

Zeitlichkeit und Sorgestruktur: Die Sorge, welche das Wesen des menschlichen Lebensprozesses darstellt, weist mit ihren konstitutiven Momenten Existenz, Faktizität und Verfallen eine strukturelle Gliederung auf. Was ist aber die Grundlage dafür, dass diese drei miteinander eine Einheit bilden? Es ist die Zeitlichkeit als das fundamentalste Wesensmerkmal des Menschen. Sie ermöglicht ihm, dass er faktisch-verfallend-existiert. Das Sich-vorweg der Existenz gründet in der Zukunft, das Schon-sein-in... der Faktizität in der Gewesenheit und das Sein-bei... des Verfallens im Gegenwärtigen. Verstehen, das „Entwerfen von immer
neuen Szenen", in denen ich-mir-vorweg-bin, hat primär mit Zukunft zu tun. Befindlichkeit, das „schon in einem mehr oder minder bekannten Gefühlszustand sein", hat primär mit Gewesenheit zu tun. (Anmerkung: Im Spüren eines noch nie erlebten Gefühles weiß ich nur deshalb von seiner Neuartigkeit, weil ich es mit bekannten, d.h. gewesenen Gefühlen vergleiche.) Verfallen (Sein-bei...) kann ich nur an etwas, das mir in der Gegenwart begegnet bzw. das ich mir in meiner Erinnerung oder Vorstellung vergegenwärtige. Allerdings gibt es in der Existenzweise der Eigentlichkeit gerade kein Verfallen. In ihr bin ich mich selbst verändernd und entwickelnd, meine eigenen - schon da gewesenen - Ressourcen nutzend, in Zukunft und Gewesenheit gehalten. Mein gegenwärtiges Handeln (Gegenwart) entspringt den eigenen Zielvorstellungen (Zukunft). Um diese Ziele zu erreichen, greife ich auf meine eigenen Erfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten (Gewesenheit) zurück, wobei aber diese ihrerseits wiederum die Zielvorstellungen beeinflussen und verändern. Ich verliere mich nicht an die „Welt", d.h. die Anderen bzw. die Sachen und Angelegenheiten, mit denen ich zu tun habe. Ich klammere mich nicht krampfhaft an das „Außen", weil ich meinen Halt in mir selbst habe. So kann ich in der Gegenwart den Anderen und den Sachen unvoreingenommen und frei gegenübertreten und mich dem Augenblick ihrer Begegnung öffnen.

Uneigentliche Zeitlichkeit: Im gewöhnlichen Alltag ist üblicherweise meine Aufmerksamkeit gestreut. Wie mit einem gebündelten Lichtstrahl taste ich mit ihr unermüdlich mein gesamtes Blickfeld ab, begleitet und geleitet von meinem inneren Dialog. („Ach ja, das muss ich noch tun! An jenes muss ich auch denken! Dies darf ich nicht aus den Augen verlieren! Was ist denn das da? Was wollte ich gleich? Das dort gefällt mir! Damit muss ich mich mal beschäftigen, wenn ich Zeit habe. Oh, dieses da hab ich ja fast vergessen! etc.") Dabei ist das Zeiterleben deutlich anders als im Zustand der Entschlossenheit. Heidegger nennt diese Art der Zeiterfahrung und Zeitstrukturierung uneigentliche Zeitlichkeit.

Wir wollen nun den Unterschied zwischen eigentlicher und uneigentlicher Zeitlichkeit herausstellen: Bin ich in der Eigentlichkeit mitten im jeweiligen Prozess fokussiert, so stehe ich in der Uneigentlichkeit irgendwie außerhalb des eigentlichen Geschehens - mal irgendwie doch daran teilnehmend, mal es beobachtend, dann wieder in Gedanken ganz wo anders.

(a) Uneigentliche Zukunft - Gewärtigen: Statt konzentriert im jeweiligen Prozess auf ein Ziel hin im Geschehen aktiv involviert zu sein (Vorlaufen), warte ich passiv auf das, was in der Zukunft geschehen wird. Ich erwarte es. Ich versuche, mir all dessen, was mal sein könnte gewärtig zu sein. Aber das, was ich erwarte, kann nur aus dem Umkreis des schon Bekannten kommen. Was es an zukünftigen Möglichkeiten sonst noch gibt, kommt ja unerwartet auf mich zu. Aber Unerwartetem gegenüber bin ich nicht aufgeschlossen. Echt Neues begegnet mir auf diese Weise nicht.

(b) Uneigentliche Gewesenheit - Vergessen, Behalten: Im konzentrierten Wiederholen des einstigen Geschehens trete ich wieder - in neuer Weise - in dasselbe ein, sei es in einer ähnlichen aktuellen Situation oder bloß in der Phantasie, und ich durchlebe es erneut. Im Gegensatz dazu zeichnet sich im Zustande der Uneigentlichkeit das unkonzentrierte Erinnern an etwas Gewesenes dadurch aus, dass ich es zuvor schon vergessen hatte. Erinnern ist ebenso wie Behalten nur auf der Grundlage des Vergessens möglich. (Ich kann etwas nur behalten, wenn ich anderes dafür vergesse.)

(c) Uneigentliche Gegenwart - Gegenwärtigen: Ergreife ich in der Eigentlichkeit in meiner eigenen Mitte ruhend, entschlossen und konzentriert handelnd die Gunst des Augenblicks, so verfalle ich in der unentschlossenen Uneigentlichkeit dem, was mir gerade eben begegnet. Ich
verfolge nicht langfristige Ziele (z.B. Entwicklung der eigenen Persönlichkeit), sondern werde von gegenwärtigen, d.h. kurzfristigen Erfordernissen und Bedürfnissen (z.B. heutiger Terminkalender), hin und her gerissen.

Uneigentliche Zeitlichkeit - vergessend-gegenwärtigendes Gewärtigen: Im Alltag verfliegt die Zeit im Nu. Der Grund dafür liegt in der Erfahrung der eigenen, uneigentlichen Zeitlichkeit. Gewöhnlich bin nicht auf das Wichtige, das Langfristige, das Zukünftige ausgerichtet, sondern auf das Dringliche, das Kurzfristige, das Gegenwärtige. Es sind die Bedürfnisse und Forderungen des Alltags. Dabei muss ich mir dessen, was gleich passieren könnte, gewärtig sein, ich erwarte dies und jenes, ja alles Erdenkliche. Und zugleich hab ich dies und das schon wieder vergessen, denn ich muss meine Aufmerksamkeit ja auf das Nächste lenken, welches ich mir auch noch vergegenwärtigen muss.

Metapher für die Zeitlichkeit: Die Funktionsweise der Zeitlichkeit gleicht der eines Computers: Der Hauptprozessor entspricht der Zukunft, die Festplatte der Gewesenheit und der Hauptspeicher stellt die Gegenwart dar. Prozessor, Platte und Speicher kommen nicht nacheinander vor, sondern arbeiten ständig zusammen. Ohne Festplatte gibt es kein „Erinnern", aber auch kein „Vergessen", das heißt Löschen, denn es wird ja überhaupt nichts festgehalten. Der Arbeitsspeicher ist notwendig, damit ich mir das, was der Prozessor erarbeitet, vergegenwärtigen kann, auch das, was er aus der Festplatte wieder in den Arbeitsspeicher runter lädt. Der Prozessor macht eigentlich die Arbeit, er kreiert Neues, schickt die Daten in den Arbeitsspeicher, holt sie von dort wieder runter und speichert sie auf der Festplatte, er holt Daten von der Festplatte und gibt sie in den Arbeitsspeicher - er prozessiert die Daten von Festplatte und Arbeitsspeicher. [Heidegger: „Die Gewesenheit entspringt der Zukunft, so zwar, dass die gewesene (besser gewesende) Zukunft die Gegenwart aus sich entlässt. " (Sein und Zeit; Niemeyer; Tübingen, 1993; S. 326)] Was ist in dieser Metapher nun der Unterschied zwischen eigentlicher und uneigentlicher Zeit? Zuerst muss ich einmal wirklich arbeiten, ich muss die Daten eingeben; sie laufen durch den Prozessor („Vorlaufen"), der sie in den Arbeitsspeicher schickt, wodurch ich in die Lage versetzt bin, sie im und als Zusammenhang zu verstehen („Situation", „Augenblick"). Offensichtlich holt der Prozessor auch ständig Daten aus der Festplatte und speichert welche auf ihr. Wenn ich später etwas nur lesen will, mir etwas vergegenwärtigen will, hol ich mir die Datei mittels Prozessor von der Festplatte, wo sie gespeichert („Vergessen") war, runter („Erinnern", „Behalten") in den Arbeitsspeicher („Gegenwärtigen"). Natürlich kann ich etwas nur in den Computer tippen, das ich nicht auf der Festplatte speichere - auch damit kann ich arbeiten („Gewärtigen" = „Erwarten"), aber es wird meine Datei oder mein Programm nicht nachhaltig verändern. Und was mache ich, wenn ich die Daten, die ich auf der Festplatte gespeichert habe, verändern will? Ich hol sie mittels Prozessor von der Festplatte in den Arbeitsspeicher und mach die Arbeit noch einmal, tippe alles, was ich verändern will, erneut ein („Wiederholen").

Der Sinn des Lebens: Heidegger stellt nun die Zeitlichkeit als den Sinn der eigentlichen Sorge, also des Prozesses des Lebens des Menschen heraus. Abschließend können wir zusammenfassen: Der eigentliche Sinn des Lebens ist, dass der Mensch, indem er seine eigene Gewesenheit („Vergangenheit") akzeptierend in sein Leben(skonzept) integriert, sein Leben so führt, dass er mehr und mehr zu dem wird, der er im Grunde seines Wesens eigentlich schon immer gewesen ist und in diesem Prozess der Selbstwerdung in der jeweiligen Situation als aktiv Handelnder der „Welt", d.h. seinen Mitmenschen und den Sachen, mit denen er zu tun hat, ohne Vorbehalte und Vorurteile, offen und frei gegenübertritt und dabei die Aufgaben, die er gewählt und sich zu eigen gemacht hat, entschlossen, d.h. verantwortungsvoll und gewissen-haft, zu erfüllen sucht.