Donnerstag, 13. September 2012

Wahrnehmen und Erkennen



Wahrnehmen und Erkennen

Spielarten der Ästhetik - das Wesen der Kunst

Ausgegangen wird hierbei von der Arbeitshypothese als Beschreibung, was Kunst ist:
Kunst ist eine visuelle Sprache, mit der etwas abgebildet wird, meist ist es die Wirklichkeit. Dabei werden Objekte in eine bestimmte Form gebracht, die dann einen Prozess der Bewußtwerdung auslösen.
Kunst so betrachtet ist eine in Materie gesetzte Vorstellung.
Aufgabe des Künstlers liegt nicht darin, den Weg zu zeigen, sondern Sehnsüchte zu wecken.

Der Blick auf ästhetische Phänomene soll die Erkenntnis der Welt und Wirklichkeit eröffnen, die zu einer rational - wissenschaftlichen Weltsicht tritt.
Dabei kann Ästhetik nicht allein eine Erweiterung der rational epistemologischen Perspektive sein, sondern ein eigenständiger Ansatz, der die wissenschaftliche Rationalität beeinflussend trifft.
Ästhetik bezeichnet so die Einheit von sinnlicher Wahrnehmung der Realität und dem daraus entstehenden subjektiven Geschmacksurteil.

Um den Turn zu erfassen, d.h. den Focus vom Rational-logischem zum Ästhetischen zu wenden, gilt es die Begrifflichkeit des Ästhetischen zubeschreiben.
Ästhetik kommt vom gr. Aisthetik = Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung, wobei die Wurzel aistanesthai mit empfinden zu übersetzen ist. Das Empfinden wird oft mit dem Schönen, besonders in Natur und Kunst verbunden, so ergibt sich dann als Umschreibung die Formulierung Ästhetik ist die Lehre von den Gesetzen und Grundlagen des Schönen und die adjektische Form ästhetisch korrespondiert mit der Umschreibung, die Ästhetik betreffend oder auf ihr beruhend, sinnlich wahrnehmbar, um dann inhaltlich ausgeweitet zu werden mit den Eigenschaften ausgewogen, schön, geschmackvoll, ansehnlich, ansprechend, künstlerisch.
Ästhetisch ist etwas, das den Sinnen und der Empfindung angehört, eben schön, geschmackvoll, auf Schönheitswerte bezogen und darin durchaus überfeinert.
Deshalb, weil sich ästhetisch auf die sinnliche Wahrnehmung bezieht, ist Ästhetik die Lehre von der Sinneserkenntnis in Raum und Zeit als Erkenntnisform, oder anders ausgedrückt, die Lehre vom Wesen und den Erscheinungsformen der Sinneseindrücke in ihrer gesamten Bandbreite des Schönem wie dem Gegenteil, dem Häßlichem.
Damit wird die Ästhetik als Wesenslehre zu einem Teilgebiet der Philosophie.
Sie umschließt darin auch die Lehre von den Geschmacksurteilen und dem ästhetischen Erleben, sowie der sinnlichen Wahrnehmung im Bereich der psychologischen Ästhetik.
So kann auch formuliert werden, dass die mit Ästhetik bezeichnete philosophisch-wissenschaftliche Disziplin die "die Sinne betreffende" Wissenschaft bezeichnet, wobei immer auch eine Zuspitzung auf das Schöne oder anders gesagt, das ästhetisch Belangvolle "mitzudenken", ebenso wie die Wirklichkeitsart zu reflektieren ist, nicht "grobstofflich", sondern als "ästhetischer Schein", in anschaulicher Fülle des Gehalts, der harmonischen Gliederung in ihrer Spielart der Kunst.
Dabei kann von empirischer, psychologischer, formaler, normativer oder spekulativer Ästhetik geredet werden.
Somit stellt sich die Ästhetik als Lehre von der sinnlichen Erkenntnis überhaupt dar, wobei objektive Wesensstrukturen mit subjektiven auf ästhetische Erfahrung gerichteten Phänomenen treffen, wie z.B. die Erlebniskategorien Anschauung, Phantasie, Gefühle, Empfindung, Einfühlung, Genuß, Lust und Unlust.
Wenn durch Ästhetik Erkenntnisse der Welt und Wirklichkeit bereitet werden sollen, muss die ästhetische Urteilsfähigkeit untersucht werden.
Ohne ästhetische Urteile gibt es keine Welt- und Wirklichkeitserkenntnis auf Basis der ästhetischen Wahrnehmung.
Wenn sich die Ästhetik also mit der subjektiven Wahrnehmung der Realität befasst, nenne ich sie empirische oder Rezeptionsästhetik. Dagegen beschreibt die normative Ästhetik, auch Objekt- oder Wertästhetik genannt, die existierenden Normen, Regeln oder Kriterien, denen ein Kunstwerk genügen soll. Diese sind zeit- und kulturabhängig.

Damit ist der Rahmen beschrieben, in dem sich philosophische Ästhetik zu ereignen hat.

Philosophische Ästhetik
Die Wissenschaftvon der Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis umfasst den Bereich der menschlichen Wahrnehmung, der nicht mittels Logik oder der Begrifflichkeit einzufangen ist, also der Bereich abseits der mathematisch-logischen Wissenschaft.
Es ist also von einer Erweiterung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit zu sprechen, wobei die Ästhetik die wissenschaftliche Darstellung der sinnlichen Erkenntnis entfaltet.
Daraus ergeben sich drei Grundmodelle der ästhetischen Theorie, die oft miteinander kombiniert sind.
1. Ästhetik als Theorie des Schönen
Im Fokus steht das Schöne als Größe an sich - unabhängig vom schöpferischen Gestalten und Kunstbemühen. Nicht die Kunst erschafft das Schöne, sondern das Schöne ist vor und jenseits der Kunst schon da als ein göttlich Schönes und kann vom Menschen nicht vollständig erfasst werden. Das Schöne ergreift hingegen den Menschen, löst in ihm Unruhe aus und macht ihn so zum Handelnden.

2. Ästhetik als Theorie der sinnlichen Erkenntnis
Dieser wissenschaftliche Zugang greift aufbdie Gesamtheit der sinnlichen Wahrnehmung als Ort der Erkenntnis zurück. Es wird die sinnliche Erkenntnis als Ort neben der Erkenntnis des logisch abstrahierenden Denkens untersucht.

3. Ästhetik als Theorie der Kunst
In ihrem Zentrum stehen die Kunst und das Kunstwerk. Reflexionsgegenstand ist nicht die Sinnlichkeit (sinnliche Wahrnehmung), sondern die Kunst selbst. Die Reflexionssubjektivität entscheidet über schön und gelungen.

Ästhetik und Erkenntnistheorie

Wahrnehmung liefert nicht ein naturgetreues Abbild der Wirklichkeit. Bereits die Sinneswahrnehmung ist aktive Konstruktionsleistung, in der komplexes Reizmaterial analysiert wird, Merkmale abstrahiert und zu einer Gesamtwahrnehmung verknüpft wird.
Erkenntnis beruht auf einer regelbasierten Verknüpfung von Elementen des Denkens; so kann schon die neuronale Wahrnehmung (Sinneswahrnehmung) als regelbasierte Verknüpfung beschrieben werden.

Die Wirklichkeit an sich ist uns deshalb nicht zugänglich - bloße Wirklichkeit gibt es als Darstellbares nicht!

Und doch gilt die grundsätzliche Verbindung Ästhetik und Epistemologie:
Etwas als etwas wahrnehmen bedeutet schon erkennen.
Die Grenze zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis läuft entlang der Grenze zwischen Unbewußtem und Bewußtem; Erkenntnis beruht stärker auf kognitiven Prozessen, während Wahrnehmung in ihrem sinnlichen Charakter nicht-kognitiv ist. Aber es gibt auch Erkenntnis, die nicht verbalsprachlich formuliert werden kann! Eine klare Grenzziehung ist von daher nicht möglich.

Wie geschieht ästhetische Erfahrung,
die zu einer Erkenntnis wird?

Der Mensch ist in seinem Wesen rational, d.h. er nimmt die Welt nicht in einem bloßen Reiz - Reaktionsschema wahr, sondern in Begriffen.
Er will die Welt begreifen und begreift sie, indem er ästhetische Wahrnehmungen versprachlicht. Die Sprache ist die Form, die intersubjektiv auf Kommunikation angelegt ist. Jede Erkenntnis ist also zu versprachlichen, wenn sie als Aussage kommuniziert werden soll. Hier zeigt sich die Funktion des Linguistic Turn.
Bevor es zu einer ästhetischen Erkenntnis über eine ästhetische Wahrnehmung und damit Erfahrung kommen kann, gilt es eine ästhetische Einstellung einzunehmen, will sagen sich in die Lage zur Bereitschaft bzw. Disposition zu bringen. Dies geschieht im Gegenübersein zu natürlichen oder künstlerischen Gegenständen ohne Verfälschung oder Überlagerung durch Interessen, seien sie sinnlich, politisch, moralisch, religiös u.ä.

Die ästhetische Einstellung braucht die Ablösung des ästhetische Subjekts von den Gewohnheiten des Alltags. Das ist eine willentliche Entscheidung, in Distanz oder Differenz zu gehen
- zugunsten der Konzentration auf das Erscheinende
- durch Kontemplation
- aber auch durch Handlung, ein experimentelles Umfingieren und spielerischer Umgang mit dem Objekt.

Die ästhetische Einstellung korrespondiert mit einer grundsätzlichen Lebenseinstellung und Weltanschauung nach Schönheit, Stil, Kultivierung des Genusses.
Diese Lebenseinstellung mündet in einem Ästhetizismus und einer Ästhetisierung der Lebenswelt.
Die ästhetische Einstellung ist konstitutive Bedingung für die Erfahrung der Schönheit in der Natur und Kunst. Ebenso ist sie die Bedingung eines interesselosen Wohlgefallens. Sie spielt sich bewußtseinsimmanent ab, idem sie sich von inneren Regungen und Erregungen fern hält.
In der ästhetischen Distanz als ästhetische Einstellung gilt die Wahrnehmung allein den einzelnen Qualitäten des Objekts ohne Bewertung der inneren bzw. äußeren Struktur des Objekts. Der ästhetische Reiz wird im Funktionsganzen eingetragen. Diese ästhetische Distanz dient der Freisetzung einer ästhetischen Erfahrung als Grundlage der ästhetischen Erkenntnis.

Ästhetische Erfahrung beschreibt somit eine vollständige Erfahrung von Schönheit und Kunst mehr als Erlebnis, als Genuss, Geschmack, Gefühl. Sie ist eine mit Lust empfundene Umfunktionierung der alltäglichen Erfahrung. Kunst wird als Erfahrung wahrgenommen. Erfahrungsmomente ergeben einen lebenspraktischen Realitätscharakter, der als Entlastungsfunktion dienen kann. Wollen, Fühlen und Denken wirken spielerisch zusammen.
Die ästhetische Funktion einer Erfahrung steht immer dann im Vordergrund, wenn sich eine Botschaft über ihre Form auf das Material der Mitteilung bezieht. So werden ästhetische Objekte aufgenommen als Vorgänge in der Lebenswelt, die das Wissen erweitern und helfen, das Handeln zu orientieren. Die Objekte, mit denen ästhetische Erfahrungen gemacht werden, antworten auf Impulse, die das ästhetische Subjekt setzt.

Ein wichtiges Element bei der ästhetischen Einstellung ist die Kontemplation.
Sie zielt auf ein sich Aussetzen dem ästhetischen Objekt gegenüber ohne Handlungsziel oder Intention, ohne Nützlichkeitssinn, wobei alle sinnlichen Eindrücke erst einmal für wichtig genommen werden. Das kann auch mit zweckfreier Anschauung beschrieben werden, in der auf Wertigkeit verzichtet wird.
Der kontemplativen Wahrnehmung kommt es auf die sinnfremde, phänomenale Individualität des ästhetischen Objekts an. Der Geist versinkt dabei selbstvergessen in der Anschauung. Diese meditative Schau fragt nicht, erst recht nicht nach dem wo, wann, warum, wozu.
Es ist eine ästhetische Betrachtung ohne Interesse, geleitet von einem Paradoxon "Interesse ohne Interesse". So kann das reine Wesen der Dinge unmittelbar erfasst werden, oder auch das ästhetische Subjekt wird in der Kontemplation vom ästhetischen Objekt erfasst.
Diese Kontemplation ist die eigentliche Betrachtungsart und Haltung sich ästhetischen Phänomenen und Kunstwerken zu nähern,
wobei die Realitätsbezüge des Objekts (=Kausalbezüge)
und die Bezüge auf das betrachtende Subjekt ausgeklammert bleiben.
Sinnliche Wirkung und praktisches sowie theoretisches Interesse werden hintangestellt.
Erst auf dieser Ebene kann die so gewonnene ästhetische Erfahrung zu einem ästhetischen Urteil verdichtet werden, wenn die Sinneserfahrung an die geschichtliche Existenz des ästhetischen Subjekts gebunden wird. So trifft die Sinnfigur des Werkes auf die Erfahrungsprozesse des Rezipienten.
In der ästhetischen Erfahrung ist die Botschaft zweideutig strukturiert, einmal erscheint sie autoreflexiv, d.i. wenn sie sich auf sich selbst beziehend darstellt und die Aufmerksamkeit des Empfängers auf ihre eigene Form lenkt.
Zum anderen fordert jedes Objekt nach einer freien, schöpferischen Antwort des Rezipienten.
Nur so kommt es zu einer ästhetischen Erkenntnis.
Diese bedarf nicht der verbalen Begrifflichkeit, wenngleich die Sprache im Prozess des asthetischen Erkennens eine wichtige Funktion übernimmt, denn ohne Sprache kann keine intersubjektive Kommunikation geschehen.
Aber das Ergebnis der ästhetischen Erkenntnis kann nicht in sprachlichen Begriffen abschließend festgehalten werden, da es keinen sprachlich fixierten End- wie auch Anfangspunkt der ästhetischen Erkenntnis gibt, in dem alle körperlich-sinnlichen, emotionalen, subjektiven Aspekte der Erkenntnis berücksichtigt und wiedergegeben werden können.
Denn ästhetische Erkenntnis ist in der sinnlichen Wahrnehmung verankert. Rationale, verbalbegriffliche, abstrahierende Erkenntnis hat dagegen abschließenden Charakter.
Ästhetische Erkenntnis hat als sinnliche Wahrnehmung ihre Wurzeln in unbewußten Prozessen, individuell und kollektiv. Diese Prozesse sind nur bedingt intersubjektiv nachvollziehbar. Man kann über sie sprechen, aber sie nicht begrifflich fixieren, da sie performativ sind. Metaphorisches Sprechen nähert sich dem ablaufenden Prozess. Die Metapher macht die Welt verständlich durch Übertragung, indemsie Ähnlichkeiten aufspürt.
Ähnlichkeiten sind die Vorbedingungen zur Überwindung des Chaos hin zu einer ordnenden Erkenntnis. Dem analogen Denken gilt es, in der ästhetischen Erfahrung und Urteilsbildung Raum zu geben.
Die Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis wendet das Denken in Analogien an. So wird sie eben Kunsttheorie, denn Kunst hat einen metaphorischen, übertragenden Charakter. Sie spielt mit Allegorien in der Struktur des "ist-wie" und steht damit dem logisch-kausalen "wenn-dann" fern.
Die Metaphorik als erkenntnistheoretische Denkfigur geht der Versprachlichung voraus. Sie bedeutet, dass eine Art der Erfahrung von einer anderen Art her zu verstehen ist, zwar nicht vollständig, doch partiell, "das ist, wie". So werden in der metaphorischen Beziehung Allegorien zwischen Merkmalen und Eigenschaften hergestellt. Dabei ist davon auszugehen, dass das Wahrnehmen stets kognitive und emotionale Momente anspricht. Deshalb ist Wahrnehmung eine Arbeit an und mit den Sinnen, außen- und innengerichtet: Wahrnehmen, was außerhalb von mir ist und was dabei in mir vorgeht.
Ästhetik als Lehre von der Wahrnehmung ist gekennzeichnet durch
- die Einheit von Kognition und Emotion,
- die Synthese aus dem, was vom ästhetischen Objekt und ästhetischem Subjekt ausgeht ("Produktion und Rezeption")
- die Bewußtheit, die sich im Gedächtnis einprägt, wobei jedem der Sinne eine eigene Dignität zugesprochen wird.

Heinz Hübner  im September 2012