Dienstag, 20. August 2019

Das Ruhrgebiet - Erinnerungen

Peter Trawny
Ein autobiographisches Kapitel aus einem nicht realisierten Buchprojekt. Vielleicht interessierts diejenigen, die, wie ich, im Ruhrgebiet der sechziger und siebziger Jahre aufwuchsen:

Heimatmuseum Ruhrgebiet

Ich verbrachte meine Kindheit in Wanne-Eickel, in einer Ruhrgebietsstadt, deren Name schmunzeln lässt. Mit ihm verbindet sich jedenfalls die Provinz, ein Verschlagensein an einen verlorenen Ort. Die Stadt wurde irgendwann eingemeindet in das etwas größere Herne, was gewiss nur ein sehr begrenzter Fortschritt war. Wer damals, Ende der sechziger Jahre dort lebte, hatte es auf die eine oder andere Weise mit der Schwerindustrie, mit Bergbau oder Stahlproduktion zu tun.

Mein Vater war Bergmann. Die Familie eingewandert aus dem Osten, einer Gegend, die im „Dritten Reich“ als „Masuren“ Karriere machte. Masuren sollten Deutsche sein, spielten doch in Gelsenkirchen, meiner Geburtsstadt, bei Schalke 04 Szepan und Kuzorra, zwei Masuren eben, die von den Nazis eingedeutscht wurden (Szepan begeisterte sich dann auch fürs Hakenkreuz). Es geschieht häufig, dass mein Name englisch ausgesprochen wird, in Wirklichkeit ist er slawischer Herkunft. Meine Großeltern väterlicherseits unterhielten sich, wie mein Vater berichtet, noch polnisch miteinander. Das Deutsch, das sie auch noch sprachen, klang ein wenig jiddisch, glaube ich.

Das väterliche Bergmannsein prägte meine Kindheit. Mein Vater arbeitete (auch Nachts) oder schlief. Das führte nicht selten zu manchmal erheblichen Auseinandersetzungen, denn wie sollte ich damals Anfang der siebziger Jahre meine T.Rex-Singles hören, wenn nebenan der erschöpfte Vater schlafen musste? Später habe ich dann auch über ein halbes Jahr lang unter Tage gearbeitet (auch Nachts). Das hat mein Verhältnis zu dem, was man „Arbeit“ nennt, gewiss beeinflusst.

Des Abends färbte sich der Himmel oft rot. Das kam vom Stahlabstich. Das Licht des aus dem Hochofen entlassenen flüssigen glühenden Metalls reflektierte in den Wolken. Man war daran gewöhnt, und dennoch war es nicht selten aufregend: Es war schon dunkel geworden, ich hatte mein Abendgebet gesprochen (ja, das war so) und dann, plötzlich, ein rotes Licht, das nicht die Sonne war; Zeichen einer Betriebsamkeit, die die Region boomen ließ. Das änderte sich dann bald.

Ich erinnere mich an eine Kindheit, die sich im Freien abspielte. Das Ruhrgebiet bot damals Brachen, unbebautes Gelände, auf denen Kinder ziemlich gefahrlos streunen konnten. Cowboy- und Indianer-Spiele irgendwo im Niemandsland. Da waren die Bahngleise, auf denen man Nägel plattfahren ließ. Oder die verlassenen Bunker des Weltkriegs, die einem so vertraut waren wie die regelmäßige Luftschutzübung, bei der die Sirenen zu heulen begannen. Kriegsversehrte gehörten selbstverständlich zum Anblick des öffentlichen Lebens.

Ich habe den Lokalpatriotismus des Ruhrgebiets nie gemocht. Die Behauptung, es gäbe einen harten, aber gerechten Menschenschlag unter den „Malochern“, fand ich immer verdächtig. Für jedwede Sensibilität gab es da keinen Platz. Wer sich für Gedichte interessierte, war entweder krank oder schwul, was als dasselbe galt. Jungs spielen Fußball und tragen blau oder gelb; was ich tat, ohne mich für eine dieser Farben zu interessieren. Doch mit dem Abstand ändert sich der Blick. Auch heute bleibe ich zurückhaltend, wenn an die goldene Vergangenheit der Malocher erinnert wird. Ein Song wie „Bochum“ von Grönemeyer finde ich unsäglich kitschig. Doch ich möchte meiner eigenen Herkunft gegenüber nicht verstockt sein. Meine Kindheit und Jugend habe ich dort verbracht.

Daher besuchte ich vor Kurzem das „Heimatmuseum Wanne-Eickel“, im Stadtteil Unser Fritz. Der Name stammt von einer Zeche, die ihren Namen von einem der preußischen Friedriche erhielt.ich war vor vielleicht dreißig Jahren schon einmal dort und erwartete das Museum unverändert. Damals war es, installiert in einer ehemaligen Volksschule, ein Museum des Museums. Es gab Hinweise auf den Bergbau, irgendwelche Küchengegenstände und Mammut-Knochen, ausgestopfte Tiere auch. Ich war vielleicht nicht der einzige Besucher, doch gewiss verlief sich nur selten jemand in diese vieldeutige Abgelegenheit. Das hat sich geändert. Das Museum ist heute ein gut besuchter Ort.

Vor ein paar Jahren hat man das Gebäude renoviert. Die gezeigten Gegenstände sind gut ausgesucht. Die Sammlung geht historisch vor. So gibt es jetzt einen eigenen Raum für die Stadtgeschichte im „Dritten Reich“. (Mein altes Gymnasium lag in der Nähe eines kleinen, anscheinend vergessenen jüdischen Friedhofs, an dem ich vor fünfunddreißig Jahren täglich vorbeikam…) Die Inszenierung einer Arbeitssituation „unter Tage“ gehört natürlich dazu. Es gibt ein komplettes Schulzimmer vom Beginn des 20. Jahrhunderts, mitsamt von Tafeln, auf denen die Buchstaben der alten deutschen Kurrent-Schrift zu lesen sind. Zehn Jahre vor meiner Geburt wurde sie noch gelehrt.

Ich begegnete auch mir selbst. Nicht wörtlich, aber vermittelt durch eine Dokumentation zu den wichtigsten Fußballklubs von Herne und Wanne-Eickel (in einem spielte ich eine Zeit lang) sowie zur Musikszene vom Anfang der achtziger Jahre. Die war damals lebendig und experimentell. Das blieb nur regional von Bedeutung, doch man nahm das Ganze ernst. Ich spielte damals in einem Trio Gitarre. Der begabte Schlagzeuger starb schon vor knapp zehn Jahren an übermäßigem Drogengebrauch.

Heimatmuseum - wenn Heimat museal wird, dann hat sie etwas Objektives angenommen. Sie ist von den Straßen und Höfen, den Brachen und Bunkern abgewandert in Räume, in denen sie in Vitrinen unserer Erinnerung punktiert wird. Alles Lebendige, Rausch- und Schmerzhafte wird dem Körper entzogen. Die Heimat, die in den kindlichen Bewegungen einfach da ist, wird zum Knochen. Ich erinnere mich, als wir eine Bahnböschung hinaufkletterten, um von den schweren Kohle- und Schotterzügen Nägel plätten zu lassen, und ein von oben kommender typischer Stein vom Gleis mein Schlüsselbein zerbrach. Nun liegt dieses Schlüsselbein im Heimatmuseum Unser Fritz - ich sehe es und lege mein Hand auf die Stelle, die sich noch warm anfühlt.

Die Langeweile - eine Miniatur

Die Langeweile, die Zeit und das Geheimnis des Seins

Langeweile - so würden die meisten von uns wohl sagen - ist ein Luxus. Aber wenn sie dann mal da ist, ist sie furchtbar. Wenn wir uns Langeweile wünschen, dann meinen wir eigentlich nur die nicht verplante Zeit, jedoch ekelt es uns an, wenn wir tatsächlich - bei dem, was wir tun oder nicht tun - gelangweilt sind. Erich Fromm meinte, dass der Mensch das einzige Tier sei, das Langeweile erfahren kann. Das hieße also, dass Langeweile nichts ist, was es unabhängig von uns gibt, sondern ein Erlebenszustand, der an ein höheres Bewusstsein gekoppelt ist. Man kann Fromm heute in sofern widersprechen, als dass auch andere Tiere sich langweilen und sich deswegen mit Unterhaltungsprogrammen ablenken - sei es das Spielen der Delphine mit Luftblasen oder ständiger Sex bei Bonobo Schimpansen. Jedoch wird Fromm insofern Recht behalten, als dass wir die einzigen sind, die Langeweile reflektieren und dadurch einen Blick auf das Geheimnis des eigenen Daseins erhaschen.

Was ist Langeweile?

Langeweile ist das Erleben von Leere in der Zeit. Insofern ist Langeweile ein Zustand, in dem wir uns der Zeit selbst und unserem Ausgeliefertsein in ihr bewusst werden.
Dürfen wir überhaupt Zeit für Langeweile haben? Wir müssen doch produktiv sein. Heute rennen wir von einem Problem zur nächsten Aufgabe, ständig ist irgend etwas zu tun. Wenn dann plötzlich doch mal ein Zeitloch ins Lebens-Stress-Kontinuum reißt, dann wissen wir wegen der Ungewohntheit der Situation, gar nicht mehr, was wir eigentlich mit dem Freiraum anfangen sollen. Vielleicht fühlen wir uns sogar schuldig, weil wir doch eigentlich irgend etwas arbeiten müssten. Und auch religiösen Moralen gilt die Langeweile als Laster oder Sünde. Das geht bis rüber ins Pathologische, wo die Langeweile an Melancholie, Angst und Depression grenzt. Blaise Pascal beschreibt das 1670 so:
"Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung. Er wird dann sein Nichts fühlen, seine Preisgegebenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unaufhörlich wird aus dem Grund seiner Seele der Ennui aufsteigen, die Schwärze, die Traurigkeit, der Kummer, der Verzicht, die Verzweiflung."
Diese Gefahr des psychischen Abgrunds birgt jedoch auch die Möglichkeit, an ein existenzielles Grundprinzip anzuknüpfen: das Nichts, die Leere, die Abwesenheit von Sinn. Hier wird die Philosophie mutig und mit ihr der einzelne, der sie wagt. Martin Heidegger könnte in diesem Sinne als der deutsche Philosoph der Langeweile gelten. Ihm zufolge ist die Langeweile ein ganz alltägliches Phänomen, das wir jedoch versuchen, tunlichst zu vermeiden: Wenn sie heran kraucht, fangen wir an, sauber zu machen, shoppen zu gehen, planlos im Internet zu surfen oder fern zu sehen. Aus dieser Art der Langeweile kommt nichts Gutes. Wir wissen, wie unsere Omas und Opas über gelangweilte Jugendliche denken: Sie fangen an, Handtaschen zu klauen oder Drogen zu nehmen. Mit Heidegger sehen wir jedoch eine Chance in der Langeweile. Er ruft dazu auf, sich dieser Langeweile einmal auszusetzen, sie nicht eilig mit alltäglichem Geschäft zu zu spachteln, sondern sie auszuhalten und dadurch Bekanntschaft zu machen mit dem "Grundrauschen der Existenz"*, mit der Leere und der Angst davor.

Die Langeweile der anderen
Heidegger unterscheidet zwischen drei verschiedenen Ausformungen der Langeweile. Zum einen ist da das Gelangweiltwerden von etwas oder jemandem. Da gibt es immerhin noch das Objekt, das die Langeweile auszulösen scheint, sie kommt von außen. Dann kann man sich bei etwas langweilen, hier wird schon deutlicher, dass man selbst einen Anteil an der Langeweile hat. Man könnte auch argumentieren, dass eigentlich nichts und niemand langweilig ist. Wenn mir etwas langweilig vorkommt, dann vielleicht, weil ich nicht genau hinsehe, mich nicht reindenke, mir nicht die Arbeit mache, es wirklich zu verstehen. Dies ist oft auch das Missverständnis, wenn jemand sagt, ein Film sei langweilig, ein Theaterstück oder ein Bild. Was einem solchen Urteil zugrunde liegt, ist oft fehlendes Hintergrundwissen oder die Fähigkeit, Assoziationen zum gesehenen zu erzeugen. Wenn ich heute in eine Oper gehe oder in ein klassisches Konzert, dann ist die Gefahr groß, dass ich mich langweilen werde. Aber nicht, weil die Aufführung langweilig ist, sondern weil ich inzwischen mit den klassischen Strukturen des Erzählens und Spielens nichts mehr anfangen kann. Mir fehlen die Referenzen (wir mögen es kaum glauben, aber William Shakespeare war einmal der Quentin Tarantino seiner Zeit - absolut aufregend, spannend, modern, Action, Pop). Auch das Gegenteil von solch einer Überforderung kann Langeweile auslösen: Unterforderung. Wenn alle Referenzen zu deutlich sind, kein Geheimnis zu entschlüsseln ist und uns alles vorgekaut wird, dann langweilen wir uns auch. "Das Geheimnis zu langweilen besteht darin, alles zu sagen", sagt Voltaire. Die Langeweile ist also ein sehr ambivalentes Phänomen, der wir nur durch eine Balance zwischen Alles und Nichts enzgehen.

Das Geheimnis des Daseins und der Freiheit
Letztlich gibt es die vollkommen anonyme Langeweile, die einen hinterrücks zu überfallen scheint und die weder einen Auslöser noch ein Heilmittel kennt. Ihr ist nicht durch Aktionismus beizukommen, weil man sich entweder nicht dazu aufraffen kann oder die Langeweile auch die Handlungen tiefdunkel einfärbt. Bei Heidegger verschlingt dieses Nichts auch noch das Selbst, so dass es weder ein Subjekt noch ein Objekt gibt oder gar eine Beziehung in der die beiden stünden. Und auch die Zeit verschwindet in diesem Nirwana. Denn wie nehmen wir die Zeit denn wahr, wenn wir von dieser tiefen Langeweile erfasst sind? Sie ist ein Stillstand, der nicht zu vergehen scheint, das Gegenteil von Zeit, eine Nicht-Zeit sozusagen. Für Heidegger ergibt sich damit die Erkenntnis, dass Zeit also kein Medium sei, in dem wir uns bewegen würden, sondern etwas, dass wir mit Aktivität hervorbringen. Nur in der Lähmung der Langeweile gerät dieser Zeitgeber, der wir selbst sind, ins Stocken, um dann im Normalfall doch bald wieder anzuspringen und das Leben in Aktivität fortzusetzen. In diesem Wiederanspringen des Selbst, das sich als Zeitgeber des Lebens zu sich selbst entschlossen und aus der Langeweile losgerissen hat, sieht Heidegger die existentielle Freiheit.

Die Langeweile ermöglicht uns einen Schritt zurück von der Welt und gibt damit einen Blick frei auf ihre uns sonst verborgene Beschaffenheit inklusive so erschreckender Zustände wie Einsamkeit und Endlichkeit. Das Erleben der Langeweile vermittelt uns den "Lastcharakter des Daseins überhaupt, dieses, daß dem Menschen das Dasein als solches zugemutet wird, daß ihm aufgegeben ist - da zu sein."* Und dieser Zumutung zu trotzen, Langeweile zu erfahren und sich aus ihr wieder aufzuraffen mit einem erneuerten Gefühl, dass es darauf ankommt, die eigene Zeit selbst mit Sinnhaftigkeit zu erfüllen, darin liegt vielleicht das alltägliche Geheimnis des Daseins, an das wir auch durch die Angst und Leere der Langeweile erinnert werden können. Rüdiger Safranski bringt das verständlich auf den Punkt: "In der Langeweile merkst du, daß es nichts von Belang gibt, außer du tust es ..."*


Freitag, 9. August 2019

Achtsamkeit - Herzensruhe

Achtsamkeit - Wege zur Herzensruhe

Zur Ruhe finden - auf dem Weg der Achtsamkeit
Es ist die Sehnsucht, zur Ruhe zu kommen, nicht nur äußerlich, sondern auch innere Ruhe finden, Herzensruhe, in der das Herz, der Ort der tiefen Gefühle und vordergründigen Emotionen, zur Ruhe kommt, in der sich die Angst beruhigt, in der Erquickung und Regeneration zu erfahren ist.

Zeitansage:
Martin Heidegger beschreibt den Menschen als wesentlich einen, der sich sorgt. Das Dasein ist Sorge. In der Welt sein heißt, von der Sorge getragen werden. Diese Sorge läßt immer wieder Unruhe entstehen, inneren Lärm, laute Gedanken, lärmende Emotionen, gepaart mit Ängsten und Schuldgefühlen, Ahnungen, dass das Leben wohl doch nicht so verläuft, wie er es sich einmal erträumt hat. Und so läuft er vor den unangenehmen Augenblicken der Stille davon, betäubt sich wieder mit Lärm, der von allen Seiten auf ihn einströmt. Generiert Bilder, die die Tiefe der inneren Wirklichkeit überdecken, flieht in sorgende, ruhelose Beschäftigung, um der Wahrheit aus dem Wege zu gehen.
Was bleibt, ist die Sehnsucht nach Ruhe, Herzensruhe.

Eine Spur, die zum gefüllten Leben bringt - Achtsamkeit
Die Einladung, diesen Weg zu finden, von der Unruhe zur Ruhe zu kommen, besteht darin, alles, was ist, bewußt wahrzunehmen und in jedem Augenblick achtsam zu leben. Das hat nichts zu tun mit einer neuen Leistung, einem sorgenden Zwang, der treibt, sondern in der Achtsamkeit werde ich sensibel dafür, wie unachtsam ich sorgend in vielem bin. Deshalb kämpfe nicht gegen die Unruhe, sondern nehme sie zuerst bewußt wahr.
Achtsamkeit bedeutet, den Focus, die Aufmerksamkeit bewußt und mit Absicht auf das aktuelle Erleben richten, von Moment zu Moment, und das, was man darin wahrnimmt, nicht zu bewerten. Alles, was den Geist erreicht, erst einmal annehmen und nichts verbietend vermeiden, gerade auch die Unruhe, die sich als Sorge in mir abspielt.
Es ist ein behutsames Achtgeben, das diese Unruhe schon verwandeln kann, indem ich sie annehme: Ich lasse die Unruhe sein, anstatt gegen sie anzukämpfen.
Sie ist dann zwar noch existent, hat mich aber nicht mehr im Griff! Sie bestimmt mich nicht mehr. Denn die Betrachtung führt mich in eine Distanz zur Unruhe. Achtsamkeit bedeutet, diese Position des Beobachtens zu bewahren, sich selbst zuschauen. Der Punkt in mir, der dieUnruhe anschaut, ist selbst nicht mehr von ihr infiziert. Ich nehme die Unruhe wahr, indem ich mich nicht länger mit ihr identifiziere. Das beruhigt mehr, als wenn ich mit Gewalt dagegen ankämpfe! Die Zeit des Kämpfens ist vorbei. Gelassen kann ich darauf achten, wie sich die Unruhe äußert, da sind die Gedanken, da ist mein Körper. Ich kann beobachten, wie die Unruhe aufsteigt, was sie zum Wachsen bringt. Und ich kann beobachten, wie sie verebbt, welche Gedanken dann in den Vordergrund treten. Unruhe bewußt wahrnehmen, ohne davon bestimmt zu werden. So erfahre ich mitten in der Unruhe schon ein leichtes Wehen der Ruhe. Wodurch? Indem ich achtsam beobachtend mich verhalte.
Denn Achtsamkeit kommt von achten, aufmerken, überlegen, nachdenken.
Will sagen, ich handle überlegt, aufmerksam und bewußt. Ich bin ganz bei dem, was ich tue. Ich weiß um das, was ich tue. In meinem Tun bin ich mit allen Sinnen dabei. In diesem  Augenblick bin ich ganz gegenwärtig! Und da ist es dann zu spüren, das Geheimnis des Augenblicks, das Geheimnis der Zeit und des Raumes, das Geheimnis meines Lebens. Mit vollem Wissen und klarer Überlegung bei dem sein, was ich tue, was ich denke, was ich anrühre oder sehe und höre, was ich rieche, was ich wahrnehmend lebe.

Nicht jeder Augenblick kann so gelebt werden,
denn es geht nicht um Leistung,
die ohnehin in Überforderung und neue Sorge mündet.
Aber diese Achtsamkeit ist eine gute Übung, täglich eine Zeit in dieser inneren Haltung zu verbringen. Ich bin jetzt ganz in der Gegenwart. Das verändert auf Dauer meine Gedanken  und damit meine Lebenshaltung und führt auf den Weg zur inneren Ruhe.

Wahrnehmen ohne zu bewerten
Denn die Ursache unserer sorgenden Unruhe liegt oft darin, dass wir alles bewerten. Dabei sind die Wertmaßstäbe meistens so hoch gesetzt, dass wir sie nicht erreichen. So sind wir unzufrieden mit uns selbst und dieser Welt, und es entsteht eine diffuse Unruhe.
Wenn ich bewußt wahrnehme, was ist, ohne zu bewerten, dann kann ich es erst einmal so lassen, ohne es ändern zu müssen. Und wenn ich es lassen kann, verwandelt es sich und ich erhalte eine neue Blickrichtung, die mich dann ruhig handeln lässt.
Achtsamkeit ohne Werten heißt nicht, die bestehende Verhältnis sanktionierend zu ertragen, sondern von der wertenden Unruhe zu einer heilsamen Ruhe zu kommen, die dann aufzeigt, was in Ruhe und Gelassenheit zu tun ist.
Denn in der Achtsamkeit werde ich sensibel dafür, wie unachtsam ich in vielem bin. Das annehmen, ohne es zu bewerten bringt mich dazu, meine Unachtsamkeit zu lassen, ohne dagegen kämpfen zu müssen. So verwandelt sich Unachtsamkeit in eine erneuerte, zwanglose Achtsamkeit.

Ausblick - Achtsamkeit, ein Weg
Ich nehme in aller Ruhe meine Unruhe wahr. Ich spüre, dass vieles sich in mir bewegt. Aber dieses Ich, das spürt, ist selbst nicht in der Unruhe. Innerlich von den Gedanken und Gefühlen zurücktretend, erfahre ich einen wesentlichen Teil in mir, der nicht von sorgender Unruhe infiziert ist. Oder anders gesagt, durch konzentrative Achtsamkeit gilt es, die Automatik der Gedanken- und Gefühlsabläufe zu unterbrechen. Das führt zu einer inneren Ruhe, aus der Neues entstehen kann ohne unruhige Sorge.    

Donnerstag, 8. August 2019

Suche den Frieden und jage ihm nach!

Evangelische Kirche Wiehl -  Sonntag, 04.08.2019

Predigt über Psalm 34, 13-15

Pfarrer i.R. Heinz Hübner

-------------------------------------------------------------

...I will follow him – so hat der Gospelchor die Taufe von Fenna Josephine beschlossen. Denn die Taufe – auch ihre Taufe -  hat immer Folgen: nämlich Gott in seinem Wort in Anspruch nehmen, Gottes Wort in Anspruch nehmen, der in der Taufe verspricht:

„Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein!“ (Gen. 12,2)

Und das gilt heute nicht nur für Fenna, sondern für jeden von uns, der seine eigene Taufe, diese Zusage Gottes erinnert: I will follow him. Ich will IHM folgen. Gottes Wort für mich in Anspruch nehmen, dass es mein Denken, Fühlen und Handeln bestimmt.

Und das Wort, das heute in Fennas Taufe groß gemacht wurde, dieses „setze dich für den Frieden ein und verfolge dieses Ziel mit ganzer Kraft!“ – aus Psalm 34 – haben sie es erkannt? In der Lutherübersetzung heißt es kurz und bündig: „Suche Frieden und jage ihm nach!“ – das ist doch...richtig, das ist die Jahreslosung 2019, das Bibelwort, das uns dieses Jahr geleiten soll. Deshalb frage ich uns, wo stehen wir mit Gottes Wort jetzt, nachdem die Hälfte des Jahres schon wieder vergangen ist? Was hat dieses Wort, das wir dieses Jahr besonders in Anspruch nehmen, mit uns gemacht, was hat es gebracht? Wohin hat es mich gebracht?

Suche Frieden und jage ihm nach! 

Suchen und Jagen – das klingt doch sehr gehetzt, so als ob der Frieden sich versteckt hätte und wir ihn suchen müssen – oder der Friede immer schon wieder weg ist und d wir ihn eigentlich nie erreichen können, und deshalb ihm nachjagen müssen.

Und in Tat kann uns dieses Gefühl ja angesichts der aktuellen Fragen und Entwicklungen stark beschleichen.

Es gibt so viele Konflikte auf dieser Erde, die Menschen aus ihrer Heimat vertreiben und zur Flucht zwingen. Es gibt so viele Tote in Bürgerkriegen und Opfer im Kampf der Großmächte und Nachbarstaaten, wie in Syrien, im Jemen, in Afghanistan und anderswo. Da sind die Ertrinkenden im Mittelmeer, dort wo viele von uns an den Stränden Urlaub machen – Malle ist doch nicht weit von Malta entfernt!

Wir kommen den vielen Nachrichten und Bildern kaum noch hinterher – und mögen uns vielleicht dem auch gar nicht mehr aussetzen und schalten lieber ab. 

Wie kann da Frieden gelingen? Wie schützen wir uns vor Resignation? Wie behalten wir uns die Sensibilität und Aufmerksamkeit für den Frieden und das Engagement, zu dem uns Gottes Wort aufruft?

Der Psalm 34 stellt die Suche nach dem Frieden in einen umfassenden Horizont der Frage nach dem guten Leben, und er wird ganz konkret, wenn es um das Leben in Frieden geht.

 

Hören wir Psalm 34 die Verse 13-15:

Wer möchte gerne gut leben und schöne Tage sehen.

Behüte deine Zunge vor dem Bösen und deine Lippen,

dass sie nicht Trug reden.

Lass ab vom Bösen und tue Gutes.

Suchen Frieden und jage ihm nach.

 

Darum soll es gehen: Gutes Leben!

Die Frage nach dem guten Leben haben schon die alten Philosophen Platon und Aristoteles gestellt und haben daraus eine Ethik mit moralischen Handlungsanweisungen entwickelt. Und wer heute unter dem Stichwort „gutes Leben“ im Internet recherchiert, der findet unzählige Initiativen, Kongresse, Workshops, schlaue Bücher, Online-Medien und Ratgeberliteratur. Sogar die Bundesregierung hat zum Bürgerdialog „Gut leben in Deutschland“ aufgerufen. Glücksforschung über Konsumkritik, einfaches Leben durch regionales Denken und Handeln bis hin zu esoterischen Praktiken, um zu einem guten und ausgeglichenen Leben zu finden.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese Frage in diesen Formen ganz besonders in reichen Gesellschaften auftaucht. Offensichtlich herrscht trotz allen Reichtums und den vielen Möglichkeiten eine Art Sinnleere, die zu den Grundfragen des Lebens zurückführt.

Unsicherheit beherrscht viele Menschen und sie suchen nach Antworten, was ihrem Leben Orientierung gibt. Wie sehen solche Werte aus? Auf der Suche nach einem gefüllten, glücklichen Leben – Frieden – Schalom.

Blicken wir auf Psalm 34. Wie wird da gutes Leben definiert? Es gibt drei Hinweise:

 

1. „Behüte deine Zunge vor dem Bösen und deine Lippen, dass sie nicht Trug reden!“ 

Das ist höchst aktuell in Zeiten der fake news oder in einer Entwicklung, in der die Wahrheit als fake news verunglimpft wird. Die Wahrheit zu reden ist der erste Weg zu einem guten Leben in Frieden. Dazu gehört es auch, sensibel und aufmerksam zu bleiben für die Not und das Elend der Menschen. Sich dem dummen Gerde von alternativen Fakten entgegenzustellen, um die wahren Ursachen im globalen Kapitalismus zu entlarven. Dazu gehört es, die wahren Hintergründe für Flucht und Migration auf dieser Erde anzuschauen. Die Menschen fliehen vor Not und Elend, vor Krieg und Gewalt, die wir in den reichen Ländern des Nordens und Westens mitverursacht haben. Ungerechte Handelsbedingungen, Ausbeutung und Waffenexporte, die Konflikte verschärfen, tragen mit zu den Situationen bei, aus denen Menschen wegen einer wachsenden Perspektivlosigkeit fliehen. Nicht der Abschottung der Grenzen ist deshalb das Hauptaugenmerk zu widmen, sondern der tatsächlichen Bekämpfung der Ursachen.

„Behüte deine Zunge vor dem Bösen!“

Die Sensibilität für unsere Sprache ist ein wesentlicher Weg zum Schalom, zum guten Leben in Frieden. Wir müssen darauf achten, dass unsere Worte nicht verletzen, abgrenzen und ausgrenzen. Wir bemerken hoffentlich diese Verrohung der Sprache bis in bestimmte rechtsorientierte Parteiungen auch im Bundestag, Es kommt auf dich und mich, auf jeden einzelnen an, wie wir unsere Sprache gebrauchen, damit Frieden wird. Denn wenn die Worte verrohen, ist es nicht mehr weit zur Gewalt. Aktuelle Ereignisse in unserem Land zeigen das überdeutlich. Wer seine Worte nicht beherrschen kann, kann bald auch sich selbst nicht mehr beherrschen und wird von der Gewalt der Sprache, die das Denken und Handeln bestimmt, überwältigt. Wir merken hoffentlich mit großer Sorge, wie so die Sprache verroht, wie die 140 Zeichen eines twitternden Präsidenten der USA Lügen verbreiten und wie Schmähung, Verleumdung, Verhöhnung auch auf den Straßen unseres Landes, im öffentlichen wie auch privaten Diskurs Eingang finden. Meist fängt das mit der unsäglichen Redewendung „Man wird doch mal sagen dürfen...“ an. Sagen wir dann ein entschiedenes nein, um unsere Zunge vor dem Bösen zu bewahren!

2. Hinweis: „Lass ab vom Bösen und tue Gutes!“

Aber so einfach zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, ist doch gar nicht so einfach – mögen einige jetzt sagen – und sie haben damit Recht! Denn es nützt gar nichts, die Welt in gut und böse einzuteilen oder irgendwelche Menschen und Länder zu dämonisieren. Die Welt ist komplex und kompliziert geworden und einfache Antworten gibt es so nicht mehr!

Und dennoch haben wir in der Regel doch ein Gespür dafür, was richtig ist. Wir Menschen besitzen doch diese positive Vorstellungskraft. Fichte und Schelling, die Philosophen des deutschen Idealismus zu Beginn des 19 Jh., als man ebenfalls auf der Suche nach dem Wahren und Guten war in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, sprachen von den inneren Vorstellungsbildern, der Einbildungskraft, die zum Guten führt, weil sich darin die Wahrheit selbst offenbart. Und Hegel konnte darin das Wirken des Göttlichen erkennen. Ja wir Menschen besitzen doch diese positive Vorstellungskraft.

John Lennon hat das vor fast 50 Jahren in seinem Song „Imagine-peace on earth“ aufgenommen, einem der Lieblingssongs meiner Tochter. „Imagine...“ Stell dir vor, wie das ist, wenn alle Menschen auf der Welt in einträchtigem Frieden leben, wenn jeder nach seinen Bedürfnissen sich entwickeln kann. Imagine – stell dir vor, wie der Weg dahin aussehen könnte. Und dann fang in kleinen Schritten bei dir an. Und Lennon hat weiter gedichtet: you may say I’m a dreamer – du sagst ich sei ein Träumer – but I’m not the only one – aber ich bin nicht der einzige. Join me – komm mit auf diesem Weg und wir werden die Welt zum Guten verändern. Imagine – stell dir das vor, gebrauche deine Einbildungskraft!

Genau darum geht es, in kleinen Gruppen gemeinsam zu träumen, um dann den Traum vom Frieden zu verwirklichen in kleinen Schritten – Veränderung! Denn so beginnt das Reich Gottes, das Jesu Christus verheißen hat allen, die sich darauf einlassen.

Wir haben doch ein Gespür dafür, was richtig ist!

Und es würde anfangs schon reichen, wenn wir die Dinge lassen, von denen wir wissen, dass sie anderen Menschen oder der Mitschöpfung schaden, und die Dinge wirklich tun, die wir schon längst als richtig erkannt haben. Anderen Menschen Gutes tun, das geht nur über gerechte Teilhabe. Denn es ist ja unser eigener Lebensstil, mit dem wir auf Kosten anderer Menschen leben. Der Friede ist bedroht, mehr denn je. Weit über 2 Millionen Kinder leben in Deutschland von Hartz IV – auch das ist eine Kriegserklärung der Wohlhabenden gegen eine wehrlose Gruppe, die gleichzeitig als unsere Zukunft beschworen wird. Gerade angesichts der Taufe eines kleinen Kindes, der Fenna, gilt es, solches deutlich auszusprechen.

Vorstellungskraft - Frieden – Schalom für Stadt und Land. John Lennon rät „Imagine – stell dir das vor, wie es anders wäre und geht die ersten Schritte gemeinsam – I’m not the only one!

3. Hinweis aus Psalm 34 „Suche Frieden und jage ihm nach“

An den beiden Verben „suchen“ und „jagen“ wird klar: Frieden ist kein Zustand, der einmal erreicht, für immer Bestand hat. Frieden steht nicht zur freien Verfügung, als könnten wir einfach zugreifen wie zu einer Ware im Supermarkt. Frieden geschieht. Frieden wird im Hier und Jetzt, er leuchtet auf und geht auch wieder verloren, wenn er nicht ergriffen wird. Frieden ist ein lebendiger Prozess, der unser engagiertes und zielgerichtetes Handeln braucht.

Suchen und Jagen – das Suchen ist die Besonnenheit und das Jagen ist die Leidenschaft. Beides braucht es! Imagine peace on earth. Frieden ist ein Prozess, ein Weg. Und dieser Weg beginnt bei uns selbst, in unserer Einbildungskraft, dort wo das Göttliche und Menschliche sich treffen, in uns selbst dem inneren Frieden, wenn wir Gottes Wort in Anspruch nehmen: Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein! Wie es in Fennas Taufe ihr zugesagt wurde. Und wie wir es in der je eigenen Erinnerung aufgenommen haben. Der Friede Gottes ist da, er ist die Kraftquelle, wir sollen und können ihn in Besonnenheit suchen und mit Leidenschaft ihm nachjagen. Wo wir Gottes Wort so in Anspruch nehmen, wird Gott selbst mit uns sein und unser Handeln segnend beflügeln. Wo wir das Böse meiden und den Frieden suchen, werden unsere Gesichter hell sein vor Freude auf dem Weg des gefüllten, guten Lebens.

Diese hellen, freundlichen Gesichter wünsche ich uns allen.

Denn der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinnen auf dem Weg des Friedens. Amen.

1 -