Montag, 24. November 2014

Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie

Die universale Ausweitung des Religionsbegriffs.
Wenn das Göttliche und Un­bedingte in jedem Augenblick an der Wirklichkeit erscheinen kann, als ihr transzendenter Grund und Sinn, dann hat alles in der Welt eine Beziehung zu Gott, dann gibt es keinen Raum neben dem Göttlichen, dann kann keine Sphäre des Lebens ohne Bezug auf etwas Unbedingtes bestehen, auf etwas, das uns unbedingt angeht. Die Religion ist nicht ein besonderer Bereich des Lebens und nicht eine spezielle Funktion des menschlichen Geistes, sondern sie ist die Erfahrung des Elements des Unbedingten in allen anderen Funktionen des menschlichen Geistes und allen anderen Bereichen des Lebens. Die Religion ist die menschlichste aller Erfahrungen, sie ist überall zu Haus, sie ist der Grund und die Tiefe des menschlichen Geisteslebens. Es gibt keine Funktion des mensch­lichen Geistes und keine Sphäre des Lebens, die nicht, mögen sie scheinbar auch noch so profan sein, eine Beziehung auf das Unbe­dingte und damit eine verborgene religiöse Dimension haben. Po­litische Ideen, weltliche Gedichte, philosophische Gedanken, wis­senschaftliche Untersuchungen - weisen sie auf etwas Unendliches und Letztes in Sinn und Sein hin, so weisen sie auf die gleiche Wirklichkeit hin, für die von der Religion im engeren Sinne das Symbol Gott verwendet wird. Die Religion ist wie Gott allgegenwärtig, ihre Gegenwart kann wie die Gottes vergessen, vernachlässigt, geleugnet werden. Sie ist immer wirksam, verleiht dem Leben unausschöpfliche Tiefe und jedem kulturellen Schaffen unausschöpflichen Sinn. Inner­halb der Geschichte ist eine Vergangenheit oder Zukunft unvor­stellbar, in der der Mensch nicht nach dem Sinn seines Lebens fragte, das heißt aber, in der er ohne Religion lebte. Er kann religiöse Symbole im engeren wörtlichen Sinn vermeiden, aber er kann nicht ohne Religion in ihrer tieferen, universellen Bedeutung existieren. Religion in diesem Sinne lebt, solange der Mensch lebt; sie kann aus der menschlichen Geschichte nicht verschwinden, denn Geschichte ohne Religion wäre nicht mehr menschliche Geschichte.

Grundsätzliches zum Verhältnis von Theologie und Philosophie
Philosophie und Theologie sind nicht getrennt, und sie sind nicht identisch, aber sie stehen in Korrelation. Das philosophische Ele­ment ist in die Struktur des theologischen Systems selbst hineinzunemen:
ein­mal als den Stoff, aus dem die Fragen entwickelt werden, auf die die Theologie Antwort gibt;
zum anderen als den Stoff, aus dem die Antworten geformt werden, die die Theologie erteilt.
Die Philosophie vermag nicht den Inhalt der Antworten zu liefern; sie vermag nicht einmal die in der menschlichen Existenz be­schlossene Frage nach Gott zu explizieren. Dass Gott die Antwort ja schon, dass er die explizierte Frage ist, kann nicht aus der menschlichen
Existenz abgeleitet, sondern muss in sie hineingesprochen werden. Aber die Form, in der dies geschieht, ist durch die Philosophie vor­bestimmt, denn die Antwort hat in ihrer Form der zuvor gestell­ten Frage zu entsprechen.
Das nenne ich die theologische Methode der Korrelation.
Dieses Auskommen zwischen Philosophie und Theologie wird dadurch ermöglicht, dass die Onto­logie in beiden Disziplinen eine bestimmende Rolle spielt. Beide, Philosophie und Theologie, stellen die letzte Frage, die überhaupt gestellt werden kann: die Frage nach dem Sein. Beide stellen sie nur von verschiedenen Ausgangspunkten her und in verschiedener Haltung: Die Philosophie stellt sie theoretisch als Frage nach der Gestalt des Seins an sich, die Theologie existentiell als Frage nach dem Sinn des Seins für uns und damit als Frage nach Gott.
Aber auch der Philosoph fragt, wenn er die Frage nach dem Sein stellt, nicht nur in theoretischer Distanz nach der Struktur des Seins, sondern auch in existentieller Betroffenheit nach seinem Sinn, und wenn er eine Antwort darauf gibt, wird er zu einem heim­lichen oder offenen Theologen, auch wenn er es eigentlich nicht sein will. Umgekehrt kommt auch der Theologe nicht darum herum, kritisch Distanz zu nehmen und die Strukturen des Seins theore­tisch zu bedenken, und wenn er dies tut, verhält er sich philoso­phisch. So sind Philosophie und Theologie ebensowohl „divergent“ wie „konvergent“. Sie sind divergent, insofern die Philosophie grundsätzlich theoretisch und die Theologie grundsätz­lich existentiell ist, und sie sind konvergent, insofern beide zu­gleich sowohl theoretisch als auch existentiell sein können. Auf diese Weise kann es bei nie zu einem grundsätzlichen Kon­flikt zwischen Theologie und Philosophie kommen, sondern höch­stens zu einem praktischen zwischen Theologen und Philosophen, und auch dies nur so, dass der Theologe und der Philosoph dann entweder auf theologischer oder auf philosophischer Ebene mitein­ander streiten.
Es geht dabei nicht um die Verschmelzung von Philosophie und Theologie, wohl aber um ihre wechselseitige Ergänzung: Sie sind aufeinander ange­wiesen und verarmen beide, wenn sie voneinander getrennt werden. Gegen eine Philosophie, die sich von der Theologie trennt, ist einzuwenden: Die Philosophie wird zum logischen Positivismus. Oder sie wird zur reinen Erkenntnistheorie, schärft ständig das Messer des Denkens, aber schneidet niemals. Oder sie wird zur Ge­schichte der Philosophie, zählt eine philosophische Meinung der Vergangenheit nach der anderen auf, hält sich selbst in vornehmer Distanz, glaubenslos und zynisch - eine Philosophie ohne existen­tielle Basis, ohne theologischen Grund, ohne theologische Macht. Gegen eine Theologie, die sich von der Philosophie trennt, ist einzuwenden: Eine solche Theologie spricht von Gott als einem Wesen neben anderen, der Struktur des Seins unterworfen wie alles Seiende, er ist das höchste Seiende, aber nicht das Sein selbst, nicht der Sinn des Seins, und er ist daher ein barmherziger Tyrann, der in seiner Macht beschränkt ist, der uns zwar sehr viel angeht, aber nicht letztlich, nicht unbedingt; dessen Existenz, zweifelhaft, wie sie ist, bewiesen werden muss wie die Existenz eines neuen chemi­schen Elements oder eines umstrittenen Ereignisses in der vergan­genen Geschichte. Eine solche Theologie trennt den Menschen von der Natur und die Natur vorn Menschen, das Selbst von seiner Welt und die Welt vom Selbst.
Das Fazit aus der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Theologie lautet: So umfassen sich Philosophie und Theologie, Religion und Erkennen wechselseitig. Dies scheint von der Grenze her gesehen, das wirkliche Verhältnis beider zu sein.
Die Frage nach dem Ver­hältnis von Theologie und Philosophie ist  die Frage nach dem Wesen der Theologie überhaupt. Keine Theologie kommt, wenn sie die Wahrheit über Gott für den Menschen verständlich ausdrücken will, um die Philosophie herum.
Dass Philosophie und Theologie so eng miteinander verbunden sind, liegt in der einfachen Tatsache begründet, dass beide mit dem Sein zu tun haben. Philosophie ist  in ihrem Zentrum Ontologie. Sie stellt die Frage, was es bedeutet, wenn man sagt, dass etwas „ist“. Das ist die einfachste, tiefste und absolut unerschöpfliche Frage, die überhaupt gestellt werden kann. Die­ses Wort „ist“ verbirgt das Rätsel alter Rätsel, wie sein Geheimnis bewegt sich alle Philosophie: Sie sucht das, was sich in allem Seienden verkörpert, das „Sein-Selbst“, aufzufinden und so die Prinzipien, Strukturen und Kategorien, die allem Seienden zu­grunde liegen, zu erkennen.
Mit dem Sein und also mit Ontologie hat es aber auch die Theo­logie zu tun. Alle Aussagen, die die Theologie über Gott, die Welt und den Menschen macht, liegen innerhalb des Bereiches des Seins und enthalten daher immer notwendig ontologische Elemente. Schon die einfachste theologische Aussage, nämlich dass Gott „ist“, schließt die ontologische Frage ein und verlangt daher nach der Philosophie: Ohne eine Philosophie, in der die ontologische Frage erscheint, wäre die christliche Theologie nicht in der Lage, das Sein Gottes denen zu erklären, die wissen möchten, in welchem Sinne man sagen kann, dass Gott „ist“.
Wie die beiden Brennpunkte der Ellipse ist es zu betrachten, sowohl die existentielle Frage als auch die theologische Ant­wort, das eine Mal in der Form der Frage, das andere Mal in der Form der Antwort.

Wie ist der Mensch zu sehen?
Denn nichts charakterisiert den Menschen so sehr wie dies, dass er fragt - das unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen: „Der Mensch ist das Seiende, das die Frage nach dem Sein stellt.“ Geboren wird die Frage des Menschen nach dem Sein aus einer Erschütterung, aus dem „ontologischen Schock“. Das Sein ist um­spült und bedroht vom Ozean des Nicht-Seins. Und das ist es, was den Menschen in die Angst und ins Fragen treibt. Gepackt von dem Schock des möglichen Nicht-Seins, von seiner Grundangst, dass das Nicht-Sein über das Sein triumphiere, fragt der Mensch nach dem Sein. Er durchstößt mit seinem Fragen eine Schicht der Wirk­lichkeit nach der anderen und schneidet schließlich durch sie alle hindurch bis auf den Grund: Warum ist Sein und nicht vielmehr Nicht-Sein? Was ist der Grund und Sinn alles Seins? Was ist der Grund und Sinn meines Seins? Warum ist überhaupt etwas da und nicht vielmehr nichts da? Wofür bin ich da? Indem der Mensch so nach dem Grund und Sinn des Seins fragt, fragt er nach der letzten Wirklichkeit, nach dem „wirklich Wirklichen“, nach dem, was ihn unbedingt angeht.
Der Mensch fragt nach dem Sein, weil er eine Mischung aus Sein und Nicht-Sein ist: Er hat teil am Sein und ist zugleich von ihm getrennt. Darin offenbart sich seine Endlichkeit. Die End­lichkeit ist die fundamentale Eigenschaft aller menschlichen Exi­stenz; sie bestimmt ihren Inhalt und ihre Gestalt.
Der Mensch existiert auf der Grenze zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, er hat, im Unterschied zu allen anderen Lebewesen, endliche Freiheit - das ist seine Mühsal und Last. Das ist es, was ihn zu einem Fragment macht, sich selbst ein Rätsel, dunkel, geheimnisvoll, verwirrend und quälend. Darin spiegeln sich sein Elend und seine Größe. Sein Elend ist, dass er endlich, unvollkom­men, vergänglich und sterblich ist, seine Größe, dass er um dies alles weiß. Darum kann man fragen, ob seine Größe nicht nur die Größe seines Elends sei. Er erfährt, dass er endlich ist, aber er würde es nicht erfahren, wenn er nicht etwas ahnte von der Unendlichkeit; er erfährt, dass er unvollkommen ist, aber er würde es nicht erfahren, wenn er nicht etwas ahnte von der Vollkommen­heit; er erfährt, dass er vergänglich ist, aber er würde es nicht er­fahren, wenn er nicht etwas ahnte von der Ewigkeit. Immer noch nimmt der Mensch unbewusst Maß an der Würde seines Ursprungs und wahren Wesens. Gewiss ist es eine verlorene Würde, aber noch der Verlust weist auf den einstigen Besitz hin.
Die Trennung des Menschen vom Sein weist auf den „Fall“ des Menschen hin. Dieser „Sündenfall“ ist zu deuten als den Übergang des Menschen von der „Essenz“ zur „Existenz“.
Alles kommt dar­auf an, dass der Übergang des Menschen von der Essenz zur Exi­stenz richtig gedeutet wird, nämlich nicht historisch, sondern existentiell. Er ist kein Ereignis in Raum und Zeit, nicht das erste Fak­tum in einem zeitlichen Sinne: Die Vorstellung, dass der Mensch und die Natur zunächst gut waren und in einem bestimmten Zeit­punkt böse wurden, ist absurd und kann weder aus der Erfahrung noch aus der Offenbarung begründet werden. Vielmehr ist der Übergang von der Essenz zur Existenz „die transhistorische Quali­tät aller Ereignisse in Raum und Zeit“, das, was jedem Faktum Realität verleiht: „es wird wirklich in jeder Wirklichkeit“.
Das Ergebnis des Übergangs des Menschen von der Essenz zur Existenz ist die Entfremdung. Das Wesen der Entfremdung besteht darin, dass der Mensch von dem entfremdet ist, zu dem er wesenhaft gehört. Er ist vom Grund des Seins und damit von dem Ursprung und Ziel seines Lebens getrennt. Der Mensch ist nicht das, was er eigentlich sein sollte. »Existenz« und »Entfremdung« sind Synonyma: Existenz bedeutet immer Entfremdung des Men­schen von seinem wahren, eigentlichen Sein und darum Bedrohung durch das Nicht-Sein und eben darum Angst und Frage nach dem Sein.
Der Zustand der Entfremdung, in dem der Mensch existiert, be­deutet eine dreifache Trennung: Getrennt vom Grund des Seins, dem Ursprung und Ziel unseres Lebens, sind wir zugleich getrennt von uns selbst und getrennt von unseren Mitmenschen. So läuft ein unheilvoller Riss durch alles Sein. Das ist es, was die Bibel „Sünde“ nennt. Diese Auslegung steht gegen das übliche moralische Mißverständnis des christlichen Sündenbegriffs; Sünde hingegen ist ein transmoralischer, ein religiöser Begriff. Sünde bezeichnet nicht nur einen sitt­lichen Defekt, überhaupt nicht nur ein subjektives Verhalten des Menschen, nicht nur persönliche Schuld, sondern immer auch ein tragisches Schicksal und Verhängnis, freilich ein Schicksal und Ver­hängnis, an dem wir handelnd teilnehmen, und darum immer auch Schuld, für die wir persönlich verantwortlich sind. Unter den Bedingungen der Existenz leben heißt in Sünde leben. Vor aller praktischen Tat ist die Sünde ein ontologischer Stand, der Stand der Entrfremdung des Menschen von Gott.



Dienstag, 11. November 2014

Ludwig Feuerbach Das Wesen des Christentums

Da der christliche Glaube zur Legitimation des Feudalismus im Deutschland der 1830er und 1840er Jahre diente - der Untertanengeist entspricht der religiösen Demut und Passivität -, ist Feuer­bachs Religionskritik als mittelbare Kritik an den politischen Verhältnissen zu verstehen. Indem er sich bemüht, den Men­schen aus seiner Jenseitsbezogenheit zu lösen und zu einem aktiven Handeln ins Diesseits zurückzuführen - seine „philosophische Revolution“ soll zur Vorbereitung der politischen dienen -, geht sein anthropologischer Mate­rialismus nicht nur über die These vom Priesterbetrug (fran­zösischer Materialismus des 18. Jh.s) oder kritische Bibel­exegese (D. F. Strauß, Bruno Bauer) hinaus, sondern auch über die idealistische Kritik der Junghegelianer an Hegel; Feuerbach ist sozusagen „Mittelglied zwischen der Hegel­schen Philosophie und unserer Auffassung“ (Engels).
An­setzend bei der erkenntnistheoretischen Trennung von sinn­lichen Gegenständen, d. h. materieller Wirklichkeit, und dem menschlichen Bewußtsein, analysiert Feuerbach die Beson­derheit des „religiösen Gegenstandes“, die darin besteht, daß er keinen spezifischen Inhalt besitzt, sondern lediglich die „Rückspiegelung unseres eigenen Wesens“ mit Hilfe der religiösen Phantasie darstellt. Das menschliche Wesen tritt folglich in der Form des göttlichen Wesens dem Individuum als ein ihm äußerliches, fremdes entgegen. Diese Vergegenständlichung des menschlichen Wesens wird vom Menschen jedoch nicht erkannt, d. h., er tritt - ohne es zu bemerken - seinem eigenen ihm entfremdeten Bewußtsein gegenüber. Indem Feuerbach die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Welt, Denken und Sein, Geist und Natur stellt und materialistisch beantwortet, wendet er sich gegen den idealistischen Ansatz, wie er im christlichen Gott, aber auch in Hegels Weltgeist (Verselbständigung der geistigen menschlichen Tätigkeit) zu finden ist. In Weiterentwicklung Hegelscher Begrifflichkeit überwindet Feuerbach sowohl die Theorie von der Identität wie die von der Dualität von Subjekt und Objekt.
Letztlich bleibt sein Materialismus je­doch kontemplativ (sichtbar auch an seinem distanzierten Verhalten während der 1848er Revolution), da er „Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung“ faßt; „nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv“. Feuerbach geht in seinem radikalen Humanismus von einem abstrakt verstandenen Menschen aus, er sieht nur die natürlichen Beziehungen des Menschen, nicht aber dessen Gesellschaftlichkeit und Geschichte, was einerTren­nung von Materialismus und Historizität entspricht. Seine Anthro­pologie konfrontiert Individuum und menschliche Gattung, ohne die realen gesellschaftlichen Kämpfe der Menschen innerhalb konkreter Produktionsverhältnisse zu berücksich­tigen. In aufklärerischer bürgerlicher Tradition stehend strebt Feuerbach nach der Veränderung des Bewußtseins, nicht jedoch nach der „Revolutionierung der Besitzverhältnisse“; die Aufhebung der Selbstentfremdung des Menschen soll mit der Ablösung der Religion durch die Philosophie er­folgen, nicht durch die Zerstörung der materiellen Entfrem­dung.
Wird Feuerbachs Philosophie unmittelbar umgesetzt, so verkommt sie im all­gemeinen zur praxisfernen, gefühlvollen Liebesreligion; in ihrer Aufhebung im historischen Materialismus jedoch wird deutlich, daß Feuerbach mit seiner Religionskritik die Marx­sche Ideologiekritik vorbereitet hat, d. h., daß seine Philosophie zu Recht als die „höchste begriffliche Form der deutschen revolutionären Demokratie“ (Lukacs) bezeichnet wird.


Religionskritik bei W. I. Lenin

Religionskritik bei W. I. Lenin im Rahmen der philosophischen Entwicklung des Dialektischen Materialismus
Heinz Hübner, Nov. 2014
1. Philosophische Anknüpfung
„In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen...Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis... Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an sie zu verändern.“ (aus K. Marx: Thesen über Feuerbach)
Im Anschluß an diese thetische Setzung versteht sich Lenin als Philosoph neuen Typs, der nicht von Vorstellungen und Ideen ausgeht, sondern in der sozialistisch-revolutionären Bewegung, der gesellschaftlichen Praxis die Theorie anhand der Praxis entwickelt. So nimmt er die Lehren von Marx und Engels auf und vollendet sie praxisnah zum System des revolutionären Marxismus-Leninismus.

2. Praktischer Hintergrund
Am Ende des 19. Jh. befindet sich der Kapitalismus im Übergang von der freien Konkurrenz in den Imperialismus. Die sozialistische Revolution als Auflösung dieser kapitalistischen Widersprüche tritt auf die Tagesordnung der Geschichte. Die Organisierung einer Partei neuen Typs wird notwendig, einer „Kampfpartei, einer revolutionären Partei, die kühn genug ist, die Proletarier in den Kampf um die Macht zu führen, die genügend Theorie und Erfahrung hat, um sich in den komplizierten Verhältnissen der revolutionären Situation zurechtzufinden, und genügend Elastizität besitzt, um Klippen jeder Art auf dem Weg zum Ziel zu umgehen. Ohne eine solche Partei ist an einen Umsturz des Imperialismus, an die Diktatur des Proletariats gar nicht zu denken.“ (J. Stalin in: Über die Grundlagen des Leninismus.1924)
Die Schaffung dieser Partei bedurfte ideologischer Voraussetzung, die Lenin als praktischer Theoretiker, als Philosoph neuen Typs schuf. So entwickelt er die Lehren von Marx und Engels auf dem Boden der sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse fort. Die revolutionäre Partei der Arbeiterklasse braucht die Ideologie als philosophisches Kampfmittel, um die Probleme der politischen und gesellschaftlichen Praxis einer Lösung zuzuführen. Schon Marx konstatiert in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: „Für Detschland ist die Kritik der Religion im Wesentlichen beendigt...Das Fundament der Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.“ Lenin nimmt das auf, um in seinem philosophischen Denken beim Menschen in seiner materialistischen Sozialität anzusetzen. Sein denkerisches System ist in drei Bereiche eingeteilt,
a) Philosophie, gegliedert in die Hauptteile historischer und dialektischer Materialismus
b) Politökonomie als Wirtschaftslehre
c) Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus, gemeint als Theorie und Taktik der sozialistischen Bewegung durch die Partei neuen Typs.
Dabei ist die Philosophie die Grundlage der gesamten Lehre, das Band, das alles zusammenhält. Sie ist nicht allein Erkenntnistheorie oder Methodenlehre, sondern Methode und Weltanschauung zugleich, also Gesamtdeutung des menschlichen Daseins bzw. allen Seins überhaupt und zwar dogmatisch, d.h. nicht tastend suchend, sondern auf wissenschaftlicher Grundlage entwickelt, abschließend und endgültig bewiesen.

3. Philosophischer Ansatz – Historischer Materialismus
So fasst Lenin diese Philosophie auf:
„Die Philosophie des Marxismus ist der Materialismus. Im Laufe der gesamten neuesten Geschichte Europas und insbesondere Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich, wo eine entscheidende Schlacht gegen alles mittelalterliche Gerümpel, gegen den Feudalismus in den Einrichtungen und in den Ideen geschlagen wurde, erwies sich der Materialismus als die einzige folgerichtige Philosophie, die allen Lehren der Naturwissenschaften treu bleibt, die dem Aberglauben, der Frömmelei usw. feind ist. Die Feinde der Demokratie waren daher aus allen Kräften bemüht, den Materialismus „zu widerlegen", zu untergraben und zu diffamieren, und nahmen die verschiedenen Formen des philosophischen Idealismus in Schutz, der stets, auf diese oder jene Art, auf eine Verteidigung oder Unterstützung der Religion hinausläuft.
Marx und Engels verfochten mit aller Entschiedenheit den philosophischen Materialismus und legten zu wiederholten Malen dar, wie grundfalsch pede Abweichung von dieser Grundlage ist. Am klarsten und ausführlichsten sind ihre Anschauungen in Engels' Werken „Ludwig Feuerbach" und „Anti-Dühring" niedergelegt, die - wie das „Kommunistische Manifest" - Handbücher jedes klassenbewußten Arbeiters sind.
Aber Marx blieb nicht beim Materialismus des 18. Jahrhunderts stehen, er entwickelte die Philosophie weiter. Er bereicherte sie durch die Errungenschaften der deutschen klassischen Philosophie und besonders des Hegelschen Systems, das seinerseits zum Materialismus Feuerbachs geführt hatte. Die wichtigste dieser Errungenschaften ist die Dialektik, d. h. die Lehre von der Entwicklung in ihrer vollständigsten, tiefstgehenden und von Einseitigkeit freiesten Gestalt, die Lehre von der Relativität des menschlichen Wissens, das uns eine Widerspiegelung der sich ewig entwickelnden Materie gibt. Die neuesten Entdeckungen der Naturwissenschaft - das Radium, die Elektronen, die Verwandlung der Elemente - haben den dialektischen Materialismus von Marx glänzend bestätigt, entgegen den Lehren der bürgerlichen Philosophen mit ihrer ständig „neuen" Rückkehr zum alten und faulen Idealismus.
Marx, der den philosophischen Materialismus vertiefte und entwickelte, führte ihn zu Ende und dehnte dessen Erkenntnis der Natur auf die Erkenntnis der menschlichen Gesellschaft aus. Der historische Materialismus von Marx war eine gewaltige Errungenschaft des wissenschaftlichen Denkens. Das Chaos und die Willkür, die bis dahin in den Anschauungen über Geschichte und Politik geherrscht hatten, wurden von einer erstaunlich einheitlichen und harmonischen wissenschaftlichen Theorie abgelöst, die zeigt, wie sich aus einer Form des gesellschaftlichen, Lebens, als Folge des Wachsens der Produktivkräfte, eine andere, höhere Form entwickelt - wie zum Beispiel aus dem Feudalismus der Kapitalismus hervorgeht.
Genauso wie die Erkenntnis des Menschen die' von ihm unabhängig existierende Natur, d. h. die sich entwickelnde Materie widerspiegelt, so spiegelt die gesellschaftliche Erkenntnis des Menschen (d. h. die verschiedenen philosophischen, religiösen, politischen usw. Anschauungen und Lehren) die ökonomische Struktur der Gesellschaft wider. Die politischen Einrichtungen sind ein Überbau auf der ökonomischen Basis. Wir sehen zum Beispiel, wie die verschiedenen politischen Formen der heutigen europäischen Staaten dazu dienen, die Herrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat zu festigen.
Marx' Philosophie ist der vollendete philosophische Materialismus, der der Menschheit - insbesondere aber der Arbeiterklasse -- mächtige Mittel der Erkenntnis gegeben hat.“
(aus: W.I.Lenin, Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, März 1913,
in Lenin Werke, Bd.19, S. 3-4)

4. Zur dialektischen Methodik
„In der Hegelschen Dialektik als der umfassendsten, inhaltsreichsten und tiefsten Entwicklungslehre sahen Marx und Engels die größte Errungenschaft der klassischen deutschen Philosophie. Jede andere Formulierung des Prinzips der Entwicklung, der Evolution, hielten sie für einseitig und inhaltsarm, für eine Entstellung und Verzerrung des wirklichen Verlaufs der (sich nicht selten in Sprüngen, Katastrophen, Revolutionen vollziehenden) Entwicklung in Natur und Gesellschaft. „Marx und ich waren wohl ziemlich die einzigen, die ... die bewußte Dialektik in die materialistische Auffassung der Natur ... hinübergerettet hatten" (aus der Zerschlagung des Idealismus, einschließlich des Hegelianertums). „Die Natur ist die Probe auf die Dialektik, und wir müssen es der modernen Naturwissenschaft nachsagen, daß sie für diese Probe ein äußerst reichliches" (geschrieben vor der Entdeckung des Radiums, der Elektronen, der Verwandlung der Elemente u. dgl. m.!), „sich täglich häufendes Material geliefert und damit bewiesen hat, daß es in der Natur, in letzter Instanz, dialektisch und nicht metaphysisch hergeht."
„Der große Grundgedanke", schreibt Engels, „daß die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge, nicht minder wie ihre Gedankenabbilder in unserem Kopf, die Begriffe, eine ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens durchmachen... - dieser große Grundgedanke ist, na-
mentlich seit Hegel, so sehr in das gewöhnliche Bewußtsein übergegangen, daß er in dieser Allgemeinheit wohl kaum noch Widerspruch findet. Aber ihn in der Phrase anerkennen und ihn in der Wirklichkeit im einzelnen auf jedem zur Untersuchung kommenden Gebiet durchführen, ist zweierlei." „Vor ihr" (der dialektischen Philosophie) „besteht nichts Endgültiges, Absolutes, Heiliges; sie weist von allem und an allem die Vergänglichkeit auf, und nichts besteht vor ihr als der ununterbrochene Prozeß des Werdens und Vergehens, des Aufsteigens ohne Ende vom Niedern zum Höhern, dessen bloße Widerspiegelung im denkenden Hirn sie selbst ist." Demnach ist die Dialektik nach Marx „die Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl der äußern Welt wie des menschlichen Denkens"
Diese, die revolutionäre Seite der Hegelschen Philosophie wurde von Marx übernommen und weiterentwikkelt. Der dialektische Materialismus „braucht keine über den andern Wissenschaften stehende Philosophie mehr". Was von der bisherigen Philosophie noch bestehenbleibt, ist „die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen - die formelle Logik und die Dialektik". Die Dialektik in der Marxschen ebenso wie in der Hegelschen Auffassung schließt aber in sich das ein, was man heute Erkenntnistheorie nennt, die ihren Gegenstand gleichfalls historisch betrachten muß, indem sie die Entstehung und Entwicklung der Erkenntnis, den Übergang von der Unkenntnis zur Erkenntnis erforscht und verallgemeinert.
In unserer Zeit ist die Idee der Entwicklung, der Evolution, nahezu restlos in das gesellschaftliche Bewußtsein eingegangen, jedoch auf anderen Wegen, nicht über die Philosophie Hegels. Allein in der Formulierung, die ihr Marx und Engels, ausgehend von Hegel, gegeben haben, ist diese Idee viel umfassender, viel inhaltsreicher als die landläufige Evolutionsidee. Eine Entwicklung, die die bereits durchlaufenen Stadien gleichsam noch einmal durchmacht, aber anders, auf höherer Stufe („Negation der Negation"), eine Entwicklung, die nicht geradlinig, sondern sozusagen in der Spirale vor sich geht; eine sprunghafte, mit Katastrophen verbundene, revolutionäre Entwicklung; „Abbrechen der Allmählichkeit" ; Umschlagen der Quantität in Qualität; innere Entwicklungsantriebe, ausgelöst durch den Widerspruch, durch den Zusammenprall der verschiedenen Kräfte und Tendenzen, die auf einen gegebenen Körper einwirken oder in den Grenzen einer gegebenen Erscheinung oder innerhalb einer gegebenen Gesellschaft wirksam sind; gegenseitige Abhängigkeit und engster, unzertrennlicher Zusammenhang aller Seiten jeder Erscheinung (wobei die Geschichte immer neue Seiten erschließt), ein Zusammenhang, der einen einheitlichen, gesetzmäßigen Weltprozeß der Bewegung ergibt - das sind einige Züge der Dialektik als der (im Vergleich zur üblichen) inhaltsreicheren Entwicklungslehre. (Vgl. Marx' Brief an Engels vom 8. Januar 1868 [21] mit dem Spott über Steins „hölzerne Trichotomien", die mit der materialistischen Dialektik zu verwechseln Unsinn wäre.)“
(aus: W.I.Lenin, Karl Marx, November 1914,
in Lenin Werke, Bd.21, S. 41-44)



5. Die materialistische Geschichtsauffassung
„Die Erkenntnis der Inkonsequenz, Unzulänglichkeit und Einseitigkeit des alten Materialismus brachte Marx zu der Überzeugung von der Notwendigkeit, „die Wissenschaft von der Gesellschaft ... mit der materialistischen Grundlage in Einklang zu bringen und auf ihr zu rekonstruieren" [22j. Erklärt der Materialismus überhaupt das Bewußtsein aus dem Sein, und nicht umgekehrt, so forderte der Materialismus in seiner Anwendung auf das gesellschaftliche Leben der Menschheit die Erklärung des gesellschaftlichen Bewußtseins aus dem gesellschaftlichen Sein. „Die Technologie", sagt Marx („Das Kapital", I[23I), „enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozeß seines
Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen." Eine abgeschlossene Formulierung der Grundsätze des Materialismus, ausgedehnt auf die menschliche Gesellschaft und ihre Geschichte, gab Marx im Vorwort zu seinem Werk „Zur Kritik der Politischen Ökonomie" in folgenden Worten:
„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen.
Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktionskräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Mensehen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dein vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären ... In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden."[24] (Vgl. Marx' kurze Formulierung in seinem Brief an Engels vom 7. Ji4i 1866: „Unsere Theorie von der Bestimmung der Arbeitsorganisation durch das Produktionsmittel." Pes])
Die Entdeckung der materialistischen Geschichtsauffassung oder richtiger: die konsequente Fortführung, die Ausdehnung des Materialismus auf das Gebiet der gesellschaftlichen Erscheinungen hat zwei Hauptmängel der früheren Geschichtstheorien beseitigt. Diese hatten erstens im besten Falle nur die ideellen Motive des geschichtlichen Handelns der Menschen zum Gegenstand der Betrachtung gemacht, ohne nachzuforschen, 'wodurch diese Motive hervorgerufen werden, ohne die objektive Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung des Systems der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erfassen, ohne die Wurzeln dieser Verhältnisse im Entwicklungsgrad der materiellen Produktion zu erblicken; zweitens hatten die früheren Theorien gerade die Handlungen der Massen der Bevölkerung außer acht gelassen, während der historische Materialismus zum erstenmal die Möglichkeit gab, mit naturgeschichtlicher Exaktheit die gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Massen sowie die Veränderungen dieser Bedingungen zu erforschen.
Die „Soziologie" und die Geschichtsschreibung vor Marx hatten im besten Falle eine Anhäufung von fragmentarisch gesammelten unverarbeiteten Tatsachen und die Schilderung einzelner Seiten des historischen Prozesses geliefert. Der Marxismus wies den Weg zur allumfassenden, allseitigen Erforschung des Prozesses der Entstehung, der Entwicklung und des Verfalls der ökonomischen Gesellschaftsformationen, indem er die Gesamtheit aller widerstreitenden Tendenzen untersuchte, diese auf die exakt bestimmbaren Lebens- und Produktionsverhältnisse der verschiedenen Klassen der Gesellschaft zurückführte, den Subjektivismus und die Willkür bei der Auswahl bzw. Auslegung der einzelnen „herrschenden" Ideen ausschaltete und die Wurzeln ausnahmslos aller Ideen und aller verschiedenen Tendenzen im gegebenen Stand der materiellen Produktivkräfte aufdeckte. Die Menschen machen ihre Geschichte selbst; aber wodurch die Motive der Menschen und namentlich der Massen der Menschen bestimmt, wodurch die Zusammenstöße der widerstreitenden Ideen und Bestrebungen verursacht werden, was die Gesamtheit aller dieser Zusammenstöße der ganzen Masse der menschlichen Gesellschaften darstellt, was die objektiven Produktionsbedingungen des materiellen Lebens sind, die die Basis für alles geschichtliche Handeln der Menschen schaffen, welcherart das Entwicklungsgesetz dieser Bedingungen ist - auf all dies lenkte Marx die Aufmerksamkeit und wies so den Weg zur wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte als eines einheitlichen, in all seiner gewaltigen Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit
gesetzmäßigen Prozesses.“
(aus: W.I.Lenin, Karl Marx, November 1914,
in Lenin Werke, Bd.21, S. 44-46)

6. Zum Begriff Materie
Lenin entwickelt den philosophischen Materialismus weiter, indem er den Materiebegriff neu formuliert.
Er verwirft den alten, zu eng gewordenen Begriff der Materie. Für ihn ist Materie »eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität«. Dieser Begriff ist also viel weiter als der ursprüngliche und vor allem viel elastischer, sobald man ihn im Sinne des dialektischen Materialismus expliziert:
Zum Wesen der Materie gehört für den dialektischen Materialismus die Bewegung. Keine Materie ohne Bewegung - keine Bewegung ohne Materie. Unter Bewegung ist dabei jegliche Art der Veränderung zu verstehen - nicht etwa nur die Ortsveränderung der Körper im Raum, auch physikalische, auch soziale Prozesse.
Zum Wesen der Materie gehört weiter ihre Unendlichkeit. Das ist sowohl im räumlichen Sinne zu verstehen wie im zeitlichen. Die Welt hat also keinen Anfang und kein Ende in der Zeit.
Raum wie Zeit werden als objektive und reale Seinsweisen der Materie aufgefaßt.
Da Raum und Zeit darüber hinaus Seinsweisen jeglichen denkbaren Seins sind, so ist die Vorstellung eines außerweltlichen, d. h. außerhalb von Raum und Zeit existierenden Gottes widersinnig. Bemerkenswert ist, daß Raum und Zeit nicht als schlechthin unveränderlich angesehen werden, daß sie sich vielmehr im Zuge des Entwicklungsprozesses, den die Materie durchmacht, ebenfalls entwickeln, so daß im Universum qualitativ verschiedene Raum- und Zeitelemente vorhanden sein können.
Die gesamte materielle Welt, und das heißt die gesamte Welt, bildet eine Einheit. Der Beweis für diese These wird darin gesehen, daß die Naturforschung bisher, soweit ihr Blick auch in die Tiefe des Universums, vordringt, noch niemals Anzeichen gefunden hat, die die Annahme einer durchgehenden materiellen Einheit mit einheitlichen Gesetzmäßigkeiten widerlegen könnten.
Dieser Materialismus ist zu unterscheiden vom Vulgärmaterialismus des ausgehenden 19.Jahrhunderts.
Materialistisch ist er in folgendem doppeltem Sinn:
1. Das Seiende,die Materie ist eine objektive, also vom erkennenden Bewußtsein unabhängige Realität; diese Auffassung wäre korrekt als erkenntnistheoretischer Realismus zu kennzeichnen.
2. Die Materie in dem geschilderten weitgefaßten Sinn ist seinsmäßig - ontologisch betrachtet - das Primäre;
was man „Geist“ nennt, ist nur ihre Widerspiegelung im Bewußtsein der Menschen und also von ihr abhängig.

7. Sein und Bewusstsein
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sein und Bewußtsein ist für Lenin die Grundfrage aller, speziell aller neueren Philosophie. Für ihn ist das Bewußtsein „Produkt, Funktion und Eigenschaft“ der Materie.
Produkt der Materie: Bewußtseinsfähigkeit tritt nach allem, was wir wissen, nur in lebenden Organismen mit einem funktionstüchtigen Nervensystem bestimmter Art auf. Bewußtsein ist ein Produkt der Gehirnmaterie.
Funktion der Materie: Nach Lenin sind Bewußtseinsvorgänge und die physiologisch-chemischen Prozesse im denkenden Gehirn nicht zwei (parallele) Prozesse, sondern ein einheitlicher Vorgang, dessen „inneren Zustand“ dessen Innenseite gleichsam, das Bewußtsein darstellt.
(nach: W.I.Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, 1908,
in Lenin Werke, Bd.14, S. 111ff und weiter:)

8. Zum Dialektischen Materialismus
Die Eigenart der leninschen Philosophie, auch ihre relative Flexibibität und ihre Überzeugungskraft werden erst deutlich, wenn man der „materialistischen“ Grundhaltung ein zwei weitere Bestimmungsstücke hinzufügt:
a) die Dialektik als allgemeines Entwicklungsgesetz der Materie
b) die Dialektik des gesellschaftlichen Prozesses als allgemeines Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte.
Die Bewegung, die zum Wesen der Materie gehört, hat im ganzen gesehen eine aufsteigende Richtung: sie führt von Erscheinungsformen niederer Ordnung zu Phänomenen von höherer Ordnung und immer größerer Vielfalt. Sie führt von der leblosen Materie zur Entstehung des Lebens und bei der höchstentwickelten uns bekannten Form des Lebens zu sozialen Prozessen und den mit ihr verbundenen Formen des Bewußtseins.
In den höheren Bereichentritt etwas prinzipiell Neues tritt (ein „kategoriales Novum“), das sich nicht auf das jeweils Niedere zurückführen läßt. So ist Leben zwar auf chemisch-physiologischen Prozessen aufgebaut, aber mit ihnen nicht identisch und in seinem Wesenskern auch nicht aus ihnen ableitbar. Trotzdem ist es aus ihm entwicklungsgeschichtlich hervorgegangen. Lenin deutet das mit dem Verfahren des dialektischen Materialismus. Die Dialektik lehrt verstehen, wie der „Sprung“ zum qualitativ Neuen, vorher nicht Dagewesenen aus der Entwicklung der Materie notwendig hervorgeht. Der dialektische Sprung muß im Zusammenhang mit der These vom »Umschlag der Quantität in Qualität« gesehen werden: Da alles in Bewegung und Veränderung ist, so ändern sich die Eigenschaften des Seienden zunächst einmal in der Weise, daß die Quantität sich ändert, z. B. des Vorhandenseins bestimmter Mengen bestimmter Stoffe an einer Stelle des Raumes oder etwa die Geschwindigkeit eines bewegten Körpers oder der Grad des Vorhandenseins bestimmter Eigenschaften. Innerhalb gewisser Grenzen verändern solche Bewegungen das Wesen, die Qualität, der in Frage stehenden Materie noch nicht. Wird aber ein bestimmtes Maß überschritten, so tritt ein Umschlag ein, ein Sprung, der zu etwas qualitativ Andersartigem und Neuem führt.
(Beispiel: Wasser bleibt Wasser, wenn man es erwärmt, aber bei ioo Grad Celsius nimmt es eine qualitativ andere Zustandsform an. Eisen bleibt Eisen, wenn man es in immer kleinere Stücke zerlegt; aber von einer bestimmten Grenze an - nämlich beim Atom - führt eine weitere Teilung nicht mehr auf »Eisen«. Uran kann ohne qualitative Veränderung angehäuft werden, bis das Erreichen der sogenannten kritischen Menge den Prozeß der Kernspaltung in Gang setzt und die augenblicks einsetzende Kettenreaktion zu einer Explosion und zum Zerfall der Uranatome führt.)
Dies macht erst einen Teilaspekt aus. Dialektik als Lehre von den allgemeinsten Entwicklungsgesetzen der Materie umfaßt eine weiterer Einzelzüge:
a) der allgemeine Zusammenhang zwischen den Erscheinungen,
b) Bewegung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft;
c) Entwicklung als Übergang quantitativer in qualitative Veränderungen,
d) Entwicklung als Kampf von Gegensätzen.
Was heißt „Kampf von Gegensätzen“? Da es außerhalb der Materie nichts gibt, was ihr etwa Anstöße zur Bewegung vermitteln könnte, ist die Bewegung der Materie stets Selbstbewegung. Für Hegel ist der Weltprozeß ebenfalls Selbstbewegung, jedoch Bewegung des Weltgeistes. Der Weltgeist bewegt sich in der Weise, daß alles „Positive“, „Gesetzte“, alles Seiende in sich schon den Widerspruch, die Negation seiner selbst trägt. Für den dialektischen Materialismus, für den der Weltprozeß Selbstbewegung nicht des Weltgeistes, sondern der Materie ist, liegen die Widersprüche, welche die Entwicklung dialektisch vorantreiben, in der Materie selbst. „Widerspruch“ strenggenommen ist ein logischer Begriff: zwei Aussagen können einander widersprechen. Real Seiendes kann zueinander nicht im Widerspruch, sondern nur im Gegensatz stehen. Widerspruch heißt hier soviel wie Vorhandensein gegensätzlicher Eigenschaften (Bestimmungen) am materiell Seienden. Als Beispiele können dienen Anziehung und Abstoßung, Positives und Negatives, Assimilation und Dissimilation. Wenn jegliches Seiende gleichsam seine eigene Negation mit sich führt, so führt der Austrag dieses Widerspruchs in Form eines Konfliktes zu einer Veränderung dieses Seienden, zu seiner Verwandlung in etwas Neues, in dem das Alte zugleich vernichtet und bewahrt („aufgehoben“) ist. Auch dieses Neue wird freilich nach dem „Gesetz der Negation der Negation“ wiederum durch innere Widersprüche auseinanderbrechen und in etwas Neues übergehen.
Im Zusammenhang mit dieser Entwicklungslehre hat der dialektische Materialismus sich mit dem Problem der Kausalität auseinandersetzen müssen
Lenin hält an der durchgängigen Geltung des Kausalitätsgesetzes fest, wenn er auch dem „Zufall“ einen gewissen Spielraum zubilligen. Im Zusammenhang mit der Dialektik erörtert er auch das Problem Notwendigkeit und Freiheit. Ähnlich wie für Hegel ist Freiheit für den philosophischen Materialismus „bewußte Notwendigkeit“, das heißt: Alles Geschehen verläuft notwendig, nach unabänderlichen Gesetzen; soweit der Mensch imstande ist, diese Gesetze zu erkennen, kann er sie planmäßig für seine Zwecke wirken lassen. Freiheit ist im Grunde „die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können“. Daraus ergibt sich u. a., daß der Mensch erst ganz allmählich einen gewissen Grad von Freiheit erlangt, nämlich mit dem Fortschreiten der Naturerkenntnis. Der entscheidende Schritt zur Freiheit wird jedoch erst getan, wenn die Menschen, durch Marx, Engels und Lenin belehrt, die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung mit derselben Exaktheit wie die Naturgesetze erkennen und anwenden. Hier spielt die Theorie der Partei neuen Typs eine besondere Rolle.
Ein kritischer Punkt für den dialektische Materialismus liegt darin, daß er
zugleich Logik und Erkenntnistheorie sein will.
Dies wird etwa so begründet: für Hegel ist die Bewegung der Materie nur „entäußerte“ Bewegung des Geistes. So kann für ihn die „Wissenschaft der Logik“,
d.h. die Lehre von der Selbstbewegung des Geistes, zugleich die Lehre vom Sein, die Ontologie, mit umfassen, ja es fallen beide zusammen.
Entsprechend gilt in genauer Umkehrung für den dialektische Materialismus:
Da die materielle Wirklichkeit sich nach dialektischem Gesetz entwickelt, und da die Entwicklung des menschlichen Bewußtseins (anderes Bewußtsein gibt es nicht) nur diese Entwicklung widerspiegelt, so gehen die objektive Dialektik des Seienden (die Realdialektik) und die subjektive Dialektik des Denkens nicht nur parallel, sie fallen vielmehr zusammen.
Hier taucht ein wichtiger Zug der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie auf. Dieser Zug betrifft die Rolle der „Praxis“. Auf die Frage „Wer oder was garantiert uns, daß der Denkprozeß wirklich dem realen Entwicklungsprozeß konform ist, daß wir also nicht in die Irre gehen?“ lautet die Antwort: die Praxis. Das heißt: Die Grundlage der Erkenntnis ist der praktische Umgang mit der Materie; auch historisch gesehen entfaltet sich Erkenntnis allmählich im Fortschreiten der praktischen Tätigkeit des Menschen, d. h. der Arbeit, die schon für Hegel als die eigentlich grundlegende Wesensbestimmung des Menschen gilt. Praxis ist zugleich Ziel der Erkenntnis, sowohl im Bereich der Natur wie im gesellschaftlichen Leben.

Der historischer Materialismus, wie ihn Marx entwickelt hat, besagt, dass das bestimmende Element im gesellschaftlichen Prozeß die materiellen Produktivkräfte sind. Die Gesetze der dialektischen Bewegung werden dabei zuerst im geschichtlichen Prozeß aufgefunden. Danach, durch Engels und in der Weiterführung durch Lenin, ist erst der dialektische Materialismus entwickelt worden.
Ein zentrales Problem dabei ist das Verhältnis von Basis und Überbau. Die Grundthese von Marx lautet: Die ökonomische Struktur der Gesellschaft, Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse und ihre dialektische Wechselwirkung, bildet die reale Basis der ganzen gesellschaftlichen Prozesse. Über ihr erhebt sich ein Überbau, und zwar erstens ein politisch-rechtlicher, der in unmittelbarer Abhängigkeit von der Basis lebt (so sind Staat und Recht nichts anderes als Instrumente der ökonomisch herrschenden Klasse), und zweitens ein „ideologischer Überbau“ in Gestalt von Philosophie, Wissenschaft, Kunst, Moral, Religion. Alle Formen des Überbaus sind von der Basis bestimmt und spiegeln die ökonomische Grundstruktur, doch ist die Abhängigkeit des ideologischen Überbaus nicht so direkt wie die der politischen; die Ideologien hängen nicht unmittelbar von der ökonomischen Basis ab, sondern „vermittelt“ durch das politisch-rechtliche System.
Diese Grundthese ist bereits durch Engels differenziert worden, als er darauf hinwies, daß die ökonomische Basis nur „in letzter Instanz“ bestimmend sei, nicht aber das allein Ausschlaggebende. Die verschiedenen Formen des Überbaus - Verfassungen, Rechtsformen, politische und soziale Theorien, religiöse Vorstellungen - üben vielmehr auch ihrerseits ihren Einfluß auf die geschichtliche Entwicklung aus, insbesondere auf die Formen, in denen diese abläuft. Lenin spricht dem Überbau eine relative Selbständigkeit nicht ab. In dieser Richtung hat Lenin die Entwicklung noch weiter getrieben. Gegenüber Einwänden der sogenannten Revisionisten, die unter anderem auf die Frage hinausgehen: »Wozu eine Revolution machen, wenn die historische Entwicklung ohnehin mit absoluter Notwendigkeit zur sozialistischen Gesellschaft führt?«, hat Lenin entschieden die ausschlaggebende Rolle des Bewußtseins betont: Die geschichtliche Notwendigkeit setzt sich nicht von selber durch; sie erfordere eine bewußte kämpferische Anstrengung - getragen von einem klassenbewußten Vortrupp des Proletariats. Lenin geht so weit, zu erklären, daß das Proletariat das hierzu erforderliche Bewußtsein überhaupt nicht selbst entwickeln könne (es könne aus eigener Kraft allenfalls bis zu einem „trade unionistischen“, also revisionistischen Bewußtsein kommen); dieses müsse ihm vielmehr „von außen“ gebracht werden.

9. Kritische Anfrage
Lenin hat die „umgestaltende, schöpferische Rolle des Überbaus“ unterstrichen, sofern es sich um einen sozialistischen Überbau handelt; mit anderen Worten: Sobald der Sozialismus zu siegen begonnen hat, hängt seine weitere Verwirklichung entscheidend von der durch die Partei bestimmten ideologischen Erziehungsarbeit ab.
Hier ist die Frage zu stellen: Woher denn bei zugestandener relativer Selbständigkeit des Überbaus die dynamischen Energien stammen können, die ihn befähigen, die gesellschaftliche Entwicklung von sich aus mitzubestimmen und zu überformen - da doch nach der philosophischen Grundthese des Materialismus jegliches Bewußtsein und jegliche Ideologie nichts sind als Reflex, Produkt, Widerspiegelung der allein realen und sich selbst bewegenden Materie?
Noch interessanter, als hier mit Kritik einzusetzen, ist es aber, die weitere Entwicklung im Marxismus selbst zu verfolgen, zu beobachten, wie die marxistischen Theoretiker mit den Schwierigkeiten fertig zu werden suchen, die die Durchführung ihrer Grundthesen heraufbeschwört. Dabei können wir von der folgenden (bewußt etwas vage formulierten) Frage ausgehen: Wenn der gesamte Überbau Widerspiegelung der Basis ist, und wenn die bisherige Geschichte, ökonomisch gesehen, ausschließlich eine Geschichte von Klassenkämpfen darstellt, so liegt es nahe, anzunehmen, daß die Menschheit bisher (bis zum Aufkommen des Marxismus) nur klassenbedingte Ideologien hervorgebracht haben kann. Müssen wir also annehmen (dieses Wort im doppelten Sinne sowohl als »postulieren« wie als »akzeptieren«), alle vormarxistischen geistigen Hervorbringungen der Menschheit seien klassenbedingte Ideologien? Wie steht es mit den bisherigen Moralsystemen - die doch von Konfuzius bis zur letzten päpstlichen Enzyklika einige bemerkenswerte Übereinstimmungen aufweisen? Sind die Schöpfungen der großen Kunst vergangener Zeiten, eine griechische Statue, ein gotischer Dom, ein Drama Shakespeares, eine Symphonie Beethovens, klassenbedingt, und können sie demnach für den sozialistischen Menschen der Zukunft nichts mehr bedeuten? Sind die Weltreligionen, ihre Lehren, ihr Moralkodex durchweg klassengebunden? Sind die Erkenntnisse der »bürgerlichen« Wissen.
10. Zur besonderen Behandlung der Religion
Seinen parteilichen Standpunkt zu Fragen der Religion stellt Lenin u.a. in seinem Artikel: Sozialismus und Religion, 1905 sowie im Artikel Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion, 1909 dar.:

W. I. Lenin: Sozialismus und Religion

Die moderne Gesellschaft ist ganz auf der Ausbeutung der ungeheuren Massen der Arbeiterklasse durch eine verschwindend kleine, zu den Klassen der Grundeigentümer und Kapitalisten gehörende Minderheit der Bevölkerung aufgebaut. Das ist eine Sklavenhaltergesellschaft, denn die „freien" Arbeiter, die ihr Leben lang für das Kapital arbeiten, „haben Anrecht" nur auf solche Existenzmittel, die zum Lebensunterhalt der Profit erzeugenden Sklaven und zur Sicherung und Verewigung der kapitalistischen Sklaverei notwendig sind.
Die ökonomische Unterdrückung der Arbeiter verursacht und erzeugt unvermeidlich alle möglichen Arten der politischen Unterdrückung und sozialen Erniedrigung, der Verrohung und Verkümmerung des geistigen und sittlichen Lebens der Massen. Die Arbeiter können sich mehr oder weniger politische Freiheit für den Kampf um ihre ökonomische Befreiung erringen, aber keinerlei Freiheit wird sie von Elend, Arbeitslosigkeit und Unterdrückung erlösen, solange die Macht des Kapitals nicht gestürzt ist. Die Religion ist eine von verschiedenen Arten geistigen Joches, das überall und allenthalben auf den durch ewige Arbeit für andere, durch Not und Vereinsamung niedergedrückten Volksmassen lastet. Die Ohnmacht der ausgebeuteten Klassen im Kampf gegen die Ausbeuter erzeugt ebenso unvermeidlich den Glauben an ein besseres Leben im Jenseits, wie die Ohnmacht des Wilden im Kampf mit der Natur den Glauben an Götter, Teufel, Wunder usw. erzeugt. Denjenigen, der sein Leben lang arbeitet und Not leidet, lehrt die Religion Demut und Langmut hienieden und vertröstet ihn mit der Hoffnung auf himmlischen Lohn. Diejenigen aber, die von fremder Arbeit leben, lehrt die Religion Wohltätigkeit hienieden, womit sie ihnen eine recht billige Rechtfertigung ihres ganzen Ausbeuterdaseins anbietet und Eintrittskarten für die himmlische Seligkeit zu erschwinglichen Preisen verkauft. Die Religion ist das Opium des Volks. Die Religion ist eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz und ihre Ansprüche auf ein halbwegs menschenwürdiges Leben ersäufen.
Doch der Sklave, der sich seiner Sklaverei bewußt geworden ist und sich zum Kampf für seine Befreiung erhoben hat, hört bereits zur Hälfte auf, ein Sklave zu sein. Durch die Fabrik der Großindustrie erzogen und durch das städtische Leben aufgeklärt, wirft der moderne klassenbewußte Arbeiter die religiösen Vorurteile mit Verachtung von sich, überläßt den Himmel den Pfaffen und bürgerlichen Frömmlern und erkämpft sich ein besseres Leben hier auf Erden. Das moderne Proletariat bekennt sich zum Sozialismus, der die Wissenschaft in den Dienst des Kampfes gegen den religiösen Nebel stellt und die Arbeiter vom Glauben an ein jenseitiges Leben dadurch befreit, daß er sie zum diesseitigen Kampf für ein besseres irdisches Leben zusammenschließt.
Erklärung der Religion zur Privatsache - mit diesen Worten wird gewöhnlich die Stellung der Sozialisten zur Religion ausgedrückt. Doch die Bedeutung dieser Worte muß man genau definieren, damit sie keine Mißverständnisse hervorrufen können. Wir fordern, daß die Religion dem Staat gegenüber Privatsache sei, können sie aber keinesfalls unserer eigenen Partei gegenüber als Privatsache betrachten. Den Staat soll die Religion nichts angehen, die Religionsgemeinschaften dürfen mit der Staatsmacht nicht verbunden sein. Jedem muß es vollkommen freistehen, sich zu jeder beliebigen Religion zu bekennen oder gar keine Religion anzuerkennen, d. h. Atheist zu sein, was ja auch jeder Sozialist in der Regel ist. Alle rechtlichen Unterschiede zwischen den Staatsbürgern je nach ihrem religiösen Bekenntnis sind absolut unzulässig. Selbst die Erwähnung der Konfession der Staatsbürger in amtlichen Dokumenten muß unbedingt ausgemerzt werden. Es darf keine Zuwendungen an eine Staatskirche, keine Zuwendungen von Staatsmitteln an kirchliche und religiöse Gemeinschaften geben, die völlig freie, von der Staatsmacht unabhängige Vereinigungen gleichgesinnter Bürger werden müssen. Nur die restlose Erfüllung dieser Forderungen kann Schluß machen mit jener schmählichen und verfluchten Vergangenheit, da die Kirche in leibeigener Abhängigkeit vom Staat war und die russischen Bürger in leibeigener Abhängigkeit von der Staatskirche waren, da (bis auf den heutigen Tag in unseren Strafgesetzbüchern und Prozessualordnungen erhalten gebliebene) mittelalterliche, inquisitorische Gesetze bestanden und angewandt wurden, die Glauben oder Unglauben verfolgten, das Gewissen der Menschen vergewaltigten, Staatspöstchen und Staatspfründen mit der Verteilung dieses oder jenes Staatskirchenfusels verknüpften. Vollständige Trennung der Kirche vom Staat - das ist die Forderung, die das sozialistische Proletariat an den heutigen Staat und die heutige Kirche stellt.
Die russische Revolution muß diese Forderung als unerläßlichen Bestandteil der politischen Freiheit verwirklichen. Die russische Revolution findet diesbezüglich besonders günstige Bedingungen vor, denn die widerwärtige Bürokratenwirtschaft des absolutistischen Polizei- und Leibeigenschaftsstaates hat selbst innerhalb der Geistlichkeit Unzufriedenheit, Gärung und Empörung hervorgerufen. So geduckt und unwissend die russische rechtgläubige Geistlichkeit auch war, sogar sie wurde -jetzt von dem Getöse geweckt, mit dem die alte, mittelalterliche Ordnung in Bußland eingestürzt ist. Sogar sie schließt sich der Forderung nach Freiheit an, protestiert gegen die Bürokratenwirtschaft und Beamtenwillkür, gegen die polizeilichen Spitzeldienste, zu denen die „Diener Gottes" genötigt werden.
Wir Sozialisten müssen diese Bewegung unterstützen, indem wir die Forderungen der ehrlichen und aufrichtigen Geistlichen bis zu Ende führen, diese Leute, wenn sie von Freiheit sprechen, beim Wort nehmen, von ihnen fordern, daß sie jedes Band zwischen Religion und Polizei entschlossen zerreißen. Entweder ihr seid aufrichtig - dann müßt ihr für die völlige Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche, für die uneingeschränkte und vorbehaltlose Erklärung der Religion zur Privatsache sein. Oder ihr akzeptiert diese konsequenten Forderungen nach Freiheit nicht - dann seid ihr also immer noch in den Überlieferungen der Inquisition befangen, dann klebt ihr also immer noch an den Staatspöstchen und Staatspfründen, dann glaubt ihr also nicht an die geistige Kraft eurer Waffe und laßt euch nach wie vor von der Staatsmacht bestechen - und dann erklären euch die klassenbewußten Arbeiter ganz Rußlands den schonungslosen Krieg.
Für die Partei des sozialistischen Proletariats ist die Religion keine Privatsache. Unsere Partei ist ein Bund klassenbewußter, fortgeschrittener Kämpfer für die Befreiung der Arbeiterklasse. Ein solcher Bund kann und darf sich nicht gleichgültig verhalten zu Unaufgeklärtheit, zu Unwissenheit oder zu Dunkelmännertum in Form von religiösein Glauben. Wir fordern die völlige Trennung der Kirche vom Staat, um gegen den religiösen Nebel mit rein geistigen und nur geistigen Waffen, mit unserer Presse, unserem Wort zu kämpfen. Aber wir haben unseren Bund, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands, unter anderem gerade für einen solchen Kampf gegen jede religiöse Verdummung der Arbeiter gegründet. Für uns ist der ideologische Kampf keine Privatsache, sondern eine Angelegenheit der ganzen Partei, des gesamten Proletariats.
Wenn dem so ist, warum erklären wir in unserem Programm nicht, daß wir Atheisten sind? warum verwehren wir es Christen und Gottesgläubigen nicht, in unsere Partei einzutreten?
Die Antwort auf diese Frage soll einen sehr wichtigen
Unterschied zwischen der bürgerlich-demokratischen und der sozialdemokratischen Fragestellung hinsichtlich der Religion klarmachen.
Unserem ganzen Programm liegt eine wissenschaftliche, und.zwar die materialistische Weltanschauung zugrunde. Die Erläuterung unseres Programms schließt daher notwendigerweise auch die Klarlegung der wahren historischen und ökonomischen Quellen des religiösen Nebels ein. Unsere Propaganda schließt notwendigerweise auch die Propaganda des Atheismus ein; die Herausgabe entsprechender wissenschaftlicher Literatur, die von der absolutistisch-fronherrschaftlichen Staatsmacht bisher streng verboten und verfolgt worden ist, muß jetzt einen Zweig unserer Parteiarbeit bilden. Wir werden jetzt wahrscheinlich den Rat befolgen müssen, den Engels einmal den deutschen Sozialisten erteilt hat: die Literatur der französischen Aufklärer und Atheisten des 18. Jahrhunderts zu übersetzen und massenhaft zu verbreiten.
Doch wir dürfen uns dabei auf keinen Fall dazu verleiten lassen, die religiöse Frage abstrakt, idealistisch, „von Vernunft wegen", außerhalb des Klassenkampfes zu stellen, wie das radikale Demokraten aus der Bourgeoisie häufig tun. Es wäre unsinnig, zu glauben, man könne in einer Gesellschaft, die auf schrankenloser Unterdrückung und Verrohung der Arbeitermassen aufgebaut ist, die religiösen Vorurteile auf rein propagandistischem Wege zerstreuen. Es wäre bürgerliche Beschränktheit, zu vergessen, daß der auf der Menschheit lastende Druck der Religion nur Produkt und Spiegelbild des ökonomischen Drucks innerhalb der Gesellschaft ist. Durch keine Broschüren, durch keine Propaganda kann man das Proletariat aufklären, wenn es nicht durch seinen eigenen Kampf gegen die finsteren Mächte des Kapitalismus aufgeklärt wird. Die Einheit dieses wirklich revolutionären Kampfes der unterdrückten Klasse für ein Paradies auf Erden ist uns wichtiger als die Einheit der Meinungen der Proletarier über das Paradies im Himmel.
Das ist der Grund, warum wir in unserem Programm von unserem Atheismus nicht sprechen und nicht sprechen dürfen; das ist der Grund, warum wir den Proletariern, die noch diese oder jene Überreste der alten Vorurteile bewahrt haben, die Annäherung an unsere Partei nicht verwehren und nicht verwehren dürfen. Die wissenschaftliche Weltanschauung werden wir immer propagieren, und die Inkonsequenz irgendwelcher „Christen" müssen wir bekämpfen; das bedeutet aber durchaus nicht, daß man die religiöse Frage an die erste Stelle rücken soll, die ihr keineswegs zukommt, daß man eine Zersplitterung der Kräfte des wirklich revolutionären, des ökonomischen und politischen Kampfes um drittrangiger Meinungen oder Hirngespinste willen zulassen soll, die rasch jede politische Bedeutung verlieren und durch den ganzen Gang der ökonomischen Entwicklung bald in die Rumpelkammer geworfen werden.
Die reaktionäre Bourgeoisie hat überall danach getrachtet und beginnt jetzt auch bei uns danach zu trachten, den religiösen Hader zu entfachen, um so die Aufmerksamkeit der Massen von den wirklich wichtigen und grundlegenden ökonomischen und politischen Fragen abzulenken, die das gesamtrussische Proletariat, das sich in seinem revolutionären Kampf zusammenschließt, jetzt praktisch löst. Diese reaktionäre Politik der Zersplitterung der proletarischen Kräfte, die sich heute hauptsächlich in Pogromen der Schwarzhunderter äußert, kann morgen sehr wohl auch irgendwelche raffinierteren Formen ersinnen. Wir werden ihr jedenfalls die ruhige, beharrliche und geduldige, von jeder Aufbauschung zweitrangiger Meinungsverschiedenheiten freie Propaganda der proletarischen Solidarität und der wissenschaftlichen Weltanschauung entgegenstellen.
Das revolutionäre Proletariat wird durchsetzen, daß die Religion für den Staat wirklich zur Privatsache wird. Und unter diesem, vom mittelalterlichen Moder gesäuberten politischen Regime wird das Proletariat einen breiten und offenen Kampf führen, um die ökonomische Sklaverei, diese wahre Quelle der religiösen Verdummung der Menschheit, zu beseitigen.
„Nowaja Shisn" (Neues Leben) Nr. 28, 3. Dezember 1905.
Unterschrift: N. L e n in.
Werke, Bd. 10, S. 70-75.

Aus W.I. Lenin: Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion, 1909


Die ganze Weltanschauung der Sozialdemokratie ist auf dem wissenschaftlichen Sozialismus, d. h. dem Marxismus aufgebaut. Die philosophische Grundlage des Marxismus bildet, wie sowoh, Marx als auch Engels wiederholt erklärt haben, der dialektische Materialismus, der die historischen Traditionen des Materialismus des 18. Jahrhunderts in Frankreich sowie Feuerbachs (erste Hälfte des 19. Jahrhunderts) in Deutschland in vollem Umfang aufgegriffen hateines Materialismus, der unbedingt atheistisch und jeder Religion entschieden feind ist. ......
 Der Marxismus betrachtet alle heutigen Religionen und Kirchen, alle religiösen Organisationen stets als Organe der bürgerlichen Reaktion, die die Ausbeutung verteidigen und die Arbeiterklasse verdummen und umnebeln sollen..
....
Marxismus ist Materialismus. Als solcher steht er der Religion ebenso schonungslos feindlich gegenüber wie der Materialismus der Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts oder der Materialismus Feuerbachs. Das steht außerZweifel. Aber der dialektische Materialismus von Marx und Engels geht weiter als jener der Enzyklopädisten und Feuerbachs, denn er wendet die materialistische Philosophie auf das Gebiet der Geschichte, auf das Gebiet der Gesellschaftswissenschaften an. Wir müssen die Religion bekämpfen. Das ist das Abc des gesamten Materialismus und folglich auch des Marxismus. Aber der Marxismus ist kein Materialismus, der beim Abc stehengeblieben ist. Der Marxismus geht weiter. Er sagt: Man muß verstehen, die Religion zu bekämpfen, dazu aber ist es notwendig, den Ursprung, den Glauben und Religion unter den Massen haben, materialistisch zu erklären. Den Kampf gegen die Religion darf man nicht auf abstrakt-ideologische Propaganda beschränken, darf ihn nicht auf eine solche Propaganda reduzieren, sondern er muß in Zusammenhang gebracht werden mit der konkreten Praxis der Klassenbewegung, die auf die Beseitigung der sozialen Wurzeln der Religion abzielt. Warum findet die Religion in den rückständigen Schichten des städtischen Proletariats, in breiten Schichten des Halbproletariats und auch in der Hauptmasse der Bauernschaft noch Boden? Wegen der Unwissenheit des Volkes, antwortet der bürgerliche Fortschrittler, der Radikale oder der bürgerliche Materialist. Also, nieder mit der Religion, es lebe der Atheismus, die Verbreitung atheistischer Anschauungen ist unsere Hauptaufgabe. Der Marxist sagt: Das ist falsch. Eine solche Auffassung ist oberflächliche, bürgerlich beschränkte Kulturbringerei. Eine solche Auffassung erklärt die Wurzeln der Religion nicht gründlich genug, nicht materialistisch, sondern idealistisch.
In den modernen kapitalistischen Staaten sind diese Wurzeln hauptsächlich sozialer Natur. Die soziale Unterdrükkung der werktätigen Massen, ihre scheinbar völlige Ohnmacht gegenüber den blind waltenden Kräften des Kapitalismus, der den einfachen arbeitenden Menschen täglich und stündlich tausendmal mehr entsetzlichste Leiden und unmenschlichste Qualen bereitet als irgendwelche außergewöhnlichen Ereignisse wie Kriege, Erdbeben usw. - darin liegt heute die tiefste Wurzel der Religion. „Die Furcht hat die Götter erzeugt." Die Furcht vor der blind wirkenden Macht des Kapitals, blind, weil ihr Wirken von den Volksmassen nicht vorausgesehen werden kann und dem Proletarier und dem Kleineigentümer bei jedem Schritt ihres Lebens den „plötzlichen", „unerwarteten", „zufälligen" Ruin, den Untergang, die Verwandlung in einen Bettler, einen Pauper, eine Prostituierte, den Hungertod zu bringen droht und auch tatsächlich bringt - das ist jene Wurzel der heutigen Religion, die der Materialist vor allem und am meisten beachten muß, wenn er nicht ein AbcSchütze des Materialismus bleiben will. Keine Aufklärungsschrift wird die Religion aus den Massen austreiben, die, niedergedrückt durch die kapitalistische Zwangsarbeit, von den blind waltenden, zerstörerischen Kräften des Kapitalismus abhängig bleiben, solange diese Massen nicht selbst gelernt haben werden, diese Wurzel der Religion, die Herrschaft des Kapitals in all ihren Formen vereint, organisiert, planmäßig, bewußt zu bekämpfen.
Folgt daraus etwa, daß eine Aufklärungsschrift gegen die Religion schädlich oder überflüssig wäre? Keineswegs. Daraus ergibt sich etwas ganz anderes. Daraus folgt, daß die atheistische Propaganda der Sozialdemokratie ihrer Hauptaufgabe untergeordnet sein muß: der Entfaltung des Klassenkampfes der ausgebeuteten Massen gegen die Ausbeuter.
Jemand, der sich nicht in die Grundlagen des dialektischen Materialismus, d. h. der Philosophie von Marx und Engels, vertieft hat, wird diese These möglicherweise nicht
begreifen (oder zumindest nicht sofort begreifen). Wie soll das möglich sein? Die ideologische Propaganda, die Propagierung bestimmter Ideen, der Kampf gegen den Feind der Kultur und des Fortschritts, der sich seit Jahrtausenden am Leben hält (d. h. gegen die Religion), soll dem Klassenkampf, d. h. dem Kampf für bestimmte praktische Ziele auf ökonomischem und politischem Gebiet, untergeordnet werden?
Ein solcher Einwand gehört zu den landläufigen Einwänden gegen den Marxismus, die nur davon zeugen, daß man die Marxsche Dialektik ganz und gar nicht verstanden hat. Der Widerspruch, der alle jene verwirrt, die solche Einwände erheben, ist ein lebendiger Widerspruch des lebendigen Lebens, d. h. ein dialektischer Widerspruch und kein Widerspruch in Worten, kein ausgedachter Widerspruch. Die theoretische Propaganda des Atheismus, d. h. die Zerstörung des religiösen Glaubens bei gewissen Schichten des Proletariats, durch eine absolute, unüberschreitbare Grenze von dem Erfolg, dem Verlauf, den Bedingungen des Klassenkampfes dieser Schichten trennen heißt undialektisch denken, heißt das zu einer absoluten Grenze machen, was eine bewegliche, relative Grenze ist, heißt etwas gewaltsam auseinanderreißen, was in der lebendigen Wirklichkeit untrennbar miteinander verbunden ist. Nehmen wir ein Beispiel. Gesetzt, das Proletariat eines bestimmten Gebiets und eines, bestimmten Industriezweigs zerfalle in eine fortgeschrittene Schicht ziemlich bewußter Sozialdemokraten, die selbstverständlich Atheisten sind, und in ziemlich rückständige, noch mit dem Dorf und der Bauernschaft verbundene Arbeiter, die an Gott glauben, in die Kirche gehen oder sogar unter dem direkten Einfluß des Ortsgeistlichen stehen, der, sagen wir, einen christlichen Arbeiterverein gründet. Gesetzt ferner, der ökonomische Kampf habe in einem solchen Ort zu einem Streik geführt. Der Marxist ist verpflichtet, den Erfolg der Streikbewegung in den Vordergrund zu stellen, einer Aufspaltung der Arbeiter in diesem Kampf in Atheisten und Christen entschieden entgegenzuwirken und gegen eine solche Aufspaltung entschieden zu kämpfen. Atheistische Propaganda kann unter diesen Umständen ganz überflüssig, ja schädlich sein - nicht vom Standpunkt spießerlicher Erwägungen über die Abschreckung der rückständigen Schichten, über einen Mandatsverlust bei den Wahlen usw., sondern vom Standpunkt des wirklichen Fortschritts des Klassenkampf es, der unter den Verhältnissen der modernen kapitalistischen Gesellschaft die christlichen Arbeiter hundertmal besser zur Sozialdemokratie und zum Atheismus führen wird als die bloße atheistische Propaganda. Ein Propagandist des Atheismus würde in einem solchen Augenblick und unter solchen Umständen nur dem Pfaffen und dem Pfaffentum Vorschub leisten, die nichts sehnlicher wünschen als eine Aufspaltung der Arbeiter nach dem Glauben an Gott anstatt ihrer Scheidung nach der Streikbeteiligung. Ein Anarchist, der den Krieg gegen Gott um jeden Preis predigt, würde dadurch in Wirklichkeit den Pfaffen und der Bourgeoisie helfen (wie ja die Anarchisten in Wirklichkeit stets der Bourgeoisie helfen). Ein Marxist muß Materialist sein, d. h. ein Feind der Religion, doch ein dialektischer Materialist, d. h. ein Materialist, der den Kampf gegen die Religion nicht abstrakt, nicht auf dem Boden einer abstrakten, rein theoretischen, sich stets gleichbleibenden Propaganda führt, sondern konkret, auf dem Boden des Klassenkampfes, wie er sich in Wirklichkeit abspielt, der die Massen am meisten und am besten erzieht. Ein Marxist muß es verstehen, die ganze konkrete Situation zu berücksichtigen, stets die Grenze zwischen Anarchismus und Opportunismus zu finden (diese Grenze ist relativ, beweglich, veränderlich,
aber sie existiert), er darf weder in das abstrakte, phrasenhafte, in Wirklichkeit hohle „Revoluzzertum" des Anarchisten verfallen noch in das Spießertum und den Opportunismus des Kleinbürgers oder des liberalen Intellektuellen,
der sich nicht traut, gegen die Religion zu kämpfen, der diese seine Aufgabe vergißt, sich mit dem Glauben an Gott abfindet, sich nicht von den Interessen des Klassenkampfes leiten lässt, sondern von der kleinlichen, kläglichen Berechnung: niemanden kränken, niemanden abstoßen, niemand abschrecken – von der neunmalweisen Regel „Leben und leben lassen“...
Von diesem Standpunkt aus müssen alle Einzelfragen gelöst werden, die das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Religion betreffen...“
„Proletari" Nr. 45,
13. (26.) Mai 1909.
Werke, Bd. 15, S. 404-415.

11. Abschließende Bewertung
Lenins historisch-materialistische Grundanschauung von der Stellung des Menschen im Kosmos steht - bei aller tieferen Problematik, die sie in sich birgt - in klaren und durchsichtigen Sätzen vor uns: Der Mensch ist eine besondere Bildung der einen allumfassenden Natur, der materiellen Welt. Er ist selbst ein materielles Wesen, d. h. ein stoffliches, körperliches Gebilde inmitten der anderen materiellen Gebilde, in Wechselwirkung und in Abhängigkeitsbeziehungen mit ihnen. Er ist entwicklungsgeschichtlich aus dem Mutterschoß - der Name „Materie" hat hierin seinen tieferen Sinn - der lebendigen und der unbelebten Natur hervorgegangen und bleibt stets in sie eingeordnet, an sie rückgebunden, wie hoch er sich auch als ein besonderes, plus-quam-naturales Wesen über sie erheben mag. Der Mensch teilt - jedenfalls als Individuum, auch als Gattung das Schicksal alles Natürlichen, das der Endlichkeit und Vergänglichkeit. Das, womit er sich über die ganze übrige Natur erhebt, ist seine produktive Leistung, durch die er eine Kultur hervorbringt, seine spezifisch menschlich-gesellschaftliche Welt, die seine „zweite Natur" bildet und ihn gegen die Unbilden der ersten, ursprünglichen Natur schützt.
Das besondere Problem des Atheismus.
Der Mensch ist ebenso wie die ganze Welt nicht das Geschöpf eines göttlichen Urhebers, er steht in seinem Leben und Tun nicht unter
einer göttlichen Lenkung und Gesetzgebung, er hat nicht in Gott (oder einer Mehrzahl von Göttern) ein personales Gegenüber, an das er sich in seinen Angelegenheiten und Nöten wenden könnte. Ihn erwartet nach seinem Tode nicht das Jenseits eines „anderen" Daseins in Erlösung oder Verdammnis, auf das hin er sein irdisches, „diesseitiges" Leben zu führen hätte. Und wenn der Mensch sich im Laufe seiner bisherigen Geschichte eine solche göttliche Macht und andere Welt in mannigfachen Gestalten imaginiert hat, so ist das wiederum kein unwandelbares Attribut seiner Natur, sondern ein Resultat geschichtlich besonderer ebensumstände.
Dieser konsequente Atheismus der marxistisch-leninistischen Weltanschauung ist nicht bloß ein „politischer" Atheismus (obwohl ihm die politischen Verflechtungen der Religionen zweifellos seine besondere Vehemenz verliehen haben), sondern durchaus ein prinzipiell-theoretischer Standpunkt; auch ist er nicht generell ein „postulatorischer" Atheismus, für den es einen Gott nicht geben „darf", weil sich sonst der Mensch in seinem Streben beengt fühlen müßte (ein Postulat dieser Art richtet sich allenfalls gegen das religiöse Bewußtsein). In seinem theoretischen Kern versteht sich der marxistische Atheismus ganz einfach als die Durchstreichung der „Hypothese Gott".

12. Religion – dialektisch-materialistisch betrachtet
Schlussthesen und Ausblick
1. Religion entsteht und hält sich am Leben unter gesellschaftlichen Bedingungen, die es den Menschen nicht gestatten, die natürlichen und gesellschaftlichen Grundlagen ihres Lebens - in die ihre individuellen Problemstellungen eingebettet sind - zu begreifen. Den Bedingungen ihres Lebens gegenüber entwickeln die Menschen zwar Bewußtseinsinhalte, aber da es unbegriffene Bedingungen sind, sind es falsche Bewußtseinsinhalte, falsche Formen der geistigen Aneignung der Wirklichkeit. Religion kann folglich nur absterben, wenn die Gesellschaft einen Entwicklungsstand erreicht, unter dem die Massen die natürlichen und gesellschaftlichen (eingeschlossen : die individuellen) Bedingungen ihres Lebens beherrschen können.
2. Religion ist ihrem allgemeinen Charakter gemäß eine Art der idealistischen Weltanschauung. Stets liegen ihr Formen der Aufspaltung der einheitlichen materiellen Welt in eine diesseitige und jenseitige, der Verjenseitigung, der Verabsolutierung menschlicher Wesenskräfte zugrunde. Es handelt sich um geistige Wesenskräfte des Menschen.
3. Dennoch ist Religion nicht einfach idealistische Philosophie. Zwar verabsolutiert sie menschliche Geisteskräfte, aber keinesfalls primär ihre abstrakt-rationalen Bereiche. Wegen der Funktion von Religion, Weltanschauungsbedürfnisse von Massen (in falscher geistiger Art) zu befriedigen, muß Religion in hohem Maße emotionale, ästhetische Bereiche des menschlichen Geistes ansprechen und zugleich verabsolutieren, damit sie auch die in Unbildung gehaltenen Massen erreicht. Dieser Funktion von Religion entspricht ihr anthropomorpher Charakter.
4. Religion stellt eine falsche Art der geistigen Aneignung der Wirklichkeit dar, was bedeutet, daß der Mensch in und mit der Religion Macht über die Wirklichkeit erhalten, Einfluß auf sie ausüben, das religiöse Subjekt in seinen Dienst stellen will, wozu bestimmte religiöse Handlungen: Bitten, Gebete, Beschwörungen, Opfer gehören.
5. Religion ist erst auf einer relativ hohen Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaft entstanden, kann keine allgemeine, dem „Wesen des Menschen" entspringende Erscheinung sein. Allerdings entstanden die ersten Formen von Religion (Naturreligion) schon vor der Herausbildung der Klassengesellschaft, auf der Grundlage der dämmernden Erkenntnis, daß der Mensch nicht nur eins mit seiner naturhaften Umgebung und daß diese ihm gegenüber eine ihn überwältigende Macht sei.
6. Mit der Herausbildung der Klassengesellschaft wurzelt Religion zunächst auch, später primär, in den unverstandenen Grundbedingungen des gesellschaftlichen Lebens und in den Klasseninteressen der ausbeutenden und unterdrückenden Klassen.
7. Religion, historisch entstanden, ist auch dem historischen Wandel unterworfen. Auf der Grundlage der allgemeinen Charakteristiken und Funktionen von Religion paßt sie sich den grundlegenden Bedingungen der jeweiligen Gesellschaftsformation so an, daß z. B. das Christentum der untergehenden römischen Sklavenhaltergesellschaft, dasjenige des Feudalismus und dasjenige des Kapitalismus wesentliche Unterschiede aufweisen.
8. In der Klassengesellschaft kommt der Religion eine konservative, systemerhaltende Funktion zu, stellt sie eine systemstabilisierend auf die Gesellschaft einwirkende Macht dar. Infolge der Teilung der Arbeit in manuelle und geistige, bei Zuordnung einerseits der manuellen Arbeit an die Ausgebeuteten und Unterdrückten, andererseits der Tätigkeit der Priester als geistig Arbeitenden an die herrschende und ausbeutende Klasse, aus der sich auch der höhere Klerus rekrutiert, infolge der Höherbewertung geistiger Arbeit und ihrer Vergöttlichung (Gott ist Geist), infolge der idealistisch und anthropomorph die realen Verhältnisse falsch darstellenden Macht der Religion (Ursache wird Wirkung, das Geschöpf des Menschen - Gott - zum Schöpfer des Menschen), infolge der Sanktionierung bestehender Macht und der Verurteilung der Revolution sowie der Pervertierung sozialrevolutionärer Theorie und Praxis in eine Jenseitslösung und (höhere) geistige Belohnung für erlittene materielle Ungemach ist Religion ein erstrangiges Manipulierungs-, Desorientierungs-, Herrschaftsmittel der jeweils herrschenden Ausbeuterklasse, das auf wirksamste Weise deren materiellen Zwangsapparat ergänzt.
9. Wie alle ideologischen Formen, so schafft sich auch die Religion ihren politischen Niederschlag: die Kirchen. Sie sind mächtige gesellschaftliche Organisationen, Angehörige aller Klassen vereinigend, sie aber an die staatlich-politische Macht ausbeutender und unterdrückender Klassen bindend, die sozialrevolutionäre Bewegung durch die theologische Konstruktion der  „Zwei-Reiche-Lehre" abwiegelnd.

10. Religion und Kirchen entwickeln sich in der Klassengesellschaft und unter dem Einfluß der Klassenkämpfe und Revolutionen. Sozialrevolutionäre Gehalte, Ausdruck gesellschaftlicher Umbruchszeiten (Gleichheitsvorstellungen vor allem), dringen auch in die Religion ein, wo sie einerseits Bestandteil falschen Bewußtseins werden (Gleichheit vor Gott schließt Ungleichheit vor der weltlichen Macht, eher ein als aus). Dennoch sind sie immer wieder Berufungsquellen von Revolutionären mit religiöser Überzeugung gewesen. Nicht die Religion war oder ist jedoch die Wurzel solch revolutionären Verhaltens, sondern der reale Klassenkampf, und das religiöse Bewußtsein ist weit öfter die Quelle für unhistorische politische Vorstellungen von Revolutionären, für anarchistische Vorstellungen. Revolutionäre Zielstellungen werden um so klarer sein, je mehr sie real gesellschaftlich-historischer Art, je weniger religiös sie sind.