Dienstag, 11. November 2014

Ludwig Feuerbach Das Wesen des Christentums

Da der christliche Glaube zur Legitimation des Feudalismus im Deutschland der 1830er und 1840er Jahre diente - der Untertanengeist entspricht der religiösen Demut und Passivität -, ist Feuer­bachs Religionskritik als mittelbare Kritik an den politischen Verhältnissen zu verstehen. Indem er sich bemüht, den Men­schen aus seiner Jenseitsbezogenheit zu lösen und zu einem aktiven Handeln ins Diesseits zurückzuführen - seine „philosophische Revolution“ soll zur Vorbereitung der politischen dienen -, geht sein anthropologischer Mate­rialismus nicht nur über die These vom Priesterbetrug (fran­zösischer Materialismus des 18. Jh.s) oder kritische Bibel­exegese (D. F. Strauß, Bruno Bauer) hinaus, sondern auch über die idealistische Kritik der Junghegelianer an Hegel; Feuerbach ist sozusagen „Mittelglied zwischen der Hegel­schen Philosophie und unserer Auffassung“ (Engels).
An­setzend bei der erkenntnistheoretischen Trennung von sinn­lichen Gegenständen, d. h. materieller Wirklichkeit, und dem menschlichen Bewußtsein, analysiert Feuerbach die Beson­derheit des „religiösen Gegenstandes“, die darin besteht, daß er keinen spezifischen Inhalt besitzt, sondern lediglich die „Rückspiegelung unseres eigenen Wesens“ mit Hilfe der religiösen Phantasie darstellt. Das menschliche Wesen tritt folglich in der Form des göttlichen Wesens dem Individuum als ein ihm äußerliches, fremdes entgegen. Diese Vergegenständlichung des menschlichen Wesens wird vom Menschen jedoch nicht erkannt, d. h., er tritt - ohne es zu bemerken - seinem eigenen ihm entfremdeten Bewußtsein gegenüber. Indem Feuerbach die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Welt, Denken und Sein, Geist und Natur stellt und materialistisch beantwortet, wendet er sich gegen den idealistischen Ansatz, wie er im christlichen Gott, aber auch in Hegels Weltgeist (Verselbständigung der geistigen menschlichen Tätigkeit) zu finden ist. In Weiterentwicklung Hegelscher Begrifflichkeit überwindet Feuerbach sowohl die Theorie von der Identität wie die von der Dualität von Subjekt und Objekt.
Letztlich bleibt sein Materialismus je­doch kontemplativ (sichtbar auch an seinem distanzierten Verhalten während der 1848er Revolution), da er „Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung“ faßt; „nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv“. Feuerbach geht in seinem radikalen Humanismus von einem abstrakt verstandenen Menschen aus, er sieht nur die natürlichen Beziehungen des Menschen, nicht aber dessen Gesellschaftlichkeit und Geschichte, was einerTren­nung von Materialismus und Historizität entspricht. Seine Anthro­pologie konfrontiert Individuum und menschliche Gattung, ohne die realen gesellschaftlichen Kämpfe der Menschen innerhalb konkreter Produktionsverhältnisse zu berücksich­tigen. In aufklärerischer bürgerlicher Tradition stehend strebt Feuerbach nach der Veränderung des Bewußtseins, nicht jedoch nach der „Revolutionierung der Besitzverhältnisse“; die Aufhebung der Selbstentfremdung des Menschen soll mit der Ablösung der Religion durch die Philosophie er­folgen, nicht durch die Zerstörung der materiellen Entfrem­dung.
Wird Feuerbachs Philosophie unmittelbar umgesetzt, so verkommt sie im all­gemeinen zur praxisfernen, gefühlvollen Liebesreligion; in ihrer Aufhebung im historischen Materialismus jedoch wird deutlich, daß Feuerbach mit seiner Religionskritik die Marx­sche Ideologiekritik vorbereitet hat, d. h., daß seine Philosophie zu Recht als die „höchste begriffliche Form der deutschen revolutionären Demokratie“ (Lukacs) bezeichnet wird.


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