Ein Impuls, der mich angesprochen hat - Warten und geschehen-lassen.
Kleine Philosophie des Wartens
Timo Reuter veröffentlicht am 11 Juli
2023
Rote Ampeln,
lange Schlangen an der Kasse – die täglichen Zwangspausen wollen wir am
liebsten abschaffen. Dabei könnten sie ein Sandkorn im Getriebe der permanenten
Verwertungsmaschinerie sein. Und ein Tor zur Philosophie.
Wir
tun es ständig, im Starkregen oder in der prallen Sonne, im Morgengrauen und am
Abend. Wir warten – auf den nächsten Bus oder eine kurze Nachricht, auf die
große Liebe und auf das Ende einer Krise. Obwohl der Aufschub omnipräsent ist,
wird er gerne verflucht und verdrängt. Wir halten die Warterei nämlich nicht
nur für einen unbedeutenden, sondern auch für einen äußerst unangenehmen
Zustand. Laut einer Studie aus dem Jahre 2016 sind die kleinen Zwangspausen im
Alltag für die Deutschen das Feindbild Nummer 1. Über 55 Prozent regen sich
darüber auf – das Warten ist damit ein noch größeres Ärgernis als etwa die
Unfreundlichkeit anderer Menschen.
Es
ist eine ziemlich absurde Situation: Ständig hetzen wir gestresst vom einen zum
nächsten und sehnen uns deshalb nach kaum etwas so sehr wie nach Ruhe – doch
gerade dann, wenn wir Zeit zum Innehalten hätten, steigen Frust oder Wut in uns
auf. Ob an Bahnhöfen oder Bushaltestellen, im Wartezimmer oder an der
Supermarktkasse, das Warten geht uns so sehr gegen den Strich, dass wir dabei
das vielleicht Wertvollste, was wir haben, am liebsten „totschlagen“ wollen:
die Zeit. Wie kann das sein?
PRODUKTIVER
ZWISCHENRAUM
Nun,
wenn wir warten müssen, spüren wir Ohnmacht. Wir sind dann höheren Mächten,
arroganten Chefinnen oder unwillige Bürokraten ausgeliefert. Dazu kommt die
Ungewissheit, wann es endlich weitergeht. Dabei wollen wir doch selbst über
unsere Zeit bestimmen – gerade, weil wir so wenig davon zu haben scheinen.
Während die Welt also immer schneller wird und wir immer mehr erledigen und
erleben wollen, sollen wir einfach tatenlos am Bahngleis stehen? Unser Leben
ist heute auf die sofortige Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet, das Warten
indes haben wir längst verlernt – mit fatalen Folgen.
Denn
dieser scheinbar unscheinbare Zustand ist in Wahrheit eine stille Kraft, die
Übergänge schafft. Es ist die Zeit zwischen unseren Erwartungen und ihrer
Erfüllung. Der Prozess, in dem etwas wird, was es ist. Nicht nur würziger Käse
oder guter Wein wollen in Ruhe reifen, ebenso müssen Liebe oder Freundschaft
erst gedeihen. Und auch wer komplexe Sachverhalte begreifen will, muss vor
allem beharrlich bleiben – schnelles Denken und überstürztes Handeln hingegen
sind enorm fehleranfällig, das wusste der Philosoph Georg Wilhelm
Friedrich Hegelbereits vor über 200 Jahren: „Die
Ungeduld“, schrieb er in seiner Phänomenologie des Geistes,
„verlangt das Unmögliche, nämlich die Erreichung des Ziels ohne die
Mittel.“
Zu
warten hingegen bedeutet, auch mal zurückzustecken. Doch das ist in einer Welt,
in der alles immer weiter wachsen soll, beinahe undenkbar geworden. Der
Klimawandel und das Artensterben sind die offensichtlichen Konsequenzen dieser
beschleunigten Ausbeutung, die der Natur keine Zeit zur Regeneration lässt.
Aber auch anderswo macht sich die fehlende Geduld bemerkbar – etwa in unserer
Kommunikation. Denn erst die bedeutungsschwangere Pause zwischen der Botschaft
und ihrem verzerrten Echo lässt uns Raum für unsere Fantasie sowie zum
wirklichen Verstehen des Gesagten. Ebenso kann eine Entschuldigung ihre Wirkung
nur entfalten, wenn man damit etwas wartet – und bereit ist, auch komische
Gefühle auszuhalten. Natürlich will niemand sein Glück ewig aufschieben. Doch
nur wer warten kann, ist überhaupt in der Lage, Vorfreude zu empfinden. Sie ist
das Wohlgefühl der Geduldigen, nicht bloß im Advent oder während der
Schwangerschaft. Auf etwas hinzufiebern trägt auch im Alltag ein Glücksversprechen
in sich. Und das Verlangen kann sogar gesteigert werden, indem wir es
hinauszögern.
KONSUMIEREN
ALS ABWEHRMECHANISMUS
Kurzum:
Das Warten ist ein fester Bestandteil des Lebens und markiert den Übergang vom
Alltäglichen zum Existenziellen. Gemeint ist nicht nur das bange Warten auf
eine Aufenthaltsgenehmigung oder ein Spendeorgan, sondern auch die banale Pause
am Bahngleis. Dort kann sich das Tor zur Philosophie öffnen. Solange wir
nämlich im Tun aufgehen, tritt die Zeitlichkeit unseres Daseins in den
Hintergrund. Beim Warten ist das anders: Wenn der gewohnt schnelle Fluss der
Ereignisse stockt, hören wir plötzlich das Ticken der Uhr. Doch wenn die Zeit
vergeht, dann vergehen auch wir, wie schon der Philosoph Henri Bergson wusste. Der kleine Aufschub erinnert uns also an
unsere Endlichkeit – und konfrontiert uns mit den tiefen Fragen unseres Seins.
Nicht ohne Grund hat die Existenzphilosophie alltägliche Stimmungen wie Ekel,
Angst oder eben Langeweile als Fenster zu unserem Dasein auserkoren.
Und
so beginnt auch die Philosophie Martin Heideggers an einem Provinzbahnhof, beim Warten auf den Zug. Dieser
Zustand lässt uns die Zeit fühlen – und wie sie uns durch die Finger rieselt.
Nun haben wir zwei Möglichkeiten: Wir nehmen ein Magazin in die Hand oder
besser noch unser Smartphone. Wir rennen davon, auch wenn wir stehen bleiben.
Wir konsumieren, damit die Zeit uns nicht konsumiert, wie der
Literaturwissenschaftler Harold Schweizer notiert. Die Folge: Wir verdrängen
das Warten – und empfinden es doch als höchst unangenehm. Oder aber wir stellen
uns der Leere und können so einen Stein ins Rollen bringen – um letztlich durch
tiefe Reflexion zu uns selbst zu finden: Wie will ich meine Zeit verbringen?
Und auf was möchte ich wirklich warten?
Bei
genauerem Betrachten ist das Warten also keinesfalls so unbedeutend, wie wir
zunächst glauben. Diese Lücke zwischen jetzt und später ist vielmehr eine Art
Taschenspiegel der Verhältnisse, in denen wir leben. Nicht nur die chronische
Zeitnot unserer Epoche oder unsere Angst vor dem Tod zeigen sich dort – das
Warten selbst ist, wie der Soziologe Pierre Bourdieu fand, „eine hervorragende Weise, Macht und die
Verbindung zwischen Zeit und Macht zu schmecken“. Nicht selten müssen Menschen
ausharren, weil andere es so wollen: Schon an den Höfen ägyptischer Pharaonen
hat sich mancher Bote zu Tode gewartet. Und noch heute kann der Chef seine
Angestellten hinhalten – umgekehrt aber droht die Kündigung.
WARTEN UND
MACHT
Die
gesellschaftliche Verteilung der Wartezeiten ist ein Gradmesser der
Ungleichheit. Das zeigt sich vor allem vor den Ämtern und Tafeln, auf der
Ausländerbehörde oder dem Arbeitsamt: Das lange, existentielle Warten wird
meist den ohnehin schon Marginalisierten zugemutet. Wer hingegen über genügend
Kleingeld verfügt, braucht sich nicht vorzudrängen – denn für die Reichen gibt
es oft eigene Schalter. Obwohl Rosa Luxemburg also meinte, Geduld sei „die
Tugend der Revolutionäre“, ist es nicht immer ratsam zu warten. Das gilt
gleichfalls etwa für die Herausforderungen in der Klimakrise.
Andererseits
können unverhoffte Pausen aber auch ein Geschenk sein. Weil der Bus sowieso
kommt, wann er will, könnten wir die Wartezeit als Sandkorn im Getriebe der
permanenten Verwertungsmaschinerie begreifen. Als Chance, einmal tief
durchzuatmen oder uns von Tagträumen davontragen zu lassen. Wir sind es
heutzutage gewohnt, dass immer etwas passiert – aber zum Glück des Menschen
gehört eben nicht nur das aktive, sondern auch das beschauliche Dasein. Was
würde also näher liegen, als beim Warten auch mal nichts zu tun und so die
Kräfte wieder zugunsten von Kontemplation und kreativer Entfaltung zu
verschieben? Oder, wie es die Expressionistin Paula Modersohn-Becker
ausdrückte: „Man muss nur warten können, das Glück kommt schon.“
IM LEERLAUF
ZUM GLÜCK?
Natürlich
hat nicht jede:r dazu die Möglichkeit – denn Langsamkeit ist auch ein
(ökonomisches) Privileg. Sie kann zudem nur gelingen, wenn nicht ständig das
Smartphone klingelt. Wer aber den pausenlosen Übersprungshandlungen widersteht,
bekommt die Gelegenheiten, einfach Löcher in die Luft zu starren und dabei in
die Welt hinauszuhorchen. Der Philosoph Friedrich
Nietzsche hielt die Langeweile für „jene unangenehme
‚Windstille‘ der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden
vorangeht“. Wer den Leerlauf erträgt und die Wüste des Wartens durchschreitet,
kann also die Oase der Muße erreichen. Und wer den Mut aufbringt, Fremde am
Bahnhof anzusprechen, kann die Vereinzelung überwinden und den Wartesaal zum
Möglichkeitsraum zufälliger Begegnungen machen. Aber haben wir dazu überhaupt
genügend Zeit?
Es
ist schon paradox: Wir leben doppelt so lange wie vor 150 Jahren und wir
arbeiten pro Woche nur noch die Hälfte – und doch scheinen wir keine Zeit mehr
zu haben. Der Grund ist denkbar simpel: Wir pressen immer mehr in unseren Tag
hinein und wollen bloß keine Sekunde vergeuden. Doch diesen manischen Wettlauf
können wir nur verlieren. All das wird in kaum einer Situation so deutlich wie
beim Warten. Nicht etwa diese kleinen Zwangspausen rauben uns also unsere Zeit,
sondern das hohe Tempo. Vielleicht ist es ja sogar so, dass uns das Warten die
verlorene Zeit wiederbringen kann. Zumindest aber bringt es uns uns selbst
näher – wenn wir uns darauf einlassen und den Augenblick warten, also: pflegen.
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