Freitag, 2. Mai 2014

Religionswissenschaft als kulturwissenschaftliche Disziplin

Vergleichende Religionswissenschaft - Warum und Wozu?

"Wer nur eine Religion kennt, kennt keine; wer nicht geduldig und aufrichtig die anderen Religionen geprüft hat, kann nicht wissen, was das Christentum wirklich ist."
(Max Müller, 1876)

Mit diesem Zitat begründe ich die Notwendigkeit einer von der christlichen Theologie unabhängige Religionswissenschaft. 
Sie ist als Geisteswissenschaft eine humanwissenschaftliche und empirisch arbeitende Disziplin, die Religion empirisch, historisch und systematisch erforscht.
Hierbei ist Religion als eine spirituelle Grundkomponente des Menschen aufzufassen. Wenn unter Kultur die Summe der Effekte von innovativen Handlungen des Menschen im Rahmen seiner Anpassung an die Umwelt in der Daseinsgestaltung in sozialen Gemeinschaften zu verstehen ist, kann die Religionswissenschaft als eine Disziplin der Kulturwissenschaften bezeichnet werden.
Sie berücksichtigt in ihrer Forschung jene Kulturgüter, die aus religiöser Überzeugung einzelner Menschen oder Gemeinschaften geschaffen wurden. Darunter fallen schriftlich fixierte religiöse Traditionen, religiös motiviertes Literaturschaffen sowie materielle und geistige Weltgestaltung, die sich etwa in der Errichtung von Kultbauten o.ä. zeigt. Daneben untersucht die Religionswissenschaft auch Gesellschaftsformen, die von religiösen Überzeugungen geprägt sind. 
Religionswissenschaft analysiert Religion somit als Teil des Beziehungsgeflechts von Mensch, Gesellschaft und Kultur, wobei Religion in empirisch fassbarer und erforschbarer Form von Menschen für Menschen initiiert wird. 
Eine Untersuchung von Glaubensinhalten auf der Sachebene, etwa in Form einer Suche nach transzendenter Wahrheit, nimmt die Religionswissenschaft nicht vor, hingegen ordnet, klassifiziert, vergleicht und analysiert sie die Erscheinungsformen und Elemente verschiedener Religionen. 
Religion so verstanden ist ein gleichberechtigtes gesellschaftliches Subsystem neben z.B. der Wirtschaft, dem Recht, der Politik und der sozialen Sphäre, eben ein kulturelles Segment. Da es zwischen den einzelnen Segmenten  einer Gesellschaft zahlreiche Verflechtungen und Querverbindungen existieren, ist die Religionswissenschaft als vergleichende Disziplin grundsätzlich interdisziplinär anzugehen.
Ihre methodische Aufgabe als vergleichende Religionswissenschaft ist es, die sichtbaren Äußerungen, die aus der religiösen Komponente des Menschen entstehen, zu erfassen und im Kontext der jeweiligen Kultur zu interpretieren. Dabei handelt es sich um eine kulturwissenschaftliche Deutung, nicht um eine theologische Vergewisserung. Theologien können grundsätzlich Gegenstand der Religionswissenschaft sein, die theologische Methodik ist allerdings für die vergleichende Religionswissenschaft keine maßgebende Größe.
Die vergleichende Religionswissenschaft arbeitet eher als Gegenstück zu einer theologisch bzw. religionsphilosophisch geprägten phänomenologischen Sichtweise der Religion. Ebenso lehnt sie die einseitige historische Perspektive, die nur an heiligen Texten und Entstehungsprozessen interessiert ist, ab. 
Als kulturwissenschaftlich ausgerichtete Religionswissenschaft hat sie die Aufgabe, die in der Öffentlichkeit durchgeführten Aushandlungen über Weltdeutungen darzustellen, systematisch-analytische Untersuchungen zu zentralen religiösen Konzepten vorzunehmen und Entwicklungen der Religionsgeschichte im Kontext allgemeiner historischer und gesellschaftlicher Entwicklung zu erforschen. Zur Vermeidung eurozentrischer Einseitigkeiten ist dabei vermehrt auf die außereuropäische Empirie von Daten für die Theoriebildung in der Religionswissenschaft zurückzugreifen und diese Daten nicht vornehmlich dem modernen europäischen Kontext zu entnehmen.
Religion als Aufgabe der Religionswissenschaft konstituiert sich als ein kulturelles System, das ausgehend von einer identitätsbegründenden Komponente - Stifter, Urahne oder Urschrift - durch gemeinsame Anschauungen und Weltdeutungen - Lehre und Praxis - eine Gemeinschaft in durchaus unterschiedlich dichter Organisationsstruktur hervorbringt. Wie solche Prozesse der Identitätsbegründung, der Aushandlungen von Weltdeutungen und der Entwicklung und Veränderung der religiösen Gemeinschaft in Geschichte und Gegenwart ablaufen und wie diese Abläufe auch außerhalb der jeweiligen Religionsgemeinde wahrgenommen werden, ist dabei der Gegenstand, den die Vergleichende Religionswissenschaft zu analysieren, beschreiben und interpretieren hat.
Die Vergleichende Religionswissenschaft ist so zu einer von den Theologien unabhängige Wissenschaft zu entwickeln, was vor allen Dingen die Diskussion der Methodik des Faches zu einer eigenständigen Disziplin betrifft, wodurch ihr ein eigenständiges Profil innerhalb der Kulturwissenschaften zukommt.

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