Freitag, 3. März 2023

Philosophie aus Liebe zum Objekt!

Philosophie aus Liebe zum Objekt

Das große Draußen zwischen Natur und Kultur

"Jede Philosophie, die versucht, die Dinge in ihre Bedingungen zu zerlegen, damit sie erkannt und verifiziert werden können, ist ihres Namens unwürdig." (Graham Harman: The Third Table S. 12*)
Das ist ein seltsamer Satz für einen Philosophen, der doch per Berufsbild auf der Suche nach der Wahrheit sein müsste. Was meint Graham Harman, der Philosoph der objektorientierten Philosophie damit? Philosophie, so Harman, sei nicht Wissen oder Weisheit, sondern Liebe zur Weisheit und damit ein fast erotisches, auf jeden Fall ästhetisches Konzept. Harman geht noch weiter, wenn er sagt, dass man das Wahre nicht kennen, sondern nur lieben könne. Was er damit meint, ist nicht, dass wir gar keinen Zugang zu den Dingen und der Wahrheit erhalten könnten, sondern nur, dass der Zugang immer indirekt bleibt.



Auch die Liebe zwischen Menschen lebt ja durch einen indirekten Zugriff auf den anderen. Wir stellen eine Nähe zueinander her und wollen den Abstand zueinander immer weiter verringern. Würde jedoch jeglicher Abstand verschwinden, würden wir unseren Partner vollkommen definieren oder konsumieren, so würde auch die Liebe verschwinden. Harmans objektorientierte Philosophie folgt dieser Bewegung der zunehmenden Nähe mit der gleichzeitigen Akzeptanz, dass uns der direkte Zugriff auf die Dinge vorenthalten bleibt. Am Ende führt ihn das von der Erkenntnistheorie in eine neue Verortung der Philosophie, ja in eine dritte Kultur, aber dazu später mehr.

Was ist da draußen, außerhalb unserer selbst? Natürlich ganz viele Objekte, Dinge und andere Lebewesen. Aber was wissen wir von diesen Dingen? Die Philosophie hat seit jeher ein Problem mit den Dingen. Nie sind sie direkt erreichbar, wir haben immer nur einen individuellen sinnlichen Zugriff auf sie oder eine physikalisch-mathematische Beschreibung. Als Beispiel: Ein Tisch ist für uns entweder die Summe der Eindrücke, die wir von ihm haben (seine raue oder glatte Oberfläche, der Holzgeruch, die warme Farbe) oder seine atomare Zusammensetzung, wie sie ein Physiker beschreiben würde. Was der "Tisch ansich" ist, lässt sich nicht klären. Oder doch?

Nach dem sogenannten "Lingusitic Turn", also der philosophischen Auffassung des 20. Jahrhunderts, dass jegliche Realität jenseits von Sprache unerreichbar sei, hat die Philosophie zu den Dingen gern geschwiegen, so als wollte sie sich an Wittgensteins Diktum halten, dass man darüber schweigen solle, worüber man nicht reden könne. Inzwischen gibt es philosophische Versuche, diese "Unhintergehbarkeit" der Welt der Erscheinungen aufzubrechen, indem nicht nur (anti-konstruktivistisch) behauptet wird, dass es eine Welt gibt, die unabhängig von unserer menschlichen Vorstellung von ihr existiert, sondern dass wir auch einen philosophischen Zugang zu ihr eröffnen können, einen indirekten, einen der Annäherung. Diese Versuche wurden zuletzt "Spekulativer Realismus" genannt oder auch "objektorientierte Philosophie" wie bei Graham Harman. 



Kleiner Exkurs zur Erkenntnistheorie des spekulativen Realismus

Wir haben die zwei Beschreibungen des Tisches, die, wie er uns erscheint und die, wie ihn die Physik beschreibt. Die erste Beschreibung ist gar nicht die des Tisches, denn der Geruch des Tisches gehört ja zu mir als wahrnehmendem Wesen und nicht zum Tisch ansich. Der Tisch hat auch keine bestimmte Farbe, sondern immer nur die, in der er gerade mir als wahrnehmendem Subjekt erscheint und die Wahrnehmung ist immer abhängig vom gerade verfügbarem Licht oder meiner Wahrnehmungsfähigkeit (ich kann farbenblind sein oder eine Sonnenbrille aufhaben). Trotzdem muss der Tisch ja irgendwelche Qualitäten haben, die diese Eindrücke in mir und auf vergleichbare Art auch in anderen hervorrufen.

"In Wirklichkeit existiert das Sinnliche weder einfach »in mir« in Art eines Traums, noch einfach »in den Dingen« in Art einer ihnen intrinsischen Eigenschaft: Das Sinnliche ist ja gerade die Beziehung zwischen dem Ding und mir." (Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit, S. 14)

Die zweite, die wissenschaftliche Beschreibung wäre eine, die objektivierbar und somit universalisierbar sein möchte, weil sie von den subjektiven Eindrücken, die wir von einem Gegenstand haben, absehen kann. Zugleich kommt sie uns gerade deshalb völlig unzureichend und minimalisiert vor.

"Mein wissenschaftlicher Tisch besteht zum grössten Teil aus Leere. Spärlich eingestreut in diese Leere sind zahlreiche elektrische Ladungen, die mit grosser Geschwindigkeit hin und her sausen; spärlich, denn ihr Gesamtvolumen beträgt weniger als den billionsten Teil von dem Volumen des ganzen Tisches." (Arthur S. Eddington, Das Weltbild der Physik und ein Versuch Seiner Philosophischen Deutung, S. 2)

Um die Sache noch komplizierter zu machen, müssen wir nun auch noch anerkennen, dass selbst diese gerade "objektivierbar" genannte wissenschaftliche Sicht der Dinge, an unsere menschlichen und immer auch subjektiven Auffassungen und Interpretationen gekoppelt ist. Die atomare Beschaffenheit der Dinge ändert sich zudem. Partikel gehen verloren, andere kommen hinzu und trotzdem bleibt der Tisch unser Tisch. Noch deutlicher bei Menschen: Mein Körper teilt mit dem von vor sieben Jahren keine seiner atomaren Bestandteile mehr und trotzdem bin ich ich. Ich bin so wie der Tisch mehr als alle meine Qualitäten. Man könnte also sagen, dass diese wissenschaftliche Auffassung dem Tisch noch weniger gerecht wird, als die sinnliche, die ja immerhin einen Eintritt in eine Beziehung zum "Ding ansich" bedeutet.

Harmans dritter Tisch, der einzig wirkliche Tisch

Graham Harman findet, dass der eine Tisch das Objekt auf unsere Empfindungen reduziert, während der andere Tisch auf die blutleere Beschreibung der Physik reduziert ist. Keine der beiden Beschreibungen könne den Tisch voll beschreiben, denn er ist auch dann noch dieser Tisch, wenn einige seiner atomaren Komponenten fehlen oder wenn er uns plötzlich völlig anders erscheint, als wir es gewohnt sind. Diese zwei Versionen des Tisches sind also unbefriedigend, sogar ein "Betrug" wie Harman sagt, denn was ist nun der wahre Tisch? Für Harman befindet sich der einzig wahre Tisch zwischen dem einen und dem anderen.

Auch Harman unterscheidet die Objekte von ihren Qualitäten, wie wir es oben gemacht haben und er unterscheidet tatsächliche und "sinnliche Objekte". Die tatsächlichen Objekte sind unserem direkten Zugriff entzogen, aber uns allen über ihre Qualitäten zugänglich. "Sinnliche Objekte" sind lediglich einigen "Beobachtern" zugänglich. Weiterhin postuliert Harman, dass Objekte "tiefer" oder vielleicht reicher sind, als sie uns erscheinen und auch "tiefer" als die Beziehungen zwischen zwei Objekten (z.B. berührt ein Wassertropfen nie wirklich das Holz des Tisches, denn die elektrischen Ladungen zwischen den Objekten vermitteln lediglich eine Berührung der Objekte).

"Der wahre Tisch ist eine wahrhaftige Realität tiefer als jede theoretische oder praktische Begegnung mit ihm. Und darüber hinaus vermögen nicht einmal Steine oder Gewichte, die in den Tisch einschlagen, die innere Tiefe des Tisches zu erschöpfen. Der Tisch ist etwas tieferes als jegliche Beziehung, in die er durch uns oder andere Objekte involviert werden kann." (Graham Harman: The Third Table, S. 9f.)

"Unser dritter Tisch tritt als etwas hervor, das verschieden von seinen physikalischen Komponenten und auch von all seinen Effekten, die er haben mag, entzogen ist. Unser Tisch ist eine Zwischenform, die sich weder in subatomarer Physik noch in menschlicher Psychologie, sondern in einer permanent autonomen Zone, in der Objekte einfach nur sie selbst sind." (ebd, S. 10)

Das ist das, so Harman weiter, was in der aristotelischen Tradition "Substanz" heißt: die autonome Realität individueller Dinge. Harman will die Sicht des Aristoteles auf die Dinge als weder atomare Reduktion noch als Reduktion auf seine Erscheinung wieder beleben. Dinge seien nach Aristoteles immer individuell und unser Wissen und Erkennen ist immer universell (grün, schwer, quadratisch). So läge also auch für Aristoteles die Realität der Dinge außerhalb der Reichweite unseres Wissens.
Ende des Exkurses

Die dritte Kultur

Somit haben wir nun also einen Tisch, der weder durch die Physik noch durch unsere Sinne ausreichend begriffen werden kann. Und genau darauf wollte Harman hinaus. Das ist die Annäherung an die Realität als Philosoph, als einer, der die Wahrheit liebt, aber nie erschöpfend kennen kann. Harman stellt sogleich die Parallele zu den "zwei Kulturen" her, dem "wissenschaftlichen Realismus" und dem "sozialen Konstruktivismus", die beide als Philosophien gescheitert seien. Natürlich ruft das in Analogie zum Harmans dritten Tisch nach einer dritten Kultur, die er in der Ästhetik, in der Kunst sieht. Denn Künstler versuchen weder die Objekte in ihre atomaren Grundlagen zu zerlegen, noch wollen sie lediglich die Erscheinungen der Dinge reproduzieren. Sie jagen vielmehr den wahren und für immer unzugänglichen Objekten hinterher, indem sie versuchen, sie so zu realisieren, dass sie tiefer und reicher sind als ihre bloßen Erscheinungen, wenn sie nicht sgar Objekte andeuten, die ganz generell nicht herstellbar sind.

Nachdem die Philosophie in den letzten Jahrhunderten versucht hat, durch rigorose Gründlichkeit mit den Naturwissenschaften aufzunehmen, sei es nun vielleicht an der Zeit, dass sich Philosophie in eine energische Kunst verwandle.

"Durch die Transformation von einer Wissenschaft in eine Kunst, erhält die Philosophie ihren ursprünglichen Charakter der Liebe zurück. Auf eine Art ist dieses erotische Modell das grundlegende Bestreben der objektorientierten Philosophie: der einzige Weg, im derzeitigen philosophischen Klima, der Liebe jener Weisheit gerecht zu werden, die nicht behauptet, wirklich Weisheit zu sein." (ebd, S. 15)

Man könnte mit Harman hierin nicht nur eine Brücke zwischen den ewig sich gegenüber stehenden Lagern innerhalb der Philosophie (Realisten und Idealisten) sehen, sondern auch eine zwischen den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften und - warum hier aufhören - man könnte wie zuletzt Bruno Latour mit seiner anthropologischen Symmetrik noch einmal den Versuch unternehmen, die künstliche Trennung zwischen Kultur und Natur einzureißen und natürliche Phänomene mit den sozialen Phänomenen zusammen zu denken, anstatt sie als separate "Objekte" von grundverschiedenen Wissens- und Interessensstandpunkten heraus zu analysieren. Die Folgen, die solch ein ästhetischer, liebender Ansatz für unser Zusammenleben und unser Verhältnis zur Natur hätte, könnten sich als überaus positiv erweisen.




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