Was ist Religion – Eine vorläufige philosophische Betrachtung
In der folgenden Betrachtung wird die Frage nach dem Wesen der Religion gestellt. Ich
frage: „Was ist Religion?“ und versuche begrifflich zu erfassen, was in lebendigen
Zeugnissen und Bekenntnissen als Religion sichtbar ist. Dabei wird eines sogleich deut-
lich, nämlich, daß man diese Frage nicht beantworten kann, wenn man nicht eine
ungefähre Ahnung von dem hat, was man unter Religion verstehen will, denn sonst
könnte man die geschichtlich gegebenen Phänomene nicht finden, welche die
Grundlage der Definition bilden sollen. Wir müssen also wissen, es handelt sich um
bestimmte Erscheinungen, die irgendwie mit einer überirdischen Wirklichkeit zu tun
haben. Diese ganz allgemeine Feststellung muß getroffen werden, ehe wir auf die
Suche gehen nach Phänomenen, welche in diesen Bereich fallen, um von ihnen
hernach ihr Wesen auszusagen.
Ich frage also: Was ist die Lebensmitte der religiösen Bekenntnisse, was ist Religion?
Ich glaube, daß man das innerste Wesen dessen erfaßt, was in Worten sich bekundet,
wenn man sagt:
Religion ist erlebnishafte Begegnung des Menschen mit dem Heiligen und antwortendes
Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen.
Ich werde diese Definition im einzelnen erläutern und vertiefen. Aber zunächst schon ist
sichtbar, dass mit dieser Rahmendefinition ausgeschlossen ist eine Mißdeutung der
Religion in bestimmten, immer wiederkehrenden Richtungen, nämlich einerseits ist völlig
ausgeschlossen, Religion als eine Art vorwissenschaftlicher Welterklärung anzusehen,
und auf der anderen Seite kann man Religion auch nicht als eine theologisch-
sanktionierte Moral definieren. Beides ist geschehen und geschieht auch weiterhin,
obwohl bereits Schleiermacher gegen diese beiden Mißdeutungen der Religion in
seinen berühmten „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“
1799 Front gemacht hatte. Gehen wir also im einzelnen die vorangestellte Definition
durch und analysieren wir die Elemente, die in dieser Rahmendefinition,
bewußtermaßen formal zunächst, gegeben sind, dann zeigt sich folgendes: zunächst
einmal Begegnung, erlebnishafte Begegnung mit heiligen Mächten. Das bedeutet also,
daß der Ort der Begegnung und die Art der Begegnung festliegen. Erlebnishafte
Begegnung soll es sein, und das Objekt der Begegnung sind heilige Mächte. Es handelt
sich also um Erfahrung, um lebendige Erfahrung, die im Innern des menschlichen
Subjektes vor sich geht. Und diese Begegnung geschieht in der weiten Welt irdischer
Erscheinungen.
Das erste und allgemeinste Objekt der Begegnung mit dem Heiligen ist die den
Menschen umgebende Natur.
Dass Naturgegenstände wie Berge und Bäume, Wasser und Feuer, Steine und Erde
und so weiter Erscheinungsformen numinoser Macht und numinoser Mächte sein
können beziehungsweise als solche erlebt werden, ist eine weitverbreitete Anschauung,
zumal in den Frühformen der Religion. Wir müssen indessen das Objektgebiet, das wir
hier im Auge haben, über die naturalen Einzelerscheinungen hinaus erweitern und auf
die gesamte außermenschliche Welt und ihre Ordnungen ausdehnen; denn im Ablauf
kosmischen Geschehens und irdischer Geschichte wittert der Mensch als Ursache
heilige, hintergründige Mächte persönlicher oder unpersönlicher Art.
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Unter den Medien bzw. Objekten der religiösen Begegnung nimmt weiterhin das heilige
Wort eine besondere Stelle ein. Es begegnet uns in mannigfachen Formen, als
Schöpfungswort, als Wort prophetischer Verkündigung, als metaphysische Realität, als
Wort der Religionsstifter. Hervorragendes Wort-Medium ist ferner die heilige Schrift. In
allen Religionen, in denen es heilige Schriften gibt, besteht Einmütigkeit darin, dass an
einen wie immer im einzelnen vorgestellten göttlichen Ursprung dieser Schriften
geglaubt wird.
Ein weites Gebiet innerweltlichen Lebens, auf das sich die religiöse Erfahrung der
Menschheit seit frühen Tagen richtet, ist das individuelle Schicksal. Das deutsche Wort
Schicksal deutet ja selbst bereits an, daß das den Menschen betreffende Geschehen
hinsichtlich seines Ursprungs eine Deutung erfährt. Das Ereignis als solches ist nicht
ohne weiteres Schicksal bzw. als solches im eigentlichen Sinne erkennbar. Schicksal
kommt von „schicken“. Nennt man einen Vorgang Schicksal, dann sagt man damit, daß
man es als „geschickt“ von einer Schicksalsmacht ansieht.
Alle diese vordergründigen Bezirke des Lebens sind der Ansatzpunkt der Begegnung
mit dem Heiligen, das darinnen sich bekundet. Und so ist die eigentliche Frage also die:
was ist das „Heilige“, dem in diesen Eindrücken und sinnlichen Erfahrungen begegnet
wird?
Ich beziehe mich hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung dessen, was das Heilige ist,
auf das Buch von Rudolf Otto „Das Heilige“, das 1917 in erster Auflage erschienen ist. In
diesem Buch wird die Frage gestellt, worin das eigentümliche Wesen des religiösen
Objektes, also eben des Heiligen liegt. Diese Frage aber wird nicht beantwortet, indem
spekulativ irgendwelche Theorien über Gott und Jenseits aufgestellt werden, sondern
indem, gerade von der Erkenntnis aus, daß man das Heilige nicht in wissenschaftlicher
Erkenntnis direkt erfassen kann, der Umweg über den Menschen genommen wird. Die
Frage ist also: was meinen religiöse Menschen in aller Welt und in allen Religionen,
wenn sie bekunden, daß sie vom Heiligen ergriffen seien, wenn sie in Texten bezeugen,
irgendwo und irgendwie dem Heiligen begegnet zu sein? Was finden sie bei sich selber
für eine Bestimmtheit vor, die ja feststellbar ist, eine Bestimmtheit, deren
entsprechender bestimmender Gegenpol eben das Heilige ist, das nicht in unmittelbarer
wissenschaftlicher Erkenntnis zugänglich ist. Darauf antwortet Rudolf Otto: das Heilige
ist das „Numinose“, und zwar das Numinose, das nun eben nicht mit den Begriffen des
Rationalen und vor allem des Moralischen identisch ist, sondern die Reaktion auf das
Heilige, durch die wir das irrationale Heilige umschreiben, ist eine eigentümliche
Gemütsbestimmtheit. Und eben dieses Heilige minus seines sittlichen Gehaltes nennt
Otto das Numinose. Dieses Numinose aber erscheint als das ganz andere, als das
Überweltliche, das Unirdische. Diese Ausdrücke, die aus dem Bereich des Räumlichen
genommen sind, sind aber eben nicht räumlich gemeint, sondern sind Qualitätsbegriffe,
welche eine Modalität des Seins, eine Modalität der numinosen Wirklichkeit aussagen.
Das Numinose ist nicht grundsätzlich das Außerweltliche, es vermag ja eben
auch innerhalb dieser Welt erfahren zu werden. Aber es ist grundsätzlich anders als
alles Weltliche, es ist ein Etwas, das sich aller Vergleichbarkeit entzieht und das nicht
einzuordnen ist in die bekannten irdischen Kategorien. Wie wir schon sagten: der
Erscheinungsbereich dieses Numinosen ist das natürliche Sein, ein Stück Welt, an dem
Überweltliches, Unweltliches erfahren wird. Will man noch näher die Erfahrung des
Heiligen, von der Seite des Subjektes her definieren, dann bedient man sich der von
Otto dafür geprägten Begriffe.
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Zunächst einmal ist es das Mysterium tremendum. Dieses Heilige wirkt auf den
Menschen, indem es ihn erhebt, aber zugleich erdrückt, indem es Zittern in ihm erregt
und ein Gefühl des Befremdetseins. Es ist der heilige Gott, der ferne und unnahbare,
der geheimnisvolle Gott. Alle diese Bildbegriffe wollen auf dieses eine erste
grundlegende Moment in der Erfahrung des Heiligen hinweisen, nämlich auf das
Abdrängende, das Befremdende, das den Menschen in seiner Geschöpflichkeit erzittern
Machende.
Daneben steht in merkwürdiger Kontrastharmonie ein zweites, das R. Otto das
„Fascinans“ nennt, das Anziehende, das Beglückende, die Erfahrung des ewig
begehrenswerten Guten.
Auch dieser Wert, dieses Beseligende und Beglückende, ist unvergleichbar. Es ist ein
absoluter Selbstwert, kein dienender Wert. Es ist das absolut Beglückende. Alle diese
Begriffe, wie gesagt, deuten an, aber sie erschöpfen nicht.
Ein Drittes kommt hinzu, das Otto das „Augustum“ nennt. Damit meint er nun wiederum
eine Qualität des Heiligen, die er umschreibt durch die Reaktion des Menschen auf sie,
nämlich als Abwertung der Modalität des empirischen Seins.
Es bedeutet die Abwertung der gesamten irdischen Existenz des Menschen als eines
Wesens in einer ungöttlichen, unheiligen Wirklichkeit. Und eben den entsprechenden
Wert innerhalb der Welt des Heiligen nennt Otto das Augustum, das Erhabene. Wir
müssen schon hier, ehe wir später von den Gottesvorstellungen reden, uns klar darüber
sein, daß das Heilige sowohl als neutrales und impersonales als auch als persönliches
göttliches Wesen erfahren und vorgestellt werden kann. Aber alle später zu erörternden
Auffassungsweisen des Göttlichen haben das gemeinsam, daß sie alle sich auf eine
Wirklichkeit beziehen, die die Qualitäten des Heiligen hat.
Wenn wir also gesagt haben, daß Religion einerseits Begegnung des Menschen mit
dem Heiligen ist, so steht auf der anderen Seite die Reaktion: antwortendes Handeln
des vom Heiligen bestimmten Menschen. In dieser zweiten Seite der Definition ist die
Reaktion des Menschen ausgesprochen, die zum Wesen der Religion unbedingt
dazugehört.Religion ist eben nicht nur Gefühl, nicht nur Erlebnis, sondern auch Antwort
auf dieses Erlebnis und diese Antwort im weitesten Sinne verstanden. Es bedeutet, daß
der Mensch, der hier jetzt handelt, in den verschiedenen Bezirken möglichen Handelns,
vom Heiligen bestimmt ist. Insofern ist damit gesagt, daß Religion entscheidend eine
Lebensform ist und nicht etwa eine Denkform oder eine spekulative phantastische
Vorstellungsform. Alles das ist Religion eben nicht, sondern sie ist eine Lebensform, die
sich aus diesen Elementen zusammensetzt.
Antwortendes Handeln aber ist eine bewußt formale und umfassende Bezeichnung.
Denn selbstverständlich ist antwortendes Handeln auf vielen Gebieten möglich. Es
gehört hierher schon die Antwort, die im Mythos, der religiösen Frühsprache der
Menschheit, gegeben ist. Schon der Mythos ist eine Antwort und das Gebetswort ist
selbstverständlich Antwort im gleichen Sinne.
Hierher gehört der weite Bereich des Kultus, der selbstverständlich ebenso ein Handeln,
und zwar ein antwortendes Handeln ist. Es gehört weiter hierher die Welt des Sittlichen
und der religiösen Kunst, natürlich auch alle theologischen und rationalen Versuche
begrifflicher Selbstklärung dieser Erfahrung. Alles das gehört in den Bereich des
antwortenden Handelns und alles das gehört, mit dem Moment der Begegnung mit dem
Heiligen zusammen, zum Wesen der Religion.
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Nachdem ich so das Wesen der Religion begrifflich umschrieben habe, will ich das
Gesagte dadurch noch weiter verdeutlichen, daß ich uns in Kürze mit mancherlei
Theorien auseinandersetze, die den Ursprung der Religion erklären sollen. Dabei wird
sich zeigen, daß die meisten dieser Ursprungstheorien zum ständigen Rüstzeug aller
durch die Zeiten sich ziemlich gleich bleibenden Angriffe auf die Möglichkeit von
Religion innerhalb der modernen Welt und ihres Weltbildes gehören. Zugleich aber läßt
sich zeigen, daß diese Theorien eine Auffassung vom Wesen der Religion
voraussetzen, die religionswissenschaftlich als überwunden gelten muß.
Da ist zunächst die soziologisch positivistische These zu berücksichtigen, welche
besagt: Religion ist aus sozialem Elend entsprungen, indem verelendete Schichten zum
Trost für irdisches Ungemach sich ein seliges Jenseits erträumten, in dem alle Wünsche
erfüllt sind, die ihnen hier ewig versagt bleiben. Die führenden Schichten haben diesen
illusionären Glauben bewußt gepflegt, um die Geführten ihr soziales Elend vergessen zu
machen. Die Verbesserung der irdisch-wirtschaftlichen Verhältnisse wird daher die
Religion in wachsendem Maße aufheben. Diese Theorie ist schon von der
Religionsgeschichte her zu widerlegen, denn manche Religionist geradezu inmitten von
Glanz und Reichtum entstanden. Die erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen ist in
den verschiedenen Bereichen des Lebens möglich, und wenn beobachtet wurde, daß
manche Religion wie zum Beispiel das Christentum unter Mühseligen und Beladenen
entsprang und gedieh, dann bedeutet das durchaus nicht, daß Armut die Wurzel der
Religion ist, sondern, daß die Begegnung mit dem Heiligen denen leichter möglich ist,
deren Inneres, aus Mangel an irdischen Gütern, nicht durch diese Welt absorbiert ist,
sondern offen ist für die überirdische Welt. Eben deshalb pries Jesus die Armen selig,
und nicht weil er Armut selbst für einen Wert hielt.
Immer wieder begegnet uns ferner die Erklärung der Religion aus primitivem
Erkenntnistrieb. Religion wäre dann vorwissenschaftliche Welterklärung, deren
Ergebnisse durch die spätere, heutige exakte Naturwissenschaft in wachsendem Maße
widerlegt werden. Die Möglichkeit von Religion würde daher mit fortschreitender
Erkenntnis aufgehoben werden, da ihre Wahrheit sich als Irrtum herausstellt. Bei diesem
Versuch, Religion zu erklären und gleichzeitig zu bekämpfen, zeigt sich besonders
deutlich, daß dabei von einem falschen Verständnis lebendiger Religion ausgegangen
wird, Der Sinn religiöser Aussage über Gott und Welt liegt nicht im Rationalen. Religiöse
Aussagen sind nicht aus Erkenntnistrieb entstanden, sie sagen vielmehr religiöse
Begegnung mit dem Heiligen aus, zum Beispiel im Mythos, dessen für uns schwer
nachvollziehbare Phantastik nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß ein Mythos echte
Wirklichkeitserfassung enthält und darstellt. Ausgesprochen wird sie in anschaulichen
Vorstellungsformen, die dem Weltbild des Frühzeitmenschen gemäß waren. Die im
Mythos wie in allen anderen religiösen Ausdrucksformen gegebene Erfassung
numinoser Wirklichkeit ist das zeitlos Gültige darin, die Wahrheit, die von keiner das
Weltbild korrigierenden Wissenschaft widerlegt werden kann.
An dieser Stelle darf ein Wort über den Begriff der Wahrheit in der Religion gesagt
werden. Wahrheit kann man verstehen als Richtigkeit einer Aussage über einen
objektiven Sachverhalt. Eine solche Aussage ist richtig, wenn ihr rationaler Inhalt mit
dem Sachverhalt übereinstimmt. Man kann aber unter Wahrheit auch die objektive
Wirklichkeit verstehen, wenn man etwa sagt, man habe die Wahrheit erkannt. In diesem
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doppelten Sinne begegnet uns nun auch in der Religion der Begriff der Wahrheit. Die
göttliche Wirklichkeit wird in religiösen Texten nicht selten als Wahrheit bezeichnet.
Hier ist Wahrheit nicht die Richtigkeit von Aussagen, sondern die göttliche Wirklichkeit
selbst. Die andere, zuerst genannte Anwendung des Begriffes Wahrheit im Sinne von
Richtigkeit kann in der Religionswelt legitim und illegitim sein. Legitim ist sie dann, wenn
man damit die in jeder Glaubenserfahrung gegebene religiöse Erkenntnis meint, auf die
ja die Begriffe richtig und falsch anwendbar sind. Man muß sich aber bewußt sein, daß
diese Art der religiösen Erkenntnis nicht mit rational-wissenschaftlicher Erkenntnis
identisch ist, so daß nicht einfach der ra= tionale Inhalt der Glaubensaussage „wahr“ im
Sinne von richtig sein kann, sondern wahr ist eine solche Aussage, wenn mit ihr, das
heißt in ihrem symbolischen Begriff religiöse Wirklichkeit erfaßbar ist. Illegitim aber ist
der Begriff Wahrheit als Richtigkeit in der Religion, wenn man die religiöse Aussage als
rationale Erkenntnisaussage auffaßt und mit wissenschaftlicher Erkenntnis gleichsetzt.
Hier setzt dann die berechtigte Kritik rationaler Wissenschaft ein und es entsteht der
Konflikt von Glauben und Wissen, der in lebendiger Religion nicht möglich ist. In dieser
Auffassung religiöser Wahrheit als rationaler Richtigkeit wurzelt die intolerante
Verfolgung fremder religiöser Meinung.
Bis in die Antike reicht der Versuch zurück, Religion als menschliche Erfindung zur
moralischen Lenkung der den Gesetzen des Staates widerstrebenden Menschen zu
erklären. Auch diese Theorie ist eindeutig falsch, denn die Religionsgeschichte beweist,
daß die Gottheiten der Frühzeit gerade keine moralischen Qualitäten haben und auch
nicht notwendig moralische Richter sind über das Tun der Menschen.
Immer wieder begegnet bis in die Gegenwart der Gedanke, die Gottesvorstellungen
seien phantasievolle Personifizierungen der Naturgewalten, denen sich der Mensch
hilflos ausgeliefert fühle. Man begründet diese These durch den Hinweis auf die vielen
Götter, die, wie der Gott des Gewitters, des Regens, der Fruchtbarkeit usw., eindeutig
Naturvorgänge zu ihrem Funktionsbereich haben. Die Naturbeziehung vieler Gottheiten
der Religionsgeschichte ist selbstverständlich nicht zu leugnen, sie bedeutet aber nicht,
daß Gottheiten aus Personifikation von Naturkräften entstanden seien. Die Gottheiten
werden ja auch nicht mit der Natur und ihren Kräften identifiziert, wohl aber, und das
bestätigt unsere Definition des Wesens der Religion, begegnet der Mensch in den
Naturvorgängen, zumal in den ihn erschütternden, dem Heiligen. Der Sonnengott ist
daher nicht die Sonne, aber die Sonne freilich ist sein Symbol. Durch eine
phantasievolle Personifizierung der Naturkräfte entständen übrigens auch niemals
heilige Götter, sondern bestenfalls gesteigerte Menschengestalten, denen das
Wesentliche am Gotteswesen fehlte, das Moment des Heiligen, und heilig sind alle
Gottheiten der Religionsgeschichte.
Feuerbach hat die Behauptung aufgestellt, die ihm vielfach nachgesprochen wurde,
„Götter sind die in göttliche Wesen verwandelten Wünsche der Menschen“. So ist es
nach seiner Ansicht vor allem der Selbsterhaltungstrieb, der angesichts des Todes das
Jenseits erfand.
Auch diese These ist schon von der Religionsgeschichte her als falsch erwiesen, denn
es gibt viele Religionen, die gar nicht an einer persönlichen Unsterblichkeit interessiert
sind und die gerade den natürlichen Selbstbehauptungstrieb des Menschen bekämpfen.
Religion ist dann also gerade nicht aus elementaren Wünschen des Menschen und aus
seinen Bedürfnissen entstanden, sondern sogar gegen seine natürlichen Triebe.
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Es ist auch unmöglich, Religion aus der Furcht abzuleiten, wie es ebenfalls bereits in der
Antike geschah. Daß Dämonenfurcht, zumal im Bereich der Naturreligion, eine wichtige
Rolle spielt, ist sicher. Aber man verwechselt Ursache und Wirkung, wenn man erklärt,
aus der Furcht sei Religion entsprun= gen, denn ehe man sich fürchtet, muß man
Wesen begegnet sein, die zu fürchten sind. Die Dämonen sind früher als die
Dämonenfurcht, man kann jene nicht aus dieser ableiten. Religion ist eben primär
Begegnung mit dem Heiligen.
Religion ist auch nicht aus dem Wunder entstanden, sofern man Wunder unrichtig
definiert als Durchbrechung des natürlichen Kausalzusammenhanges, denn in der
Frühzeit kannte man kein Naturgesetz, das durch wunderhafte Ereignisse hätte
durchbrochen werden können. Man kannte nur den gewohnten Ablauf der
Naturvorgänge. Das Ungewöhnliche, aber darum nicht naturgesetzlich Unmögliche, war
für den naiven Menschen die bevorzugte Offenbarungsform der Gottheit. Darum setzt
die Erfahrung des Wunderbaren den religiösen Glauben voraus, sie begründet ihn aber
nicht.
Der Glaube ist das Kind des Wunders. Auch das ist oft genug behauptet worden, daß
nämlich der Glaube aus den angeblich geschehenen Wundern erwächst und durch sie
begründet wird. Dazu ist ein Doppeltes anzumerken, einerseits schafft der Glaube
Wunder in dem Sinne, daß Wundererzählungen als Glaubensaussagen erdichtet
werden. Andererseits - und das ist der tiefere Sinn - sieht nur der Glaube Wunder auch
in Ereignissen, die an sich durchaus natürlich sind. Dem religiös nicht
Vernehmungsfähigen genügt die vordergründige Welt, sie gibt ihm keine Hinweise auf
numinose Mächte in und hinter den sichtbaren Erscheinungen. Es geht im religiösen
Wunder gar nicht um die Erklärbarkeit oder Unerklärbarkeit des beobachteten Vorgangs,
sondern darum, daß Menschen durch solche ungewöhnlichen (aber darum
naturgesetzlich nicht unmöglichen) Ereignisse zum religiösen Staunen, zum Sich-
Wundern veranlasst werden.
Was ist Religion?
Erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen
bestimmten Menschen. Sie entspringt weder aus rationaler Naturerklärung noch aus
menschlicher Phantasie, sondern aus echter Erfahrung einer heiligen Wirklichkeit, in der
menschliche Existenz verankert sein muß, wenn sie ganze, heile, also im Heil sich
vollziehende Existenz sein soll. Um dieses Heil kreist alle Religion, sei es, daß das
gegebene Heil bewahrt werden soll wie in den frühen Volksreligionen, sei es, daß es
erst gewonnen werden muss wie in den späten universalen Erlösungsreligionen.
Heinz Hübner, August 2016
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